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Von zwei Menschen auf Einer Planke
Ob diese kalten Leute wohl so glücklich sind, als man gemeiniglich sich einbildet?
Man erinnert sich vielleicht noch, daß einmal zwischen dem Kalender und Danischmenden die Rede hiervon war. Aber der Kalender, der seinen Mann kennen gelernt hatte, und sich zu wohl in seinem Hause befand um ihn geflissentlich vor den Kopf zu stoßen, vermied in der Folge diese und alle ähnliche Fragen nach Möglichkeit.
Indessen gibt es doch, bei aller gebührenden Vorsichtigkeit, Augenblicke, worin man sich vergißt. Eines Tages (ich weiß nicht aus welcher Veranlassung) gerieten unsere Philosophen über die Frage: welches die eigentlichen Grenzen zwischen den Pflichten gegen sich selbst und gegen andre seien? in einen ziemlich lebhaften Streit. Sie disputierten lange darüber, und der Kalender glaubte zuletzt, der Fehler läge bloß daran, daß sie einander nicht recht verständen. Ein Beispiel, dacht er, würde die Sache so klar machen, daß Danischmenden gar keine Einwendung übrig bliebe.
»Setzen wir den Fall eines Schiffes«, sagte der Kalender, »das in diesem Augenblicke scheitert. Nicht wahr, in diesem schrecklichen Augenblicke hören alle bürgerliche und gesellschaftliche Verbindungen auf? Der Kapitän ist nun nichts mehr als der geringste Matrose; jeder hat nur Ein Leben zu verlieren; jeder hat nichts Kostbarers als sein Leben; jeder sorgt also zuerst für sich selbst. Gesetzt nun, ihrer Zwei haben sich Einer Planke bemächtigt. – Wenn die Planke beide tragen kann, gut! dann erfordert nicht nur die Menschlichkeit, sondern eines jeden eigener Vorteil,Der Kalender hätte eigentlich an diesem letztern Beweggrunde genug haben können; denn des erstern erwähnt' er doch nur pro forma, und ohne daß er das geringste dabei dachte oder damit sagen wollte.
J. C. H.
»Wie dann?« rief Danischmend in vollem Feuer. »Und wenn sie vorher die tödlichsten Feinde gewesen wären, so sollen sie sich um den Hals fallen, und Arm in Arm, Herz an Herz, es darauf ankommen lassen, ob die Wellen sie lebendig oder tot ans Land treiben wollen!«
»Schwärmerei, Schwärmerei!« – sagte der Kalender, mit dem kaltblütigen Lächeln, das ihm bei solchen Gelegenheiten eigen war. – »In solchen Augenblicken ist die Natur Meister, und die hat dann keine Zeit an Verhältnisse zu denken. Man hat dann weder Feind noch Freund, weder Bruder noch Vetter: der Mann neben uns ist dann nicht unser Nebenmensch; er ist ein Ding, dessen Erhaltung unser Untergang wäre, und welches wir, ohne das mindeste Bedenken, eben so hurtig über Bord werfen, als man im Notfall, um ein Schiff zu retten, die kostbarsten Waren womit es beladen ist über Bord wirft. Kurz, mein lieber Danischmend, diese nämliche Planke ist – die Scheidewand zwischen der Pflicht gegen andre und gegen uns selbst!«
Danischmenden war's als ob sich sein Herz im Leibe umkehrte, da er den Kalender so reden hörte. »Keine Zeit an Verhältnisse zu denken!« murmelte er zwischen seinen zusammen gebißnen Zähnen, indem er den Kalender mit einem Blick anstarrte, in welchen Zorn und Verachtung im nämlichen Nu die Hitze des Ätna und die Kälte eines Gletschers zusammen gossen. – Ich möchte dich zertreten, wenn du nicht so ein Wurm wärest! – sagte der Blick.
Der Kalender merkte nun auf einmal daß er sich vergessen hatte, und entfärbte sich ein wenig. Danischmend erholte sich zwar bald wieder; aber es brauchte einige Tage, bis er dem alten Egoisten wieder gut sein konnte.
Indessen sind doch, unsers Wissens, die Rechtsgelehrten auf des Kalenders Seite. Denn nachdem sie die Sache mit ihrem gewöhnlichen kalten Blute auf alle Seiten gekehrt, und mit allen rationibus dubitandi et decidendi aufs genaueste zergliedert, erörtert und erwogen haben; so erklären sie sich: »Daß, obwohlen zwar es das Ansehen haben möchte, als ob die Natur dem Menschen ein Ding gegeben habe, welches gewisse Leute Herz nennen, in Kraft dessen zum Beispiel ein Mann, der mit einem andern Manne auf einer einzelnen Planke zwischen Leben und Tod im Meere herum treibe, dieses andern Mannes Not wie seine eigne fühle, dannenhero auch dessen Erhaltung eben so herzlich wünsche als seine eigene, notfolglich nach dem Kanon, ›wer den Zweck will, will auch die Mittel‹, unmöglich daran denken könne, besagten Mann mit Gewalt von besagter Planke herab zu stoßen: gleichwohlen und all diesem ungeachtet, aus beigebrachten Gründen a, b, c, d, e, f, g, usw. rechtsbeständig dargetan und erhärtet werden könne; wasmaßen in sotanem Falle beide sowohl der Mann A, als der Mann B, jeder an seinem Teile, in Kraft der natürlichen Gleichheit nicht nur wohl befugt, sondern vermöge des Gesetzes der Selbsterhaltung sogar schuldig und verbunden seien, einander in ein und eben demselben Augenblicke von mehrbesagter Planke herab zu stoßen, und so – als Schurken zu ersaufen, anstatt daß sie, nach Danischmends Weise, wenigstens den Trost gehabt hätten, als brave Leute umzukommen.
– Wahr ist's« (sagen die gestrengen Herren ferner), »falls die beiden Personen, die sich auf der nämlichen Planke retten wollen, ein Mann und eine Weibsperson wären, so scheint die Frage beim ersten Anblick eine andere Gestalt zu gewinnen. Allein wenn man der Sache auf den Grund sieht, so befindet sich's, daß der Unterschied des Geschlechts hier in keine Betrachtung kommen kann. Ist die Weibsperson schon über die Jahre hinaus, worin ihr Geschlecht, nach dem ordentlichen Laufe der Natur, zum Kinderzeugen fähig ist, so versteht sich solches ohnehin. Im entgegen gesetzten Falle aber wäre freilich zu wünschen, daß der Mann gewiß wissen könnte, ob er auf der Insel oder Halbinsel, an die ihn die Wellen verschlagen werden, Weiber mit der erforderlichen Zeugungsfähigkeit antreffen wird oder nicht; sintemal es im letztern Falle den Anschein gewinnt, als ob er lieber sein eigen Leben wagen, als sich in Gefahr setzen sollte, der obhabenden Pflicht die Erde zu bevölkern, aus Mangel einer tauglichen Gehülfin, in seinem ganzen übrigen Leben, vielleicht zu großem Nachteile der menschlichen Gattung, keine Folge leisten zu können. Allermaßen aber, erstens, von Rechts wegen nicht zu präsumieren ist, daß es in besagter Insel oder Halbinsel keine zum Kinderzeugen tüchtige Weibspersonen geben werde; zweitens, und wenn auch solches zu vermuten wäre, die Pflicht die Erde zu bevölkern nur eine Pflicht gegen das menschliche Geschlecht ist, mithin den Pflichten eines jeden gegen sein teuerstes Selbst, im Fall eines Zusammenstoßes, in allwege billig weichen muß; überdem auch und drittens, wofern man hierbei auf das Beste der Gattung Rücksicht nehmen wollte, dem menschlichen Geschlecht an Erhaltung eines Mannes (als welchen alle Doktores, Kanonisten und Civilisten – was auch der berüchtigte Kornelius Agrippa von Nottesheim in seinem verbotenen Buche de Praecellentia sexus foeminei dagegen einwenden mag – einstimmig für das vortrefflichere Wesen erklären) mehr als an Erhaltung eines Weibes gelegen ist: als ist kein rechtsbegründeter Zweifel übrig, daß nicht auch im vorbesagten Falle der Mann zu Rettung seiner selbst wohl befugt und berechtigt sein sollte, die Frau – ohne zu einigen anderweiten Rücksichten stricto jure verbunden zu sein, und selbst im Falle, wenn sie gravida und partui proxima wäre, – von diesbesagter Planke herab zu stoßen, und der Wut oder dem Mitleiden der Wellen unbedenklich zu überlassen; wobei ihm jedoch unbenommen bleibt, wenn er will und kann, einen andächtigen Seufzer für ihre Rettung zu den Tritonen, Nereiden, oder irgend einem andern selbstbeliebigen Schutzpatron abzuschicken.«
»Der H** hole die kalten Kerle mit ihren Obwohlen und Allermaßen«, sagte Danischmend. »Der Mann, dem in jedem Umstande seines Lebens sein eignes Herz nicht, ohne erst bei ihnen anzufragen, auf dem Nu eingibt, was er zu tun hat, und der nicht bei allen und jeden Gelegenheiten ein besserer Mann ist, als sie es von ihm fordern, der ist, bei Gott! – Er mag meinethalben sein was er will« (setzte er nach einer kleinen Pause in einem etwas gelaßneren Tone hinzu), »aber Gott bewahre mich davor, daß ich jemals mit ihm unter Einem Obdache schlafen müsse!«
Danischmend war, wie es scheint, kein Freund von der gelehrten Distinktion zwischen vollkommnen und unvollkommnen Pflichten, welche doch, wo die Rede von Rechten ist, ihren unleugbaren Grund und Gebrauch hat. Auch ist freilich ein mächtiger Unterschied zwischen einem edlen und gefühlvollen Manne, und zwischen einem Manne, der nie mehr tut, als man nach dem strengsten Rechte von ihm fordern kann. Um dies zu empfinden (welches in dergleichen Dingen immer besser ist, als es durch eine Reihe von Schlüssen heraus zu bringen), stellen wir uns zum Beispiel ein kleines braves Völkchen vor, das im Begriff ist, gegen einen Haufen von Kriegsvölkern, die es (ob mit oder ohne Grund, gilt uns hier gleich) für seine Unterdrücker ansieht, auszuziehen. Ein alter Mann von achtzig Jahren steht im ersten Gliede. Man hat ihn in der Eile mitgenommen; allein, da der Marsch angehen soll, tritt er aus, beschwert sich gegen den Officier über Gewalttätigkeit, und beruft sich als ein achtzigjähriger Mann auf sein Recht von Kriegsdiensten frei zu sein. Der Mann hat recht, denken wir alle; so denkt auch der Officier, und so denkt das ganze Kriegsvolk. »Geh du nach Hause, guter Alter«, sagt der Officier; und so geht der alte Mann nach Hause, und Glück auf den Weg! – Nun stellen wir uns aber – statt dieses alten Mannes, der sich auf sein Recht: nichts mehr fürs Vaterland zu tun, beruft, und recht hat, und ohne jemandes Widerrede nach Hause gegangen ist – einen andern alten Mann von achtzig Jahren vor, der nicht mit getrieben worden, sondern freiwillig mitgegangen ist, freiwillig sich ins erste Glied gestellt hat. Da steht nun der ehrenvolle achtzigjährige Greis mitten unter frischen Jünglingen, wie eine alte vom Blitz versengte Eiche unter halb erwachsenen Fichten steht. Der Oberste wird ihn gewahr: »Du ehrlicher Alter«, spricht er zu ihm, »wie kommst Du an diesen Platz? Geh nach Hause zu deinen Urenkeln, guter alter Vater; du hast keine Kräfte mehr zu solcher Arbeit; es wäre Sünde wenn wir deinen guten Willen mißbrauchen wollten.« »Nein«, sagt der alte Mann, »nach Hause geh ich nicht; laßt mich mitziehen! Es ist wahr, meine Füße sind schwach, mein Arm auch; ich werd auch nicht viel helfen können: aber meine Gegenwart kann doch zu etwas nütze sein. Diese jungen Männer da neben mir, werden mich ansehen, und auf meiner Stirne lesen, welche Lust es ist, für Freiheit und Vaterland zu sterben. Trifft mich eine Kugel, wohl! so hab ich die Freude, einen jüngern, bessern Mann, den sie sonst an meinem Platze getroffen hätte, dem Land erhalten zu haben.« –
Nun, liebe Leser, was sagen eure Augen? – Guter Gott! was für ein Unterschied zwischen einem alten Manne und einem alten Manne ist! – Jener hatte recht; aber dieser hat unsre glühende Bewunderung, unser ihm entgegenklopfendes Herz: wir sind alle seine Kinder, fallen ihm zu Füßen, bitten mit Freudentränen um seinen Segen, und gehen froh und rüstig in den Tod mit ihm. Gott! was für ein alter Mann! – Und wer müßten die sein, die ein Volk bezwingen wollten, das diesen alten Mann an seiner Spitze hätte?