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Margaret Mitchell, Vom Winde verweht

»Vom Winde verweht«, der Roman, den Margaret Mitchell, eine noch nicht fünfundzwanzigjährige, vorher ganz unbekannte amerikanische Lehrerin verfaßt hat, ist ein Wunder. Es ist fast unbegreiflich, daß ein so junger, vom Leben so gut wie gar nicht berührter Mensch, die Kraft aufbringt, ein so umfassendes Weltbild, sowohl der äußeren Dinge als auch der Seele, zu geben. Es ist kein vollkommenes Kunstwerk entstanden. Unvergeßliche Seiten voll überraschender Weisheit oder überirdischer Schönheit wird man nur selten finden, aber das Ganze lebt. Es zittert und glüht vor Leben. Das ist die Quelle des ungeheuren Erfolges: drei Millionen Leser allein in Amerika. Kein neuer Gustave Flaubert. Aber eine neue George Sand.

Es ist ein Buch von 1000 engbedruckten Seiten. Die Zahl der auftretenden Personen ist ungeheuer. Weiße und Neger, alt und jung, alles ist mit der gleichen Kraft und Lust geschildert. Herrlich! Die Landschaften des Südens, der Baumwollplantagen, mit den schwermütigen Gesängen, der kleinen Städte mit ihrer muffigen Philisterwelt, reihen sich wie Perlen, jede in Fülle vollkommen gerundet, aneinander. Aber hart neben der Idylle steht die Revolution, neben dem Liebeserlebnis einer zweiten Madame Bovary steht eine gewaltige blutige Heldenerzählung der jahrelangen furchtbaren Kämpfe zwischen den Nordstaaten und den Südstaaten mit ihrer patriarchalischen Negerwirtschaft und der französischen Lebenslust und der lässigen Freude.

Das fast nur aus Enttäuschungen zusammengesetzte Leben der Heldin, dieser grünäugigen, schlanken, schwarzhaarigen, unbegreiflichen und magnetisch anziehenden Kreatur, Scarlett genannt, dies ist der eine Kreis. Den anderen bilden die Kämpfe, das Versagen der Obrigkeit, die Seuchen, der Schmutz, die unbeschreibliche Entbehrung, die Krüppel im Felde und in der Stadt, die erbärmlichen Kriegsgewinnler. Befreite Sklaven und entkettete Sklavenseelen. Lazarette voll unbeschreiblichen Jammers, dazwischen Rettungen. Glücksfälle. Furchtbare Wanderungen, Emigrationen, Okkupationen, Raubüberfälle eines anarchistisch gewordenen Staatswesens. Wie sehr erinnert dies alles an unsere Tage! Kann es uns trösten, wenn wir, atemlos von Seite zu Seite hastend, aus diesem Buch erfahren, daß alles schon dagewesen ist und daß es mit dem Menschenleben damals nicht anders bestellt war als jetzt?

Wie der Este Tammsaare, dessen großartige epische Schöpfung »Wargamäe« mit dem Roman der jungen Amerikanerin geistige Zusammenhangsfäden spinnt, ist es mehr die jüdische Weltanschauung, die der Psalmen und des Buches Kohelet als der geistige Gehalt der Evangelien, was als Grundgerüst diese zwei Werke aufrechterhält. Die Liebe aber, aus welcher das Evangelium die Basis des menschlichen Zusammenlebens machen will, »ist nichts wert«. Alles ist eitel. Spreu vor dem Wind. Aber bevor etwas Spreu geworden ist, muß es geblüht, muß es geglänzt und gewelkt haben, und das ist es, was uns diese gottbegnadete Erzählerin zu geben hat.

Das Buch spielt in den sechziger Jahren. Wie bezaubernd wird das Zeitkostüm entrollt, die Kleider, die schlanken Taillen, die eine Schöne von damals dem brutalen Schnürmieder – und dem Hungern verdankt, die langen Höschen, die unter den Röcken und Unterröcken mit Falbeln und Rüschen hervorsehen, der frohe Luxus der alten, fröhlichen Zeit, die Gartenfeste und Flirts – und dann das Elend, die Entbindung auf der Flucht, das Wandern, auf dem miserablen Karren mit dem verendenden und doch vorwärts gepeitschten Pferde, die Heimkehr auf die Heimstätte, die zur Brandstätte geworden ist, das mühselige Aufbauen. Das Ende des Krieges, ohne daß ein echter Frieden wiederbeginnt.

Und so wie den jahrelangen, bis aufs Blut alles aussaugenden Kämpfen zwischen den liberalen Nordstaaten, die die Sklaverei ausrotten wollen (um noch brutalere Arbeitsmethoden einzuführen, behauptet die Verfasserin), kein wirklicher Versöhnungspakt folgt, so ist auch dem Kampf der Geschlechter, des Rackers Scarlett mit ihren Männern, kein Frieden beschieden. Es wohnen zwei Seelen in dieser niedlichen Brust. Die eine ist weiblich im wahrsten Sinne des Wortes, mütterlich, mitleidig, werbend, behütend, die andere ist männlicher Natur, energisch, vorurteilslos bis zum Zynismus, immer nach heißen und sogar rohen Genüssen auf der Jagd. Sinnlichkeit, Alkohol, Machtbewußtsein. Hier ist keine Mütterlichkeit, kein Mitleid, kein warmes Herz, hier steht dem Mann nicht die überlegene Frau wie ein treuer Kamerad für Lebensdauer zur Seite, sondern sie selbst kämpft, wirbt, jagt und hetzt, bis sie den Atem verliert und zum Schluß des Buches so arm und leer ist wie am Anfang: aber alt geworden, entzaubert, verblüht. Der Wind des Lebens ist über sie hinweggegangen, wie es im Psalm 103 steht, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr.

Welches ist aber die Stätte? Ist es der ruhige Ehehafen, das idyllische Dasein auf einem riesigen Gutshof, in der Mitte der Familie, des Vaters und der Kinder, Enkel und Anverwandten, der Diener, der Freunde und Vertrauten? Diese Welt ist für Scarlett durch den Krieg verwüstet. Durch den Krieg, der die besten Männer frißt, wird sie gezwungen, die Rolle des Familienoberhauptes zu übernehmen. Sie packt die Verantwortung auf den Rücken – wird kalt, raffiniert, geschäftstüchtig, roh und unbarmherzig – und rettet die Ihren. Aber auch ohne Krieg wäre es einer Scarlett, dieser wahren Evastochter, gegeben gewesen, glücklich zu werden. Mit der Herzseite zieht es sie zu einem hübschen, guten, klugen, feinen, aber viel zu zarten Mann, Ashley, und mit den glühenden Sinnen und dem kalten Kopfe zugleich zieht es sie zu einem wagemutigen zynischen (und im Grunde doch so sentimentalen) Freibeuter, Rhett genannt. Einer so bezaubernden kleinen Teufelin wie Scarlett widersteht niemand. So bekommt sie natürlich beide Männer, leider zu einer Zeit, wo sie sie nicht brauchen kann, und einen dritten dazu, den Verlobten ihrer Schwester, und noch viele andere. Und je mehr Männer diese Sirene gegen ihren Willen verlockt und je mehr sie den einen gegen den anderen ausspielt, je mehr sie diesen armen Narren auf dem Kopf herumtanzt, desto unglücklicher wird die widerspenstige Kreatur. Sie möchte doch zu gern einem Mann, der ihr wahrhaft imponiert, zu Füßen sitzen, möchte sich bei ihm verkriechen, ausweinen, ausküssen. Frieden sucht sie und nicht Kampf und Glut. Aber die Zeit ist in der Wende. Die alten Gesetze gelten nicht mehr. Die Frau muß, gegen ihren Willen, regieren, da der Mann sich an unsinniges Kriegsabenteuer vergeudet. Die Frau muß Aufgaben übernehmen, denen sie nie gewachsen sein wird. Hier muß sie zum Beispiel einmal das von den Männern verlassene Plantagenhaus schützen und kann es nicht anders, als daß sie einen marodierenden Soldaten ohne viel Federlesens zusammenschießt, die Leiche herausschleppt und irgendwo verscharrt. Kann das spurlos an einer Frau vorübergehen? Woran kann ein solcher Mensch noch glauben?

Nach allen Irrungen landet sie schließlich doch wieder bei Rhett. Sie bittet um Verzeihung. Aber nie war sie mehr allein als jetzt, wo sie zu einem anständigen, verständnisvollen, innigen Zusammenleben reif geworden ist. »Liebling«, sagt der Geliebte und dünkt sich noch groß dabei. »Du bist ein Kind, du meinst, wenn du sagst: Verzeih, dann seien die Wunden und Irrungen von Jahren geheilt und alles sei vergessen und gut ... Nimm mein Taschentuch, Scarlett, ich habe noch nie erlebt, daß du in irgendeiner schweren Stunde deines Lebens ein Taschentuch bei dir gehabt hättest.« Das ist eine unmännliche, ja mehr noch, es ist eine altjüngferliche Antwort. Der Freibeuter, der tapfere, blendend rücksichtslose Mann ist zur Tante geworden. Wie trüb endet dieses so strahlend begonnene Buch! Aber wie immer es sei, es bleibt eines der wichtigsten Dokumente unserer Zeit der Anarchie und des ewigen Sehnens nach Liebe und Frieden.


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