Josef Wenter
Laikan
Josef Wenter

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Der Donner

Der Mensch schreibt 1915, und es ist im tiefen Winter. Laikan ist weiter gewachsen, nach dem Gesetz aller Fischleute, die wachsen, bis sie sterben. Der große, herrlich gewandete Lachs ist ein stolzer, ein selbstbewußter und viel erfahrener Einzelgänger geworden. Er kennt seine Welt und kennt sich selber. Er weiß, was die Welt will 278 und was er selbst will. Er hält nichts von Freundschaft und Kameradschaft, die vor Säge und Magen haltmachen. Er mißtraut aller Sanftheit und allem Freundlichblickenden. Er scheut keine Landschaft und keine Stürze. Er überwindet wildesten Wasserwillen und trotzt dem finsteren Druck tiefen Meeres. Er weiß, was über seine Leibeslänge und ‑kräfte geht, und weicht aus, ohne seinen Stolz zu beugen. Er meidet, was seine immer einfacher werdende Seele, die jetzt bis an die Ränder seines Leibes in ihm mächtig ist, unsicher machen könnte. Er ist bei sich zu Hause, und weil er es ist, hat er die Verheißung der Mutter Lachs vergessen. Er lebt nicht mehr stückweise, in Erinnerung und in Unrast eines Vorhabens. Er ist ganz Leben geworden und west ohne Schwere, doch tief eingebettet in sein großes Dasein. Tage und Nächte, Sommer und Winter, Hochzeitsfahrten und Meeresherrlichkeit fließen in einem einzigen und ruhigen Strom hin und wallen die Flanken seines Leibes und seiner Seele entlang, sicher und glücklich vorbei. Er ist eingelangt in die große Glückseligkeit aller Geschöpfe Gottes.

Seinen Strom hat Laikan noch nicht gefunden. Einmal hat er es geglaubt. Weite Sandbänke, schwer und langsam herrollendes süßes Wasser haben ihn zu dem Glauben verführt, er wäre zu Haus. Wochenlang ist er stromaufwärts gefahren, hinter stolzen und schönen Frauen her. In seinem Gedächtnis haben, neben unzähligen undeutlichen Merkmalen, zwei sichere und gewaltige Erlebnisse der ersten Reise seines Lebens, je länger er sie nicht wiederfand, um so größeres Gewicht bekommen: 279 das süße schwäbische Meer und der große Sturz. Bis in die ersten Sommermonate ist Laikan in jenem Jahre stromaufwärts gewandert. Als weder der Rheinfall noch der Bodensee quer in seiner Straße lagen, wußte er, daß er wieder in die Irre gegangen war. Gut! Warum soll man nicht in die Irre gehen? Wozu hat man seine starke Seele und den gehorsamen, zwischen Seele und Ruder riesigen Leib? Und was heißt: Irren? Anders wollen, als mit einem gewollt wird? Natürlich! Man hat nicht zu wollen. Man hat zu horchen und zu gehorchen. So wird es sein. Davon wird man alt und weise.

Laikan ist den Frauen nachgefahren auf der fremden Straße, und als die in Seitenstraßen einbogen, die aber nie rauschten wie in der Heimat, ist er ihnen gefolgt. Immer schmälere Flüsse, immer dünnere und wohl auch trägere Bäche durchwanderte das lockende Geschlecht vor ihm her. Als Laikan gegen Weihnachten den kürzeren Hochzeitsweg, als der Rhein ihn von seinen Wanderern fordert, zurückkehrt und im Meere landet, hat er die Elbe durchschwommen und in der schönen, lustigen Mulde im Herzen Deutschlands seine Hochzeiten gehalten.

Viel später dann hatte er im Meere ein Erlebnis, das ihn zu großem Staunen bringt und das er bis zu seinem Tod nicht vergißt. In seine Tiefe hinab dröhnen eines Morgens dumpfe Donner, die anders rollen als von brechenden Seen. Der Lachs kennt die Hochgewitter gut. Aber es ist nicht Wetterzeit. In den Zeiten des Jahres kennt er sich aus, und wenn sie auch manches Mal später oder früher heraufkommen: ihr Gesetz haben sie, und das ist in seiner Seele mächtig. 280

Im Oberwasser ist heute stickige Luft, und die Fischleute dieser Zonen sind scharenweis geflüchtet. Es ist leer hier, und die Garneelen, die Laikan schluckt, speit er wieder aus. Sie beizen den Gaumen und schmecken bitter; auch sind sie halbtot, und das widert den Lachs. Auf weite Strecken wölbt es dunkel über der oberen Welt, und von überallher kommen windende Strudel. Laikan ist etwa fünf Meter unter der Oberfläche, als es durchs Wasser herfährt mit gewaltiger Furche, schwarz und riesig und keinem Fischleib ähnlich, und ins Bodenlose stürzt. Erschrocken schnellt der Lachs im rechten Winkel davon; da prescht es von anderer Richtung heran und reißt ein wirbelndes Loch in seine Welt. Laikan ist ratlos, wohin er in dem allgegenwärtigen Strudel und Donner sich wenden soll. Es wird stickiger. Fast senkrecht taucht er hinab. Hier kann er atmen. Aber auch hier stürmen schwarze Kerle einher und fahren in die Abgründe. Was es ist, weiß er nicht, gewahrt es kaum. Blitzschnelle weiße Gischte stürmen her; hinter ihnen drehen wüste Wirbel ins Ungründige hinab.

Allenthalb stürzen die Leute dieser Gegenden verwirrt und kopflos durcheinander. Keiner denkt an Raub und Mord. Wieder fährt aus dem Unsichtigen ein strudelndes Ungetüm heran. Es gerät an einen Riffzack und bohrt sich lärmend ein. Oh, nie haben die Leute dieser dunklen, totenstillen Welt Lärm gehört! Der Fels beginnt zu wanken und birst mit dumpfem Krachen nach allen Seiten. Flammen brechen aus und erleuchten auf Augenblicke die nächtige, großartige Landschaft. Verstümmelte Leiber heimlicher und gewaltiger Tiere treiben und queklen weit 281 hin, und es ist ein Gewimmel und Geschlängel und Durcheinanderjagen, das in den giftigen Schwaden bald stiller wird, aufhört und dann aufwärts kreist, oder hinabsinkt. Halb zerquetschte Seeaale schleudern sich umher; riesige Panzerkerle schießen in zerbrochenen Panzern ziellos und immer schwächer sich stoßend hin; Polypen fahren im Zickzack auf- und abwärts, greifen sinnlos nach anderen Schwerverwundeten und lassen wieder los, werfen da und dorthin ihre Arme und suchen Halt und Versteck. Krabben treiben bauchoberwärts und recken die Knochenbeine da- und dorthin. Aufgerissene und zerquetschte Leiber silberner und bunter, dunkelfarbiger und schwarzer Leute wallen mit den kreisenden Strudeln und sind so giftig geworden, daß nicht einmal die Aasfresser sie nachher mögen.

Und dann kommt er selber herunter, der große und schreckliche, der tödliche und geheimnisvolle, der arme und sehr kranke Mensch. Er kommt zuerst allein. Im Oberwasser schon hat er das letzte Leben, das ihm seine Wunde ließ, dem Meere gelassen. Er kommt tot und in seiner langen Länge. Aufrecht und furchtbar, wie ihn Laikan von der oberen Welt kennt, sinkt der Mensch herab; und wie er schief im Unsichtigen einherschwankt, tun seine Arme, als ob sie schwach ruderten. Die verwirrten Fischleute wissen es nicht, daß jetzt der Störer und Vergewaltiger ihrer Welt kommt, aber sie fahren in wildem Schrecken auseinander. Es ist eine große Leere um den langsam hinabsinkenden Menschen, und kaum einer der Fischleute hat das blasse und sehr ernsthafte Gesicht des Hinschwindenden gesehen. 282

Ein riesiger Polyp zieht den toten Menschen an sich

Erst als dann immer mehr Menschen herabkommen und keiner sich regt und keiner tödlich ist, fassen die Fische Vertrauen, und die große Neugier überfällt sie. Und als ein riesiger Polyp den Menschen mit weithin 283 langenden Armen vorsichtig abtastet und den toten und seltsam leichten Leib dann faßt und an sich zieht, und ihn nicht mehr losläßt viele Tage lang; und als der sich nicht wehrt, nicht einmal: da kommt die Gier über diese tiefen und dumpfen Leute. Sie wissen nicht, daß es ihr Herr ist, den sie durchs Dunkel ihrer Welt zerren und langsam auffressen. Das große und feierliche Wort vom Abend des sechsten Schöpfungstages hat der Mensch zuerst vergessen; und dann haben es die Geschöpfe der Welt vergessen.

 


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