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Wir sind gewohnt, den Autor von »Fiesta« und »In einem andern Land« als einen Klassiker amerikanischer Prosa zu betrachten. Es steht vor uns ein Klassiker nicht von der Art antikisierender Poeten, sondern einer von den seltensten, der Hamsunschen Art: ein Mann, der in seinen wenig zahlreichen, wenig umfangreichen, wenig gefühlsseligen Werken den metallischen, ausgeglühten Selbstwert des Lebens bringt: die einzige, die wahre, die unzerstörbare Substanz des Lebens eines Menschen unserer Tage, die relativ ewige.
Sieht man das Bild dieses Dichters Hemingway, so ergreifen uns inmitten seiner vollen, ein wenig müden Züge die außerordentlich hellen, wachen, sichernden Augen: die Augen eines Jägers. Ein Mensch, der dem Fliehenden nachjagt, der es erreicht, es erfaßt, es besiegt. Nicht die tief in den Höhlen liegenden, ekstatischen Augen eines Dostojewski, welche halb die Augen eines fanatischen Heiligen, halb die eines gejagten, gehetzten Tieres sind.
Man kann die Welt auf tausenderlei Art erleben. Hemingway ist und bleibt der Mann unter Männern, ein skeptischer Menschenkenner, ein sicherer Schütze, dem Genuß nicht abgeneigt, aber auch im tiefsten Genuß nicht seine noch tiefere Verzweiflung verbergend. Ein Mann in der Einöde, leidenschaftlicher Jäger, unermüdlicher, leidenschaftsloser Forellenfänger, alle Gefühle kennend, aber von Gefühlen unbeschwert, weil seine Meisterschaft alles bis in den Widerspruch in der klassischen Form zu umfassen vermag, einmal im Roman, dem tagebuchartigen grandios-zynischen Selbstbekenntnis, das andere Mal »In unserer Zeit«, im »geschnittenen Combinat«, das heißt: in Novellen, geschnitten mit kurzen Anekdoten; abgeschlossene Erzählungen, geschnitten mit Fragmenten. Die Novellen, die abgeschlossenen Erzählungen: die erste heißt: Indianisches Lager. Nick (eine Figur, die in anderen Novellen, aber nicht in allen, wiederkehrt), Nick, ein Knabe, der die ganze Sache nun erzählt, und sein Vater, der Arzt, setzen sich ins Ruderboot, die Indianer stoßen ab, sie rudern ins indianische Lager, eine Indianerin ist sehr krank, es ist Nacht, sie folgen einem jungen Indianer, der eine Laterne trägt. In der Blockhütte gibt es viele Hunde und eine junge Indianerin, die in Geburtswehen liegt und operiert wird – das Kind lebt, und dann gibt es ihren Mann, der aber nicht den »stolzen Vater« spielt, sondern der am Mithören des Jammerns, am Mitansehen des Verblutens, am Mitleiden des Leidens stirbt. Ein Paroxismus des Zusammenlebens primitiver Herzen: Der Indianer ruht mit dem Gesicht zur Wand, unter einer Decke im Winkel vergraben, der Kopf ruht auf dem linken Arm, das offene Rasiermesser liegt mit der Schneide nach oben zwischen den Decken. Untergang eines Menschen durch die Magie der Liebe.
Paroxismen dieser Art, äußerste, fast unbegreifliche, nahezu magische Grenzfälle der menschlichen Seele, können heute nur in einer Darstellung ertragen werden, die mit knappster, keuschester, wahrhaftigster Schlichtheit, oder sagen wir besser, mit nordischer Verschweigung dargestellt werden. Ein Atom Sentimentalität, ein Gran Gefühlsduselei – und wir schütteln uns – schütteln uns unergriffen – vor Ekel.
Hier berührt sich in einem wahrhaft einmaligen Glück des künstlerischen Schaffens der primitivste Ausdruck mit der raffiniertesten, ausgegorensten Erfahrung des menschlichen Tuns und Lassens – und das ist es, was ich die Klassik des Hemingway – seine Hamsunsche Vollendung nennen möchte.
Die alte, die romantische Novelle hat ohne das große Schicksal nie auskommen können. Alles war Deutung und Bedeutung, und von Reportage war sie sehr weit entfernt. Hier bei Hemingway nähert sich die Magie der Verkettung dem nüchternen Bericht der Tatsachen, und oft vereinen sich beide. Auf engstem Raum, in wenigen Zeilen. Nicht in der unnatürlichen Kompression des Expressionismus. Eher etwa in der Art eines Daumier – oder eines Goya, und das bei Themen, die man einem Delacroix am ehesten zutrauen sollte. Daumier wie auch Goya hat das Monumentale der Anekdote (oft, nicht immer) erfaßt, aber im ganzen Expressionismus gab es nicht eine einzige Anekdote.
Der Mensch – des Menschen Herr und Knecht –, das ist es. Nichts von Göttern, nichts von Flüchen und Segnungen, nichts von blinden, blöden Schicksalen, die über den Menschen zusammenstürzen. Nichts von Katastrophe: Denn der Aufbau der Welt, ihr sinngemäßes Gefüge bleibt bei Hemingway und Hamsun auch sichtbar im Untergang. Nein, der Untergang spricht nicht gegen die Existenzfähigkeit der untergehenden Welt, im Gegenteil, daran, daß eine Welt zugrunde geht, beweist sie (manchmal, nicht immer), daß sie wahrhaft gelebt, daß sie geblüht hat. Deshalb keine Sentimentalität: Man ehre den Untergang durch schicksalstreuen Bericht – und darüber hinaus schweige man.
Es sind exemplarische Novellen, beispielhafte Lebens- und Sterbensläufe, diese moralischen Novellen, die letzten unserer Zeit, ebenso wie es die ersten des alten Cervantes waren. Es gibt Stellen in diesem Buche (das nicht für alle ist), die man mit entblößtem Haupt zu lesen hat, so vor allem die folgende kleine Anekdote, das Fragment Nr. V: »Man erschoß die sechs Kabinettminister morgens um halb sieben an der Mauer eines Lazarettes. Wasserpfützen waren im Hof. Nasse, tote Blätter lagen auf dem Pflaster des Hofes. Es regnete heftig. Alle Fensterläden des Lazarettes waren zugenagelt. Einer der Minister hatte Typhus. Zwei Soldaten trugen ihn hinunter und in den Regen hinaus. Sie versuchten ihn aufrecht gegen die Mauer zu halten, aber er setzte sich in eine Wasserpfütze. Die anderen fünf standen sehr ruhig an der Mauer. Schließlich sagte der Offizier den Soldaten, es hätte keinen Sinn, ihn zum Aufstehen zu bewegen. Als sie die erste Salve abfeuerten, saß er im Wasser mit dem Kopf auf den Knien.«
Größe und Grauen des Menschen.
Das war es, was den Dichtern im Verlaufe des Weltkrieges unüberwindlich zu Bewußtsein kam und was sie nicht ohne Schrei ertragen konnten – so entstand der Expressionismus. Nun haben sie gelernt, alles zu meistern. Hemingway ist einer dieser Meister.