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A. H. Tammsaara, Wargamäe

Es ist für unsere deutsche Emigrationsliteratur, in welche der jähe Tod Horváths, Tollers, Roths klaffende Lücken gerissen hat, von höchster Wichtigkeit, besonders für die Jüngeren unter uns, sich an den großen Leistungen der Gegenwart zu messen, und den Blick nicht zu verlieren für umfassende, kühne Darstellungen – nicht eines Einzelschicksals – sondern eines Landes, eines geistigen oder geografischen Klimas.

Zu diesen großen und auch durch einen gewaltigen äußeren Erfolg bestätigten Leistungen wäre erstens das Werk Bromfields zu nennen; zweitens der merkwürdige Roman einer zweiundzwanzigjährigen amerikanischen Lehrerin Mitchell, »Vom Winde verweht« (auf den ich im einzelnen noch zurückkommen muß), und drittens ein Werk, das von einer ganz anderen Welt Kunde gibt – und von einer ganz anderen Art Meisterschaft und Menschlichkeit: Ich denke an den bis heute unbekannten estnischen Dichter A. H. Tammsaare, dessen fünfbändiges Riesenwerk eben in dem Verlage Holle in Berlin unter dem Titel »Wargamäe« zu erscheinen beginnt.

Der Dichter ist 1878 auf einem Bauernhof geboren. Lungenkrank, hat er die schönsten Jugendjahre in einem Zauberberg, einem Lungensanatorium im Kaukasus verbracht, zwischen 1911 und 1916, in den schlimmsten Krankheitsjahren ist er fast verstummt, ein biblisches Drama »Judith« bildet den Abschluß seiner dichterischen Frühzeit. Schon vorher, beim Verlassen der Schule, hat der in estnischer Sprache schreibende, aber von slawischen Einflüssen (dem grandiosen Bauernromanzyklus »Die polnischen Bauern« von Reymont) beeinflußte Schriftsteller die Idee eines umfassenden Romanwerkes von »Blut und Boden« über zwei Generationen hinweg erfaßt.

Er hat zwanzig Jahre das Werk reifen lassen, dessen erster Band, eben das uns jetzt vorgelegte Buch »Wargamäe«, im Jahre 1906 erscheint. Von der Fülle der Gestalten, alt und jung, arm und reich, gut und niederträchtig, sinnlich und keusch, von der unbeschreiblichen menschlichen Wärme, Zartheit und Präzision der Darstellung hier in kurzem einen Begriff zu geben, ist unmöglich. Gewiß, es ist kein neuer Tolstoi. Dazu fehlt es an der Allgemeingültigkeit der Figuration, die Persönlichkeit des Dichters hat nicht das gigantische, vom Himmel zur Hölle reichende Ausmaß eines Dämonen wie Tolstoi, Aber wenn die folgenden Bände sich auf der Höhe des ersten halten, wird das Ganze ein Werk darstellen, das nicht allzuweit hinter »Krieg und Frieden« zurücksteht. In einem bestimmten Punkt ist er Tolstoi sogar etwas überlegen, er hat echten Humor, und hier steht er unter dem Einfluß Gogols, der seinerseits wieder von dem uroriginellen Ernst Amadeus Hoffmann – dem folgenreichsten Genie der deutschen Romantik – beeinflußt war. So rundet sich ein Kreis, in den vielleicht auch Hamsun gehört. Tammsaare schildert in dem Band »Wargamäe« nicht allein den Segen und Unsegen der Erde, sondern auch den gogolesken, von saftigem Humor geradezu strotzenden Kampf zweier Nachbarn, eines guten, anständigen Mittelmenschen Andres und eines vom Zwergteufel des Bösen getriebenen Dorfmephisto, eines wahren Genies im Erfinden von Tücken, Listen, üblen Meisterstreichen, ein kleiner Gott der Flöhe und der Läuse, eine Figur aus einem Guß, nicht mehr zu vergessen, eine Menschenschilderung, an der mehr als eine Generation junger Autoren lernen könnte – und die älteren auch.

Was uns aber ebensowichtig ist wie das Gewebe der ineinander wirkenden Gestalten, der Zauber einer trotz ihrer Häßlichkeit und Dürftigkeit tief geliebten Landschaft, das ist die geistige Grundlage, die sogenannte Weltanschauung, von welcher das Werk erfüllt ist. Bauplan, Grundriß der ganzen Architektur. Es ist, ich habe bereits darauf hingewiesen, ein Werk von Blut und Boden, eine Iliade des flachen Landes, der Sümpfe und auch der bunten Ernten. Das wird der Grund gewesen sein, weshalb ein Verlag des Dritten Reiches das umfangreiche Buch hat übersetzen und erscheinen lassen. Der Verlagsprospekt sagt wörtlich: »Hinter dieser eigenartigen Welt entdeckt der Leser eine wahrhaft weisheitsvolle und wurzeltiefe Weltanschauung.«

Was ist diese weisheitsvolle und wurzeltiefe Weltanschauung? Ist es der Gesang des »Volk ohne Raum«, der rücksichtslosen Vorwärts-Anarchie eines von sich berauschten Herrenwillens? Keineswegs. Es ist – der Geist der Bibel, es ist das Jüdischste unter allem Jüdischen, es ist das Schicksal des armen geplagten Gerechten (oder Halbgerechten) Hiob, das den Ausklang, den Sinn des Ganzen bildet. Vom Biblischen kommt der Dichter her, von der Judith-Legende, die einen Hebbel ebenso wie einen Giraudoux inspiriert hat. Im Alttestamentarischen mündet er ein, soweit es sich nach diesem ersten Band beurteilen läßt.

Da ist der Lebensabend des guten arbeitsgetreuen Bauern, des Mannes, der das Moor urbar gemacht, die Ernten trotz Sturm und Not eingebracht hat, der Söhne und Töchter gezeugt, der gelebt, gelitten und geliebt hat: »Zu Hause angekommen, redete Andres kein Wort. Er trank nur ein paar Krüge gutes Bier, trank, bis der Kopf ihm schwer zu werden begann, denn er fürchtete, daß er sonst heute am Ende keinen Schlaf würde finden können und legte sich dann zur Ruhe nieder. Aber in der Nacht, sei es nun, daß die Wirkung des Bieres verflogen war, oder sonst aus einem Grunde, erwachte er und kroch leise aus dem Bett. Anfangs gedachte er aufs neue an das Bier zu gehen, aber dann öffnete er die Schranktür, holte die Bibel hervor und begann das Buch Hiob zu lesen, denn durch Hiobs Mund wollte er mit seinem Gott reden. Aber dann kam es so, daß, während seine Augen die Worte Hiobs verfolgten, seine Gedanken ihre eigenen Wege gingen, und schließlich wollte es Andres scheinen, daß die gelesenen Worte Hiobs sich zu seinen eigenen Gefühlen und Gedanken wandelten, zu seinen Sorgen und seinen Nöten, seinen Enttäuschungen und zu seiner Verzweiflung.«

Diese Verzweiflung ist aber nur das letzte Wort des Romanteiles, nicht des Ganzen, es scheint sich ein Evangelium der Liebe anzukündigen; nach der harten Gerechtigkeit die sänftigende Barmherzigkeit; nach dem Recht die Gnade. Die Weltanschauung, die also von den Männern des Dritten Reiches so gerühmt wird, sie ist keine andere als die uns allen teure des strengen Rechtes zuerst und der humanen, erbarmenden Milde nachher. Dieser neue Meister, A. H. Tammsaare, gehört also zu uns, und in diesem Sinne sei er gegrüßt. Die Welt wird noch von ihm hören.


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