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Der Rheinverlag in Basel, dem wir die deutsche Ausgabe von Joyces »Ulysses« verdanken, bringt eben einen großen, außerordentlich interessanten Roman eines jung verstorbenen Italieners – oder besser gesagt, italienisch schreibenden Altösterreichers, Italo Svevo, der als reicher, hochintelligenter Kaufmann in Triest gelebt hat und dessen Hauptwerk ebendieses Buch von annähernd siebenhundert Seiten darstellt. Ein Roman? Vielleicht ja, vielleicht nein. Der Umfang des Begriffes »Roman« ist ja so weit, daß sich alles mögliche darunter einreihen läßt, weshalb auch nicht diese erschütternde Beichte eines Verlorenen, dieser stenographisch getreu aufgezeichnete Lebenslauf eines »inneren Menschen«? Es gibt in der internationalen Literatur einige wenige Werke von solcher schmuckloser Echtheit, bei denen in jedem Wort das rohe Material des Daseins zu erkennen ist – eben deshalb erschütternd in einer Weise, die sonst nur den höchsten Kunstwerken zu eigen ist.
Ich denke an das Werk des ebenfalls jung verstorbenen Norwegers Hans Jäger, »Kranke Liebe«, das vor einigen Jahren durch den Verlag Kiepenheuer der deutschen Öffentlichkeit nahegebracht worden ist. Seitdem hat man dieses zwar außerordentlich quälende, aber auch außerordentlich wahre Buch, das mit dem Herzblut eines armen Mannes in leiderfüllten schlaflosen Nächten geschrieben sein muß, seitdem hat man dieses fast singulare Werk so völlig vergessen, daß bei einer kürzlich unternommenen Rundfrage nach zu Unrecht vergessenen Büchern und Dichtern dieser große, reiche, kranke Hans Jäger nicht ein einziges Mal genannt worden ist.
Solch ein Dokument einer »kranken Liebe« ist auch dieses Werk von Italo Svevo. Ein zerquältes, zermartertes Menschenantlitz; sein eigenster Feind im Spiegel gesehen; eine Vivisektion am eigenen Leibe, von einer Unbarmherzigkeit gegen sich selbst getrieben, wie sie nur ein großer Mensch mit noch größeren Ansprüchen an sich selbst zustande bringt. Was man so »Psychoanalyse« nennt, hat diesem Buch die Form gegeben. Mehr als das: die seelisch-geistige Voraussetzung dieser krankhaften Selbstzerfleischung, wie sie zum Wesen der Hysterie zu gehören scheint, ist eben das dauernde, bewußt oder unbewußt vergebliche Bestreben, besser zu werden, reiner zu sein als man ist, sich zu verändern, unaufhörlich den Stäub von seinen Füßen zu schütteln, und eben dieser »gesammelte Staub« von den Füßen oder wenn man will, die minutiöse chemische Untersuchung der eigenen seelisch-geistig-moralischen Exkremente ist es, was den Inhalt dieses Werkes ebenso wie den Inhalt des Buches von Hans Jäger ausmacht. Nichts ist einem solchen unseligen Helden und Feigling, Mörder und Ermordeten in einer Person, nichts ist ihm selbstverständlicher als der ewig wechselnde, aber in seinem Endeffekt leider unabwendbare Kampf eines Ich gegen das andere, alles gemessen an Tausenden von Proben, die nur dazu da sind, nicht bestanden zu werden. Die Anforderungen an sich selbst werden immer höher, je mehr das Ich versagt. Ein Ich schiebt die Schuld den andern in die Schuhe, die Abrechnungen, Bilanzen nehmen kein Ende, dauernd wird das eine Ich dem andern zur Begutachtung vorgelegt, und es kann doch nur eine Beschlechtachtung daraus resultieren. Der Augenblick an sich, das Gefühl, solange es noch im Herzblut dumpf raunend schwelgt und bebt – das alles ist nichts. Erst wenn alles den Prozeßgang einer ewig verurteilenden, aber nie freisprechenden Verantwortung passiert hat, wird es dem angeklagten Kläger interessant.
Ein psychologischer Vorgang von rührender Naivität, der so bestrickend ist in seiner Kindlichkeit, daß man auch seinen ewigen Wiederholungen gespannt folgt – denn schließlich ist es doch ein lebendes Herz, das hier geschlagen hat, die Furcht vor dem verantwortungslosen, stumm blühenden und dumm werdenden Leben ist echt. Man kommt zu der überraschenden Formulierung, daß die geistige Verirrung der Hysterie, die man früher als das Privileg des Weibes und mit unauslöschlicher Lüge behaftet ansah, nun im Lichte der neueren, durch Freud inaugurierten Psychologie als besondere Domäne des Mannes sich darstellt und sich durchaus nicht als Lüge, sondern als Wahrheitsdrang von so ungeheurer Intensität präsentiert, daß der von diesem Wahrheits- und Entlastungsdrange beseelte Mensch die Wahrheit in sein eigenes Inneres oder wie hier in ein siebenhundert Seiten starkes Romanbekenntnis hineinflüstert, um nur ja keine Geheimnisse vor sich zu haben. Es läßt sich leicht ermessen, daß Individuen dieser Art, weit davon entfernt, Kunstwerke schaffen zu können (auch dieses Buch ist keines), überhaupt kaum einen Weg zum Nebenmenschen finden können. Wozu brauchen sie einen andern, da sie die wichtigsten Funktionen des Nebenmenschen, die des Arztes, des Lehrers und des Richters, ebenso in ihrer eigenen Person vereinigt haben wie die des Patienten, des Schülers und des Angeklagten?
Verbindet sich eine solche Grundeinstellung und seelische Verfassung mit kristallisch vollendeter Sprache, mit starker Kraft zur Symbolbildung und Allegorie, wie dies der Fall war bei dem verstorbenen Franz Kafka, dann werden sich immerhin Kunstwerke von eigenartigem Reiz ergeben, denen dennoch eine Wirkung auf die Dauer versagt bleiben muß, denn lebende Menschen zu schaffen ist einem so auf sich selbst Versessenen nicht möglich, der eigentlich nur ein einziges Objekt seiner Porträtkunst kennt: sich. So ist auch in diesem Werk nur der Held interessant. Seine Gegenfiguren, der Freund, die Frau, die Geliebte, der Vater, alle bleiben Schemen, ohne eigenes Licht, sie hören auf zu existieren, sobald von ihnen nicht mehr die Rede ist, während der porträtierende Italo Svevo, identisch mit dem porträtierten Zeno Cosini (Freudsche Zahlensymbolik: beide Namen haben die Buchstabensumme zehn), ein nachhaltendes Interesse bei verwandten Naturen (und wer wäre ganz frei von solchen Strömungen, Zeitkrankheiten?) wachrufen kann. Der Stil des Buches ist von erstaunlicher Schärfe. Die Fülle des Erlebens, weil alles Selbsterleben ist und es keine Nichtigkeiten gibt, sondern nur tiefere Bedeutungen, die Fülle des innerlich Durchschrittenen und Durchlittenen ist erstaunlich. Naturschilderungen wird man nicht erwarten. Es sind diese 700 Seiten kaum anderes als tagebuchartige Berichte über das Ja- und Neinsagen, das in weitem und in engerem Kreise Irren und Sichfinden einer unglücklichen Menschenseele.
Im Vorwort, das ein Arzt signiert, der dies alles offen als psychoanalytische Beichte bezeichnet, stehen folgende Worte, deren bitterer Humor nur zu sehr das gequälte, in Frage gestellte Selbstgefühl des Autors verrät: »Ich bin der Arzt, der in den folgenden Blättern oft und in wenig schmeichelhaften Worten erwähnt wird. Jeder, der etwas von Psychoanalyse versteht, wird begreifen, woher die Antipathie kommt, die mir der schreibende Patient entgegenbringt.« Es ist eben das andere Ich, der immer nachfolgende, lauernde Schatten, der der Lichtquelle folgt; es ist der lebendige, der dem Toten über die Achsel sieht, den Toten um seine Ruhe beneidend und dennoch vor diesem Tode zurückschreckend. Selten ward diese Grundantithese klarer und schärfer, lebenswahrer und zugleich wirklichkeitsferner formuliert als in »diesem Wirrwarr von Dichtung und Wahrheit«, wie es der Autor selbst nennt, uns mit diabolischer Geste auffordernd, die Analyse noch einmal zu analysieren ...