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Die Literatur der Russen ist so unerschöpflich, daß sie uns scheinbar immer neue Überraschungen zu bieten hat. So lernen wir jetzt einen russischen Autor kennen, Nikolai Leskow, der, an internationaler Geltung gemessen, weder mit Tolstoi noch Dostojewski in eine Reihe zu stellen ist, der aber so außerordentlich stark die Eigenart seines Volkes vertritt, daß er, dreißig Jahre nach seinem Tode, eine auch für das heutige Rußland sehr bezeichnende Erscheinung darstellt. Dostojewski und Tolstoi haben sich in der Weltgeschichte ausgewirkt, Dostojewski hauptsächlich auf die gleichzeitig mit ihm lebende Generation, Tolstoi auf die spätere; ohne Tolstoi wäre der Bolschewismus nicht denkbar gewesen. Leskow aber gibt Rußland so, wie es im Grunde, im Boden ist, weder nach Osten noch nach Westen orientiert, das heißt, weder gegen das Paris der Westler ankämpfend noch das Byzanz des imperialistisch-dämonischen Dostojewski erträumend. Aber nicht um die politische Seite handelt es sich bei dieser neuen Ausgabe des alten russischen Dichters, obgleich ja in Rußland Politik nie ganz von der Literatur zu trennen ist, sondern um die rein künstlerische. Gerade in diesem Sinne ist uns das Werk Leskows in vielem eine Überraschung. Der Verlag legt uns drei Bände vor, offenbar nur einen kleinen Teil des Gesamtwerkes. Aber dieser Teil ist derartig stark und lebendig, daß man für diese Bereicherung unserer Kenntnisse über Rußland im höchsten Grade dankbar sein muß. Was ist nun das Charakteristische an diesem Dichter? Er kommt aus der Schule Gogols, das ist klar. Aber ist Gogol eine Schule? Gogol ist das Genie einer Landschaft, er spricht durch seine kleinrussischen Gestalten, durch seine Kosaken und Tataren, durch seine kleinadeligen Charaktertypen, aber er ist selbst ein Teil von ihnen, und obwohl er nie etwas Persönliches, Privates in seinen Werken darstellt, ist doch seine ganze Wesenheit – das unsterbliche Teil Gogols und das »Gogolhafte der Welt« – in ihnen enthalten. Dies trifft auch auf Leskow zu. Leskow hat es nie nötig, sich auf sein Volk zu besinnen, er muß nie zu seinem Volk zurückkehren, weil er sich nie ernstlich von ihm entfernt hat. Er geht nicht von den Bildungselementen seiner Rasse aus, sondern von seinen Märchen, Volkserzählungen, Legenden und Anekdoten.
Unter den neu übersetzten Werken sind es zwei Erzählungen, die mich besonders interessieren. Das eine ein groß angelegtes Fragment, der Roman »Die Klerisei« – aufgebaut auf dem Gegensatz zwischen der staatlichen Bürokratie und dem niederen Klerus. Leskow entscheidet sich für keine Partei, sein Herz gehört beiden oder vielmehr, sein Herz hängt an einer Figur, dem Propste einer kleinen Stadt, einem Menschen, in dem sich beide Parteien begegnen, der beide Teile viel zu gut versteht, um nicht zu leiden und zerbrochen zu werden.
Das unterirdisch Dramatische ist hier, wie bei Gogol, die eigentliche Kunstform. Jeder Dialog ist so von Leben erfüllt, daß man ihn ohne weiteres auf die Bühne übertragen könnte, es ist dabei nicht jene Explosionsdramatik, wie sie Dostojewski hat, sondern eine ruhige Entfaltung der Seelen im Gespräch und in der persönlichen Begegnung. So zeigt er eine Szene, die Begegnung seines Propstes mit einer alten Fürstin, einer Bojarin, Herrscherin von Stand und von Natur: »›Komm her und segne mich‹, sagte sie. Ich trat zu ihr heran und segnete sie. Sie faßte meine Hand, um sie zu küssen, was ich auf jede Weise zu verhindern suchte. ›Ich huldige nicht dir, sondern deinem Amte. Setze dich jetzt; wir wollen ein wenig miteinander bekannt werden.‹« Hier bei Leskow ist es einfach die Verbeugung eines Menschen vor einem anderen um seines Sinnes willen. Es ist das »Amt«, das in beiden Begegnenden wirksam ist, zu dem sie beide emporblicken. Irgendein Effekt, eine seelische Bühnenwirkung ist nicht beabsichtigt. Man vergleiche diese Szene mit der berühmten Begegnung Raskolnikows mit Sonja. Wenn aber Raskolnikow zu Sonja sagt: »Ich beuge mich nicht vor dir, sondern vor dem ganzen Leid der Menschheit«, so ist das nur eine Geste. Raskolnikow will auf Sonja wirken und auch auf sich selbst. Im Grunde müßte seine Verehrung Sonja allein gelten, die ja in Wirklichkeit genug zu tragen hat. – Auf dieselbe unauffällige, vornehme Weise werden bei Leskow alle Gegensätze dargestellt. Natürlich fehlt der Fanatismus an anderer Stelle. Leskows Werk ist Fragment, noch eine Verwandtschaft mehr mit Gogols »Toten Seelen«.
Aber wenn, wenigstens für manche Leser, der Genuß an Leskows »Klerisei« ein wenig Museumsgenuß ist, so steht ein anderes Werk vollkommen unangegriffen vom Rost der Zeit da. Eine vollendete, eine meisterhafte Geschichte: »Lady Macbeth aus dem Kreise Mzensk«.
Es ist die Geschichte einer Müllersfrau, die, ohne sich von der Menge abzuheben, ein ruhiges Leben führt, bis sie einen Mann kennenlernt, mit dem sie nur dann zusammen sein kann, wenn sie Menschenleben auf Menschenleben opfert. Sie ist eine Frau aus der Menge. Der geliebte Mann ist ein Nichts. Aber die Größe ihrer Empfindung ist nur zu vergleichen mit der Einfachheit ihres Ausdrucks. Hier versteht man das Verbrechen. Der abnorme Mensch ist an seinem abnormen Maß gemessen. Was er tut, ist selbstverständlich, sein Untergang ist elementar, deshalb fehlt ihm alles Quälende. Er ist vernichtenswert, will dies auch selbst, hat aber nichts moralisch Übelriechendes an sich. Keine Ähnlichkeit mit den Verbrechern bei Dostojewski. Diese Geschichte ist so herrlich wie am ersten Tage, sie gehört der Weltliteratur an. Damit ist nicht gesagt, daß sie allgemein bekannt ist. Es mag sogar viele Russen geben, die auf Leskow wie auf einen etwas verstaubten Turgenjew herabsehen. Meinem Gefühle nach ist diese Erzählung absolut gegenwärtig und aktuell. Sie kann im bolschewistischen Rußland ebensogut spielen wie in der russischen Vorzeit. Kein Wort zuwenig, kein Wort zuviel. Zum Schluß werden die Frau und ihr Geliebter deportiert. Man denkt an die Szene in Tolstois »Auferstehung« – die mit der lapidaren Erzählung Leskows nicht zu vergleichen ist. Es ist wie die Fotografie eines Vorgangs und der Vorgang selbst. So sehr erfüllt von ethischen Ideen dieser Leskow zeit seines Lebens war, so glaubt er doch nicht an die Bekehrung des Bösen durch das Leiden. Er hat den ganzen Kampf des Christentums bis zum letzten in seiner Kleinrussenseele durchgeführt, aber zuerst ist er wahr, dann erst ist er Christ. So ist denn diese Erzählung eher antik als realistisch. Die Heldin des Buches, Katerina Lwowna, steht zum Schlusse vor ihrer letzten Untat, der Ermordung einer Nebenbuhlerin, die auf der gleichen Fähre wie sie und ihr Geliebter einen Fluß auf der Fahrt in die Verbannung übersetzt. »Katerina Lwowna wollte ein Gebet sprechen und bewegte die Lippen, aber ihr Mund flüsterte nur: ›Wie vergnügt wir die langen Herbstnächte verbracht und Menschen von der lichten Erde zum finsteren Tod geleitet haben...‹« Dann der Schluß, als Katerina ihre Nebenbuhlerin ins Wasser geschleudert hat und ihr nachgesprungen ist: »Sonerka (die Nebenbuhlerin) war schon wieder untergegangen. Nach zwei Sekunden streckte sie, durch die Strömung schnell von der Fähre abgetrieben, abermals die Arme aus dem Wasser. Im gleichen Augenblick hob sich jedoch aus einer anderen Welle Katerina Lwowna fast bis an die Hüften aus dem Wasser empor, warf sich wie ein starker Hecht auf eine weichschuppige Plötze über Sonerka, und beide wurden nicht mehr gesehen.« Das ist Bild und Wirklichkeit zugleich. Seit Homer hat man nicht viele solche Schilderungen gelesen.