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Die Talfahrt der Gründlinge wollte kein Ende nehmen. Der Bach wurde breiter und tiefer; er zog gemachsamer einher, es wurde wärmer in ihm. Allerhand Neues und Fremdes begegnete den nachreisenden Lachsen; aber als eines Tages das Wasser bitter schmeckt und beizend durch die Kiemen geht, macht der große Bruder, welcher immer vorausschwimmt, plötzlich halt. Schon seit geraumer Zeit ist ihm unbehaglich in der Fremde. Er hat das Gefühl, daß er nicht hierher gehört; und wenn er auch abenteuerlustig ist: ein Abenteurer zu werden verbietet ihm inneres Gesetz und die stolze Haltung seiner weisen Mutter, deren Gemüt in ihm lebendig ist.
Der kleinere Bruder ist fahriger, und wenn Furcht ihn nicht zurückhielte, er würde – freilich nicht allein – durch das bittere Wasser schwimmen. Sein Heimatgefühl ist nicht so stark; wahrscheinlich ist seine Lebenskraft schwächer, nicht aufbäumend, wie die des Bruders. Deshalb fühlt er sich auch nicht eigentlich fremd in der Fremde. Ihn haben die Straßen, die in den Reiseweg einmünden, öfter verlockt. Einmal ist er ein Stück seitwärts abgebogen und hat neugierig die fremde Luft geatmet. Dabei hat er etwas Seltsames und Unerhörtes unter einem überhängenden Moospolster gesehen.
Dort kauerte in einem Erdloch eine Wasserhexe, die anzuschauen unheimlich war. Finster wie schwarzgrünes Moos war ihr Rock, und wenn sie sich rührte, rasselte es. Die Augen quollen ihr aus dem Gesicht und hatten einen gierigen, grausamen und nächtigen Blick. Vor sich hatte 28 sie zwei knochige Arme ausgereckt, an denen mörderische Zangen hingen. Das Lachsbürschchen hütete sich, ihr den Rücken zu wenden; er hätte das Gefühl gehabt, daß er am Schwanz gepackt werde. Was ihn aber länger vor dem Moosloch hielt, war der Umstand, daß auf dem Höhlenweib Hunderte kleiner Geschöpfe turnten, die der Hexe aufs Haar glichen. Daß diese nicht rasselten, hörte er; im Gegenteil sahen sie weich und hellgrün aus, und daß sie ausgezeichnet schmecken würden, diese Witterung 29 brachte ihm das Wasser. Daß von den Hunderten, die auf dem gepanzerten Rücken und den knöchernen Füßen des finsteren Weibes kauerten und über die bewaffneten Arme krochen, nicht eins oder das andere ins Wasser fallen sollte: wer glaubte das? Der Lachs glaubte es nicht; er hatte zu viel Unglück gesehen, und er verließ sich auf das segenspendende Gesetz des Unheils.
Er wurde in seinem Vertrauen auch nicht getäuscht und nicht in seiner Witterung. Das Jungkrebschen schmeckte so lecker wie nichts sonst; ein wenig bitter, ein klein wenig nach Gras, was besonders seltsam und rar war, sehr fett, und es krabbelte noch eine Weile im Magen. Leider gab es nur eins; denn die Hexe hatte drohend den knochigen Arm nach ihm ausgereckt, und er war entsetzt davongefahren. Aber er merkte sich diese Seitenstraße und nahm sich vor, wiederzukommen.
So ist es ihm auch sehr gelegen, daß der größere Bruder plötzlich umkehrt und bachaufwärts geht. Der wundert sich über seine Abwesenheit nicht, hat sie vielleicht nicht einmal gemerkt. Den Schwächeren, der sich trotz abenteuernder Selbständigkeit sehr schutzbedürftig fühlt, schüchtert dieses Verhalten des Größeren ein. Aber er vertraut dessen Klugheit, und das trotzige Wesen hält ihn im Bann. In gemessenerem Abstand als sonst zieht er hinter dem großen Bruder aufwärts.
Sie kommen an einem kleinen Tümpel vorüber, der nahe am Ufer ist. Die Strömung dreht eine Libelle im Kreis, die beim Mottenfang ihre Segel zu tief ins Wasser getaucht hat und von ihnen hinabgezogen wurde. Wie stets, ist der große Bruder zuerst bei der Beute, und 30 wie stets, will der kleinere mit halten. Aber wie ist das? Der Große hat auf einmal auch für ihn böse Blicke und fährt auf ihn los. Der Kleine hält's für Spiel und Spaß, weicht lustig aus, und packt die Libelle von hinten. Da bekommt er einen Stoß in die Flanke, und die Schwanzflosse des Bruders fährt ihm stachelig ins Gesicht, daß er gleich losläßt und davonschnellt. Dann bleibt er stehen, wendet sich und starrt unverwandt auf den großen Bruder, der die Libelle unter die Uferböschung zerrt und dort langsam verschluckt. Und plötzlich weiß er, daß er jetzt allein wandern muß, daß es gefährlich ist, größere Brüder zu haben, wenn man aus alter, adeliger und bewaffneter Familie stammt und nicht Gründling heißt. Jetzt ist der Bach auf einmal sehr groß, die Lebensreise voller Gefahren; über sein argloses Gemüt ist ein Blitz gezuckt, dann ist es finster geworden und mißtrauisch und wird vielleicht tauglich sein, ihn zu leiten und zu bewahren. 31
Rückwärts gewendet, schwimmt er langsam aus dem Bann des anderen, starrt immer noch auf die wohlbekannten und vertrauten Querbinden, die ihm stets vorauszogen, die er in Gischt und Strudel als guter Führer vor sich gehabt hat. Dann gerät er in die stärkere Strömung, und weil er nachdenklich ist, läßt er sich den Wellen und verliert, hinter einen großen Stein treibend, den Genossen seiner Kindheit aus dem Gesicht und glaubt, daß er ihn nicht mehr sehen wird.