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In seinem ersten Roman hat Stefan Zweig ein ungeheures Problem entwickelt: das Mitleid. Er hat es entwickelt in drei großen Komplexen, die sich konzentrisch zusammenschließen um eine Mittelfigur. Es sind drei Welten (drei Männer), die Mitleid zu empfinden haben, die Mitleid schuldig sind, und ein Mittelpunkt, ein Mädchen, welches das Mitleid erfleht und herrisch verlangt und die doch alles andere eher als Mitleid will und braucht. Sie will Liebe, aber sie braucht Gnade. Stefan Zweig gibt keine kalte, trockene Dialektik. Menschliche Rührung, tiefes Begreifen des ewig Menschlichen, das ist: des ewig Tragischen; und das alles im Rahmen des alten unvergeßlichen Österreich-Ungarn: hinter blühendem Leben verwelkende Geschicke. Einfach und schlicht erzählt.
Der erste Komplex in dieser meisterhaft ineinander verschlungenen Komposition ist der Vater der mitleidswürdigen Heldin. Ein kleiner, harter, kalter, tüchtiger, enger Mann, geschäftstüchtig, erfolgreich, aus der Armut und dem Getretenwerden sich brutal emporkämpfend zu gewaltigem Reichtum. Als Herr Kanitz beginnt er. Als Großgrundbesitzer, Pseudomagnat auf oberungarischem Gut, Herr von Kekesfalva, verläßt er den Rahmen des Romans. Dieser Mann hat eine schwache Stelle. Er will etwas anderes sein als er ist. Er haßt sich, er ist sich zuwider: »Er starrte sich im Spiegel an, wie man die Fotografie eines Verbrechers in der Zeitung ansieht, um herauszubekommen, wo eigentlich in den Zügen das Verbrecherische steckt, im aufgestoßenen Kinn, in der bösen Lippe, in den harten Augen.« Eben hat er ein gutes Geschäft gemacht. Aber war es nicht zu gut? Erdrückt ihn nicht die Reue, weil er eine arme, verstaubte, verblühende, ahnungslose Frau um ihren Besitz gebracht hat – und erträgt er diese Last in seinem nur scheinbar kalten Herzen nicht? »Ja, so ein Mensch müßte man seih; lieber sich betrügen lassen als zu betrügen.« Die Reue wird tätig, das Mitleid siegt, der harte Mann wird weich, der Geizige großherzig, nimmt sich dieses verstaubten Fräuleins an, heiratet es, ist glücklich mit ihr und hat ein Kind, ein bezauberndes, schmetterlingsgleich anmutiges Wesen. Hier endet das Glück. Das Mitleid rächt sich. Die Frau stirbt, das Kind erkrankt und wird gelähmt. Ein kleiner, boshafter, verbitterter, anspruchsvoller Krüppel von neunzehn Jahren, so tritt Edith in den Rahmen der Erzählung. Sie bedeutet dem Vater alles. Er ihr fast nichts.
Mitleid hat mit dem Kind auch ein Wiener Arzt namens Condor. Ein Meister in der Kunst, »die Illusionen wegzuoperieren«, ein größerer Meister aber in der Kunst, Illusionen zu schaffen. Niemals kann er Edith heilen. Immer kann er ihr und sich einreden, sie sei auf dem Wege der Heilung. Das Herz des alten Kekesfalva ist schwach, und so »mußte dem alten Mann wieder eine Kampferinjektion Zuversicht verabreicht werden«. Er hat vielleicht Erfolg? »Medizin hat mit Moral nichts zu tun«, sagt er. Alle Mittel sind recht, wenn sie wirken, mögen sie noch so unwissenschaftlich, sagen wir es offen, mögen sie noch so schwindelhaft sein. Ein brutaler Optimist, die praktische Menschenliebe in Person.
Zweig setzt seinem Buch ein Motto voraus, in welchem er sich gegen »das schwachmütige, sentimentale Mitleid« wehrt, »das eigentlich nur Ungeduld des Herzens ist, um sich möglichst schnell freizumachen...« Er ist für »das andere, das einzig zählt, das unsentimentale, aber schöpferische Mitleid, das weiß, was es will, und entschlossen ist, geduldig und mitduldend alles durchzustehen bis zum letzten seiner Kraft und noch über dies letzte hinaus.«
Hat der Vater dieses Mitleid? Ja, kann er es denn haben, wenn er sich selbst mit bemitleiden muß? Wenn er ein geschlagener, im tiefsten völlig einsamer und beklagenswerter Mensch ist? Er seufzt, er weint, haßt, verleugnet sich, und vor lauter Tränen verliert er die Kraft der Führung. Er kann nicht führen, er kann nicht befehlen, er kann dem Kind die Augen nicht öffnen. Denn Edith ist deshalb besonders elend und bitter, weil sie keine Gnade kennt, weil sie die furchtbaren Tatsachen nicht zur Kenntnis nehmen will, weil sie einmal die Gesunde spielt, weil sie ein andermal mit dem Leiden kokettiert und es zynisch übertreibt, um schließlich wieder in Krämpfen und Zuckungen zu versinken. Sie ist sinnlich und doch zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Ist das alles nicht furchtbar genug? Aber sie dreht sich den vergifteten Speer im Leibe um. Der Vater kann nur alles noch schwerer machen, er kann dem Kind nur das lustige Leben im leichten, schwebenden, tanzenden Wien von 1914 versprechen. Halten kann er nichts. Er glaubt nicht einmal an sich, wie soll er dem Kinde Glauben geben?
Und der Arzt, dieser Dr. Emmerich Condor, zweiter Hof, dritter Stock, Sprechstunde von 2-4? Er hat in Wien eine Armeleutepraxis, er könnte in Kekesfalva, an Kekesfalva reich werden, wenn er wollte. Aber er will nicht, er kann nicht. Er hat eine unschöne, verbitterte reizlose Frau – eine Blinde. Sie verlangt sein Mitleid für sich. Sie braucht ihn. Er gehört ihr. Sie gönnt ihn den Kranken nicht. »Alle wollen sie was von ihm«, schreit sie, »alle fragen und klagen!« So jagt sie einen jungen Leutnant weg, als er sich bei Condor Rat holen will, »einmal muß er seine Ruhe haben, weg jetzt! ... Weg, hab ich gesagt!«
Mit diesem jungen Leutnant sind wir bei dem dritten und wichtigsten Komplex des Romanes angelangt. Wenn man ihn nur flüchtig ansieht (so wie er sich selbst im Beginn schildert mit einer unnachahmlichen Lässigkeit, Sicherheit und Lebensbejahung), so sieht man nur eine Operettenfigur. Man muß Zweigs meisterliche Art bewundern, wie er, ohne daß man merkt wie, immer tiefer und tiefer geht, bis von dem »Offiziers-Schlieferl« nichts mehr übrigbleibt. Ein Mensch, einmalig und wahr. Kein einsamer, mißverstandener, übertriebener, leidsüchtiger mehr, sondern endlich einer, der gerne lebt, der beliebt ist, im Kreise seiner Kameraden seinen Mann steht. Ein prachtvoller Reiter, ein glänzender Soldat, tapfer bis zur Tollkühnheit, im Krieg die höchste österreichisch-ungarische Auszeichnung, den Maria-Theresien-Orden, als Flieger über den Piave erkämpfend. Er ist gesund. Er steht fest in einer Gesellschaftsschicht. Pflicht gegen Recht. Sein Stand ist seine Statik. Sein Gefühl ist seine Dynamik. Das ist der Konflikt. Hier hat Zweig den Kern der Tragödie erfaßt: Es gibt außer dem Mitleid des Menschen beim trauten Du und Du oder dem glatten kalten Spiegel gegenüber noch eine zweite Art Mitgefühl, nämlich das des Menschen mitten in der Masse, seinesgleichen vor sich, hinter sich, rechts und links, Väter und Söhne, Höhere und Niedrigere. Diese beiden Arten Mitleid sind unvereinbar. Wer auf der einen Seite siegt, muß auf der andern Seite fallen. Der junge Offizier kommt wie Parzival an die Stätte des Leidens und der Qualen und sieht nichts. Er fordert das Krüppelwesen, dessen aus Blech und Riemen gefertigte Gelenkstützen er unter den Seidenröcken nicht sieht, zum Tanz auf. Hysterischer Ausbruch, Jammer, Tränen und Geschrei – und echtes Leid. Scham des gutmütigen, aber ungeschickten jungen Menschen, Wunsch, es gutzumachen. Wie sollte ihm das in der Blüte der Jugend, mit all dem unverbrauchten Feuer, mit all dem Zauber der Montur – und mit der Bravheit seines Gemütes nicht gelingen? Er tut der Armen gut. Sie beginnt ihn zu lieben. Er empfindet zuerst nur Mitleid. Bald wird es eine Art ritterlicher Liebe. Hier erscheint ein Zug, der vielleicht der tiefste, weil selbstverständlichste des ganzen reichen Buches ist: Dieser junge Offizier, aus armem, aber gutem Haus, unterliegt nicht allein dem »Größenwahn der Güte«, er unterliegt auch der Macht des Geldes. Nicht, daß er sich verkauft. Dazu ist er zu ehrenhaft. Aber die warme Atmosphäre großer und gesicherter Reichtümer tut ihm wohl. Dem Vater Kekesfalva ist das Geld ein Fluch. Dem Arzt Condor ist es eine Last. Für den Offizier ist der Glanz des dicken Goldes aber etwas Helles, die erlesenen Gerichte, Weine und Zigarren etwas Erfreuliches. Er nimmt es hin und dankt und lacht. Er braucht nur eine Sorge zu haben, nämlich die, ob er helfen kann. Und er hilft. Er allein hilft. Er entwirrt die Gefühle. Er gibt dem verkrüppelten Kind den Ausweg ins Freie, nämlich den Ausweg des Ichbesessenen in die Nächstenliebe, den Weg aus der Arroganz in die Demut, aus der Bitterkeit in die Hoffnung. Er stiftet Frieden: Er gibt dem nüchternen und doch so glaubensseligen Geschöpf die Illusion, endlich um seiner selbst willen geliebt zu werden. Er gibt diese Illusion, weil er, der junge, unbedeutende Offizier, sie zum erstenmal mit Macht an sich selbst erlebt. Zum erstenmal spielt er die Götterrolle: »An jenem Abend«, erzählt er nach seiner Verlobung und nach den ersten echten Küssen seines Lebens, »an jenem Abend war ich Gott. Ich hatte die Welt erschaffen und siehe, sie war voll Güte und Gerechtigkeit ... ich fühlte mit Stolz, die Menschen liebten das Licht, das von mir ausging ... Ich und nur ich war der Anfang, die Mitte und der Ursprung ihres Glücks ... ein letzter Blick noch, ein Gruß, und dann ging ich, frei und sicher, wie man immer geht von einem gelungenen Werk, von einer verdienstvollen Tat ...« Und hier ist das Ende. Im Augenblick, wo der Retter die Gerettete verläßt, um in die Gesellschaft zurückzukehren, aus der er stammt, zu der er gehört, für die er dient und die ihn als soziales Fundament stützt, da muß die ewige Verwirrung der Gefühle bei ihm beginnen, muß der Zweifel angehen, das Glück enden. Da muß die Göttergleichheit zu Hohn und die vermeintliche Kraft zur Schwäche werden. Das Buch spielt vor dem Kriege. Es ist also noch eine Welt, die in den Fugen hält. Es ist eine Hierarchie da, ein Stufenwerk der Ehre. Es ist ein Unterschied zwischen dem winzigen Monatsgehalt, dem Ehrengehalt eines subalternen Offiziers und den Riesensummen eines erfolgreichen Spekulanten. Es gibt ein Reglement. Mitleid mit einem armen, zur Kinderlosigkeit verurteilten jungen Mädchen; das ja. Aber eine Ehe mit dem kranken, gelähmten Millionärskind aus zweifelhaften Verhältnissen: nein! Das Reglement sagt nein. Die Gesellschaft sagt nein. Die Natur sagt nein. Ein Mann wie dieser da kann nicht geduldig einzig und allein seinem Herzen folgen, es sei denn, er zerbräche die ungeschriebenen Gesetze seines Ranges und die Gesetze der unerbittlichen Natur. Ob der tragische Ausgang Selbstmord heißt oder heroischer Verzicht – die Opferung einer echten Liebe (der Held liebt sein Werk in dem jungen Mädchen) bleibt unerläßlich. Der Schluß bleibt immer trüb. Kein geistlicher Trost. Kein Kloster. Also überhaupt kein Ausgang. Wer entsinnt sich nicht der kargen und doch so tiefen Worte eines Benjamin Constant in seinem »Adolphe«? Wer erkennt nicht das ewige Gesetz in all der Verwirrung wieder? Hier wie dort die Liebe und das Mitleid; die Pflicht und der Götterwahn der Güte; der Zwist, die Ungeduld des Herzens und das traurige Ende. »Sie hätte von mir verlangen dürfen«, sagt der junge Adolphe, als er sich von der viel älteren, lange nicht mehr unbemakelten und doch so mitleidwerten und in ihrer Art herrlichen Eleonore trennen soll, »sie hätte von mir verlangen dürfen, sie nicht zu verlassen. Ich wußte im Grunde meines Herzens, ihren Tränen hätte ich nicht Nein gesagt ... ich entfernte mich nicht ohne lebhaften Schmerz von einem Wesen, das mir so einzigartig hingegeben war. Was für Tiefen tun sich doch in Verbindungen auf, die nicht enden mögen! Gegen unsern Willen werden sie zu einem unzertrennlichen Teil unseres Lebens! Lange vorher, in Ruhe, da beschließen wir bei uns, sie zu lösen. Wir glauben, daß wir mit Ungeduld den Augenblick der Ausführung unseres Planes herbeisehnen. Aber wenn der kritische Augenblick da ist, erfüllt er uns mit Schaudern. Und so grotesk ist es mit unserer erbärmlichen Seele bestellt, daß wir uns unter herzzerreißenden Qualen von einem Menschen trennen, an dessen Seite wir ohne Freude geblieben wären!« »Adolphe« ist 1816 erschienen. Alles hat sich seither gewandelt, aber das menschliche Herz, in seiner Einsamkeit, mit seiner Unvereinbarkeit seiner Gesetze mit denen der Natur und der Gesellschaft, ist es nicht das gleiche geblieben?