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Paul Valéry, Herr Teste

Die großen Werke der Kunst, die den echten gültigen Stempel der Dauer an ihrer Stirn tragen, gehen aus einer gesegneten Vereinigung von Geist und Erde hervor. Diese Ehe zwischen Geist und Erde wird in einer dunklen Kapelle geschlossen, und es wird selten ganz klar, um wieviel Stufen der eine Teil höher steht und wieviel Schritte näher am Altare als der andere. Bei den großen, tiefen und dunklen Kunstwerken Valérys, die uns eben in einer schönen Übertragung geboten werden, sieht man auf den ersten Blick den Geist fast allein herrschen. Er herrscht über den Erdenrest, der ihm gegenübersteht, mit einer ruhigen, bis ins letzte ausgewogenen Gewalt, mit einer fast göttlichen Überlegenheit. Da uns, den Lesern, aber Valérys Geist doch nur durch das Medium der Erde, das heißt, nur durch geborene Gestalt und das wandelnde Leben zugänglich, verständlich und überzeugend werden kann, sieht man den Dichter immer mit dem äußersten Aufgebot von geistiger Durchdringung an der Arbeit. Er verlangt das Höchste von sich, aber auch vom Leser. Zwischen ihm, dem Schöpfer, und uns, den Schülern, kann nur die Sprache vermitteln. Daher die überlebensgroße Spannung, die grandiose elektrische Ladung, welche in diesen Werken (außer »Herr Teste« liegt noch ein von R. M. Rilke meisterhaft übersetzter Dialog »Eupalinos« vor) die Sprache auf sich zu nehmen hat. Valéry sagt selbst, daß »in diesem seltsamen Gehirn Testes, in dem die Philosophie wenig Kredit hat«, die »Sprache stets im Anklagezustand steht«. Wer also diese Werke zur Hand nimmt, darf nicht erwarten, daß sie sich ihm sofort erschließen. Im besten Falle wird der Leser in die Werke hineinwachsen, und zwar nicht wie etwa ein kleiner Junge in die Kleider seines älteren Bruders hineinwächst, sondern so wie eine Pflanze in ihren Erdgrund hineinwächst. Wer sich diese Werke zu eigen gemacht hat, ist dadurch ein anderer geworden. Dies das Siegel der höchsten Leistung, die ein schöpferischer Geist auf einem beschränkten Gebiet zu leisten imstande ist. Valéry sagt darüber: »Einen Hippogryph, einen Chimaira der intellektuellen Mythologie wenigstens zu umreißen, das erfordert – und entschuldigt demnach – den Gebrauch, wenn nicht die Schaffung einer erzwungenen, gelegentlich in energischer Weise abstrakten Sprache. Es erfordert zugleich eine gewisse Familiarität und geradezu einige Spuren jener Alltäglichkeit und Abgedroschenheit, die wir uns selber uns gegenüber erlauben. Der solchen besonderen Bedingungen unterstellte Text ist gewiß im Original allzu bequem zu lesen. Um so mehr muß er denen, die ihn in eine fremde Sprache übersetzen wollen, fast unübersteigbare Schwierigkeiten bieten ...« Nun fragt man sich, lohnt es die Mühe, diesem Schöpfer, Valéry, und seinem Geschöpf, dem Herrn Teste, diesem vierzigjährigen Mann von außergewöhnlich schneller Sprechweise, klangloser Stimme, soldatischen Schultern und militärischem Schritt zu folgen? Doch dies ist bloß das Äußere und sagt nichts von der ungeheuren geistigen Anziehungskraft, die von Teste ausgeht. Es läßt sich schwer ergründen, worin das Neue in Valéry liegt. Was er geben will, ist eine neue Art, die Welt zu sehen, und darüber hinaus will er die rein geistigen Gesetze Testes in wirkliches Leben, das heißt in Tat und Gesinnung Testes überführen. Man hat, besonders in der französischen Literatur, eine Menge solcher neuer geistiger Gestalten, die ein neues Denksystem exemplarisch von Anfang zu Ende leben. Diderot schuf »Rameaus Neffen«, der auf Goethe stark gewirkt hat und der in sich das Wesentliche der deutschen Romantik enthält, Voltaire schuf seinen genial konzipierten, aber nicht ganz so wurzelecht durchlebten, schon satirisch unterhöhlten »Candide«, Rousseau gab sich selbst in den grandiosen, individualistischen Autobiographien, in seinen weit umfassend menschlichen Werken, die »Bekenntnisse« und »Émile« heißen, und Balzac versuchte in »Louis Lambert«, die Ehe zwischen dem Geiste Swedenborgs und der schweren, trächtigen Erde seiner tourainischen Natur zu schließen, ein brüchiges Bündnis, das, hätte es mehr Dauer und mehr absolute innere Wahrheit gehabt, an sich den Namen Balzacs für alle Zeiten unsterblich gemacht hätte. Diesen Versuchen schließt sich um 1890 Valéry mit einer ganz kurzen Prosaarbeit: »Der Abend mit Herrn Teste« an. Es ist durchaus keine Novelle, ebensowenig ein philosophisches Lehrgebäude, das Erzählerische daran ist eine ziemlich gleichgültige Umkleidung für das Gesetz der Erhaltung einer geistigen Kraft im irdischen Leben. »Es scheint Herrn Teste gelungen zu sein, geistige Gesetze zu entwickeln«, sagt der Autor, »die wir nicht kennen ...« Gewiß, daß viele weitere Jahre dazu angelegt worden waren, seine Erfindungen auszureifen und daraus seine Instinkte zu machen. Finden ist nichts. Das Schwere ist, sich das Gefundene anzuverwandeln. Es handelt sich bei Herrn Teste um einen Geist, der sich, soweit menschliche Gedankenkraft imstande ist, freigemacht hat von Verlogenheit. Dieser hier lebt ein geistiges Leben aus erster Hand, kärglich manchmal, ohne Enthusiasmus, ohne Rausch, aber dafür mit dem letzten, eben noch erreichbaren Grad von Klarheit. Ein Mensch, der sein eigenes System wird, und dadurch beispielhaft für die Welt. Ein in seiner Art großer Gesetzgeber: erst einmal Gesetzgeber seines eigenen bewußten Daseins und in zweiter Linie Gesetzgeber für alle, die ihn sehen. So kommt er dem Urwesenhaften nahe. Will man die geistige Höhe, den Rang nennen, innerhalb dessen sich ein solches Dasein abspielt, muß man in der Geschichte des menschlichen Geistes weit zurückgehen. Möglicherweise hat der junge Nietzsche ähnliches versucht, denn von Nietzsche rührt das Wort »fröhliche Wissenschaft« her, und etwas von dieser Art findet man hier wieder. Mit dem Aufgebot des höchsten, des eisigsten Mutes, will hier einer den Blick den Dingen, Begriffen und vor allem den lebendigen Wesenheiten, dem »Urwesenhaften«, wie es Valéry nennt, zuwenden, und das Christentum aus den Augen lassen. Deshalb ist Herr Teste in viel höherem Grade antichristlich als etwa Nietzsches spätere Werke, die eben ohne den geistigen Rausch nicht sein können und die christlichen Trieben ihren Tribut zahlen bis zu völliger Willkür und Verwirrung.

Über die auf den ersten Blick fast unfaßbare Fülle von »fröhlicher«, männlicher, wahrhaft heroischer Wissenschaft kann ein kurzer Bericht kaum mehr als Andeutungen geben. Man muß dieses Werk kennenlernen. Es sind außer dem ursprünglichen Fragment von 1890 noch einige Aufsätze über denselben Gegenstand da, der Brief eines Freundes, und der Brief der Frau Emilie Teste. Hier hat diese neumythologische Figur schon soviel inneren Halt und Festigkeit gewonnen, daß sie Schatten wirft. Hier ist zum erstenmal und zum letztenmal in der neueren Literatur der Versuch gemacht, die Ausstrahlung Gottes oder einer höheren Einheit wiederzugeben von den Stufen des Altars her – ohne Christentum, Existenzberechtigung Gottes, Existenzberechtigung des Menschen, Existenzberechtigung der herrschenden ebenso wie der dienenden Seele, ohne daß ein »Opfer« dazwischensteht. Da sich aber unsere Ethik seit zweitausend Jahren von dem Widersinn des »Opfers« nicht freimachen kann, muß Valérys Sittenlehre eine andere sein. Sie heißt ebenso wie bei dem jungen Nietzsche Tapferkeit, Klugheit und Ordnungssinn, Freiheitssinn, ein offenes Herz für die Unmeßbarkeit und Unergründlichkeit der erkannten und der erkennenden Welt. Hier berührt sich Teste mit dem Leben, Wandeln und Lehren der chinesischen Weisen, ohne daß anzunehmen ist, daß er sie gekannt hat. Aber etwas von ihrem großen, die Welt leise und dennoch umfassend ergreifenden Seelensinn ist unverkennbar bei dem französischen Denker. Dieses Buch ist eines der wenigen Dokumente unserer Zeit. Mag seine äußere Auswirkung auch jetzt noch eng und unbedeutend sein, es ist geschaffen »mit der zarten Kunst der Dauer«, die Valéry an seinem Teste zu rühmen weiß.


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