Josef Wenter
Laikan
Josef Wenter

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Der Schatten des Menschen

Der Sommer ist wieder ins Land hinunter, und die Tage werden kürzer; aber weil der kleine Lachs sich angewöhnt hat, hauptsächlich nachts zu jagen, ist ihm das recht. Der Bach ist jetzt besonders freundlich und verläßlich. Im Sommer hat er öfter wild um sich geschlagen, und es war gut, ein Versteck zu haben, daran Steine und Geäst vorüberprasselten; denn die Wunde am Steuer heilte gemächlich. Wenn sie auch kaum schmerzte und Fische überhaupt nicht zu den wehleidigen Leuten in der großen Festversammlung des Lebens gehören: das Bürschchen fühlte gleichwohl eine Unsicherheit, die es ihm rätlich scheinen ließ, recht lange unter dem Moospolster der Ruhe zu pflegen.

Jetzt ist er schon wochenlang wieder ganz gesund, holt nach, was er zu fressen versäumt hat, wächst zusehends und bekommt einen ernsthaften und kühnen Zug im Gesicht. Stundenlang liegt er in der Septembersonne unter dünnem Wasser und genießt die einlullende Herbstwärme, läßt den strahlenden Föhnhimmel in seine grauen Augen 38 ein, und das Silber seiner Flanken blitzt um die Wette mit den Lichtlanzen, die von kiesigem Grund und springenden Wellen auffahren.

Das Abenteuer mit der Forelle hat ihn gereift. Es kommt nicht oft vor, daß einer ein solches Erlebnis nachträglich sich zurechtlegen kann. Wenn er auch täglich solche Geschehnisse sieht und selbst ähnliche Praktiken verfolgt: es ist eben doch anders, wenn man es an der eigenen Schwanzflosse erfahren hat, wie nahe der Tod vorbeispaziert ist; man wird in solchem Augenblick um Monate älter, und die Welt bekommt ein kühleres und zweifelhafteres Ansehen.

Aber nicht nur sein Erlebnis mit der Forelle hat ihn gereift. Ein viel geheimnisvolleres Geschehen läßt ihn stundenlang grübeln. Es liegt erst eine Woche hinter ihm, aber er zittert noch bis in die letzte Schwanzknorpel, wenn er daran denkt.

Das begab sich an einem trüben Tag nach den Herbstregen. Er war gegen Abend aus dösigem Schlummer aufgewacht und der Hunger plagte ihn. Denn nach dem ersten Regen, der alles, was flatterte und zickzackte, in den Bach geschwemmt und einen wahren Festtag beschert hatte, kam Kälte, und es flog und kroch nichts mehr übers Wasser und an den Ufern, das Wind, Regen oder plötzlicher Schwindel vor das hungrige Maul gebracht hätte. Dabei war das Wasser unsichtig und lehmig, man hatte die Augen voll Sand; und Schlammwühler ist der Bursch nicht; er braucht klare Verhältnisse, und der Kies ist oft scharf und zu groß, als daß er ihn umgraben könnte. So ist er im trüben Wasser unrastig hin und 39 her gewandert, hat die Strömung überquert, was er sonst nicht tut, hat oft am schwachen Zug des Wassers erst gemerkt, daß er in Ufernähe ist, gleitet wieder zurück zur Mitte, immer erfolglos, mit leerem Magen, mürrisch und gereizt.

Dann hat er vor einem Strudel Posten gefaßt, hoffend, daß dort vielleicht etwas Eßbares hineingetrieben wird; und er hat sich nicht verrechnet. Plötzlich ist etwas den Stein heruntergekommen, ist einen Augenblick im gelben Wasser verschwunden und hat sich dann im Wirbel, wenig über der Oberfläche, gedreht. Welch Entzücken nach langem Fasten! Ein fetter Regenwurm! Wild hat er zugeschnappt. Aber dann hat das Geheimnisvolle begonnen.

Er hat auf etwas Hartes gebissen, daß ihm der Kopf dröhnt, will es erschreckt ausspeien, aber das geht nicht mehr; auch kann er es nicht schlucken, weil es im Maul festsitzt; die Kiefer bringt er nicht mehr zu, weil etwas dazwischensteckt, das ihm nicht eigentlich weh tut, das aber fremd und wahrscheinlich riesig groß ist, größer vielleicht als er selber; so wenigstens fühlt er es. Und jetzt beginnt das zu schmerzen, weil es immer fester zu sitzen scheint. Aber das wahrhaft Entsetzliche dabei ist, daß es einen anderen Willen hat als er. Denn als er im Zorn und Schreck den gewohnten Fluchtweg bachaufwärts, wo die Strömung tief und schnell ist, stürmen will, will das Ding nur ein kurzes Stück mit und befiehlt ihm dann, zu bleiben. Das macht ihn wütend; er rudert mit Armen und Schwanz; dann geht es wieder ein wenig weiter; aber schon zerrt es wieder; da versucht er es bachabwärts, 40 was eigentlich gegen jedes Herkommen ist, und wieder geht es nur ein Stück weit; dazu fängt der Kiefer an, ihn sehr zu schmerzen, und er verliert die Kraft. Sein Zorn weicht einer beklemmenden, schrecklichen Angst; er schnellt und windet sich; dann reißt es furchtbar im Maul, und plötzlich ist kein Wasser mehr um ihn; wilde Luft stößt in die Kiemen, und im Kopf saust es dröhnend; irgendwo schlägt er hart auf, viel härter, als wenn er vom Wasser gegen einen Stein geschleudert wurde; dann ist ihm, als ob er wieder emporgeschnellt und noch einmal hart aufgeschlagen wäre; aber jetzt war auch das entsetzliche Ding nicht mehr im Maul; er hat einen letzten verzweifelten Sprung getan, hat dann plötzlich wieder atmen können und ist bachaufwärts gestürmt.

Die Kiefer haben ihn noch eine Weile geschmerzt, und der Kopf schien ihm größer als sonst; aber alles war so schnell gekommen und war so schnell wieder vorbei, daß er nur die Erinnerung an etwas Geheimnisvolles und Lauerndes hat und nicht eigentlich weiß, was er daraus wohl lernen solle; nur daß er sich vorgenommen hat, bei unsichtigem Wasser lieber zu hungern, jedenfalls nicht gleich zuzuschnappen, sondern erst zu kosten, wie er das bei Moos und Gras tut.

Wann er jetzt unterm föhnblauen Herbsthimmel sich sonnt, erscheint ihm das Geschehnis weit, weit fort, so weit wie Herbstregen, lehmiges Wasser und schmerzende Kiefer.

Hätte er gewußt, daß das seine erste Begegnung mit dem Menschen war, dann hätte er ahnendes Grauen nicht mehr aus seinem Gemüt gebracht. Uraltes Wissen wäre 41 dann in seiner Seele aufgestiegen: daß der Mensch der Herr der Erde und alles Lebendigen ist, nach dem Wort, das tief und erschauernd auf dem Grunde alles Erschaffenen ruht, und das da heißt: »Lasset uns den Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht«; und dessen feierliche und verpflichtende Hoheit nur dem Gedächtnis des Menschen entschwunden ist.

Aber der kleine Lachs sonnt sich und weiß nicht, daß er dem Menschen begegnet ist, und daß diese Begegnung für Leute seiner Sippe fast immer tödlich ist. Nur als plötzlich ein breiter Schatten aufs Wasser fällt, fast wie eines Baums, kommt eine tiefe Angst in sein Herz; und als der Schatten langsam und bedrohlich das Wasser hinabgleitet und ganz anders sich ausnimmt als Baumschatten, der im Wind schwankt, und den er gut kennt: da überfällt den kleinen Burschen das Grauen von neulich, und er stürmt entsetzt bachaufwärts.

 


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