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Jack London, Menschen der Tiefe

Jack London hat im Sommer des Jahres 1902 eine Art Entdeckungsreise in die Unterwelt Londons, das Elendsviertel East-End, gemacht. Die Berichte aus dieser Unterwelt gibt jetzt der Berliner Verlag Universitas im Rahmen seiner großen, alle Werke Jack Londons umfassenden Ausgabe heraus. Es sind keineswegs Dichtungen, es sind Tatsachenberichte. Ein Reporter aus dem bürgerlichen Mittelstande, ein Mann von starker Lebenskraft, von gesunden Muskeln, von guter Beobachtungsgabe und ausgezeichnetem sachlichen Stil, verkleidet sich in einen Arbeitslosen, maskiert sich als Proletarier. Er nimmt den Augenblick wahr, sieht sich um, fragt und hört zu, kehrt dann wieder an den Schreibtisch zurück und sagt: Das habe ich gesehen. Jack London war nicht allein Reporter. Hier aber, in diesem Buche, ist er nichts als das, und gerade das ist das Große, das Erschütternde an dem vorliegenden Werke. Aber es gibt noch etwas Größeres, etwas noch Erschütternderes: Wenn man das Buch gelesen hat, sagt man sich, daß sich dank des wiedererwachten »sozialen Gewissens« der Jahre zwischen 1902 und 1928, dank der Anteilnahme sozialistischer Massen an der Regierung und Gesetzgebung fast aller europäischer Länder so grauenhafte Zustände, wie sie Jack London schildert, heute nicht mehr in Europa finden werden. Leider ist dies ein Irrtum. Es fehlt nur der neue Jack London, der uns die fast unbegreifliche Menge und Schwere des menschlichen Elends von 1928 nahebrächte (es gibt unter der Jugend des Nachkriegs-Europa keinen einzigen großen, unbeirrbar wahren Reporter). Aber an den Zuständen, die man infolge der wohltätigen Wirkung der Arbeitslosenversicherung und der anderen »sozialen Lasten« für immer verschwunden glaubte, hat sich so gut wie nichts geändert. Davon gibt ein Aufruf Kunde, den Ende Oktober 1928 der Herausgeber einer großen Tageszeitung in seinem Blatte erließ und der sich mit dem Jammerleben der Bevölkerung des Industriebezirkes Waidenburg befaßte.

So fürchterlich es klingt, wir müssen die Schilderungen, die uns Jack London in diesem unvergeßbar ruhigen Berichte auf fast dreihundert enggedruckten Seiten gibt, als vollkommen aktuelle ansehen, obwohl doch in dem ganzen politischen Aufbau, in der gesamten sozialen Struktur Europas und Englands sich in diesen sechsundzwanzig Jahren ungemein viel geändert hat. Aber daß ein Massenleiden, ein Massenverkommen heute genau wie damals bestehen kann, ohne daß die Allgemeinheit es weiß, es begreift und sich danach richtet – das ist das »Große, das Erschütternde«, von dem ich anfangs sprach. Sollte tatsächlich der Staat, wie wir ihn heute verstehen, dagegen machtlos sein? Sollte er nicht begreifen, daß es eine Anarchie der Besitzlosigkeit geben kann, einen so tief ätzenden Nihilismus des »schreienden Elends«, daß sein eigener Bestand, das ist: die durch das Gesetz gefügte Ordnung dieses Staates, durch Tatsachen dieser grauenhaften Art im empfindlichsten Punkte aufs schwerste erschüttert werden muß? Sollte der Staat als solcher dauernd und grundsätzlich gegen solche Auswüchse menschlichen Jammers hilflos sein, dann muß er selbst krank sein, und zwar nicht etwa krank in seinem Blätterwerk, das alle Jahre wechselt, auch nicht etwa nur krank in den kleinen und mittleren Zweigen, die ohne Schaden abfallen oder abgeschnitten werden können, sondern krank in seiner Wurzel. In diesem Sinne ist das Buch Jack Londons ein eminent aufwühlendes Werk, und je weniger dieses Buch »ein Hoheslied der Menschlichkeit« sein will, das es auch gar nicht sein kann, je mehr dieses Buch seinen dokumentarischen Charakter erweist, und zwar einen dokumentarischen Charakter von solcher Echtheit, daß die Schilderungen dieses Buches statt im Elendsviertel Londons im Jahre 1902 ebensogut oder noch besser im Elendsviertel des Kohlendistrikts von Waidenburg im Herbste 1928 geschrieben sein könnten – desto mehr haben sich die gesetzgebenden, die wahrhaft erhaltenden, die echt konservativen Kräfte eines Landes zu bemühen, diesen furchtbaren Krankheitssymptomen nachzugehen. Es ist, wie ich glaube, nicht Sache der privaten Wohltätigkeit abzuhelfen. Ja, es wäre nicht einmal Sache eines privaten, genial angehauchten Reporters, diese Dinge ans Licht zu fördern. Sondern es hat der Staat, der von sich aus jedes Verbrechen verfolgt, der von sich aus jeden ansteckend Kranken isoliert, das heilige Recht und die daraus folgende noch heiligere Pflicht, Fällen von so grauenhaftem Elend von sich aus nachzugehen. Wenn das, wie es scheint, unzerstörbare Gefüge einer industrialisierten Welt zu solchen aufwühlenden Fällen führen kann, dann verstehen wir wohl die schöne, sehr menschliche Geste des amerikanischen Reporters Jack London, der sagt: »Die Zivilisation hat alle Güter geschaffen, die ein Menschenherz begehren kann. Aber der Durchschnittsengländer hat keinen Teil daran; und wenn er für immer davon ausgeschlossen sein soll, so sollten wir lieber die Zivilisation aufgeben.« Das nenne ich den tief ätzenden Nihilismus des schreienden Elends.

Es sind Tatsachen, Zahlen, protokollarische Aufzeichnungen, keinerlei Hohelieder, keine Zitate, es sei denn die von Naturforschern wie des berühmten Huxley und solche aus den amtlichen Statistiken der großen Stadt London. Aber was für Tatsachen, was für Zahlen, was für protokollarische Aufzeichnungen! Man versteht nicht, daß uns dieses Buch erst so spät vorgelegt wird. Wenn ein Buch Epoche machen kann, Bücher dieser Art könnten es. Ich erinnere an Kennans ebenso grauenhaftes, in seinem schreienden Elend nihilistisches Buch »Sibirische Gefängnisse«. Diesem Buch eines jungen amerikanischen Reporters, der ahnungslos den Boden Sibiriens betreten hat im Laufe der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, ist zum großen Teil der Untergang (erst der moralische, dann der historische) des zaristischen Systems zuzuschreiben. So wird auch das Buch Londons unmöglich ohne Wirkung bleiben können. Man lese nachfolgende trockene Berichterstattung und sage sich dann selbst, ob ein Staat ein Recht zur Existenz hat, in dem ungestraft und als alltägliches Ereignis folgende Dinge sich begeben können: »... Und in demselben Zimmer ... legt sich die Familie abends auf ihrem Lager zur Ruhe. Das heißt, daß so viele Mitglieder wie möglich in das einzige Bett der Familie kriechen, wenn die Familie überhaupt ein Bett hat, der Rest legt sich auf den Fußboden ... Stirbt eines der Kinder – und einige müssen sterben, da fünfundzwanzig Prozent der Kinder von East-End vor ihrem fünften Jahre sterben –, so liegt die Leiche des Kindes im selben Zimmer. Und sind sie sehr arm, so müssen die Leute die Leiche einige Zeit in der Stube behalten, ehe sie sie begraben können. Tagsüber liegt die Leiche auf dem Bett, nachts, wenn die Lebenden das Bett in Besitz nehmen, wird die Leiche auf den Tisch gelegt, an dem die Lebenden, wenn die Kinderleiche morgens wieder auf das Bett gelegt worden ist, ihr Frühstück essen ... Erst vor wenigen Wochen mußte eine Frau vor Gericht erscheinen, weil sie ihr totes Kind, das zu begraben sie nicht imstande gewesen war, drei Wochen auf diese Art und Weise bei sich behalten hatte.«

Lügt dieser wahrhafte Reporter? Und wenn er nicht lügt, kann es die Verwaltung eines europäischen Rechts- und Ordnungsstaates bezeugen und beschwören, daß Fälle dieser Art auch bei »katastrophaler« Arbeitslosigkeit innerhalb ihrer Grenzen unmöglich sind? Ist dies, was Jack London schreibt, Dichtung, oder ist es Tatsachenmaterial – und wenn es Tatsachenmaterial ist, empfindet es der Geist eines europäischen Staates nicht als furchtbare Anklage?


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