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Der Verlag Paul Zsolnay legt uns, nachdem er uns das Werk John Galsworthys durch seine Vermittlung in mustergültiger Weise nahegebracht hat, nun den Anfang einer groß angelegten Romanserie vor. Wenn der Autor sein Werk die »Geschichte einer Familie« nennt, so hat er damit den Umfang seiner Aufgabe eben nur umrissen. Ausgefüllt hat er ihn nicht. Es sind zwar vier starke Bände, die uns vorliegen, wenn wir aber alles Wissenswerte von dem innern und äußern Leben dieser Familie Thibault erfahren sollten und dann auch noch das Notwendige über das Schicksal einer protestantischen Familie – die der katholischen Lebens- und Gedankenwelt der Thibaults kontrapunktisch entgegengesetzt wird –, so müßte sich ein Werk von zehnmal so großem Umfang ergeben. Angesichts der hohen erzählerischen Qualitäten wäre dem Autor die praktische Ausführung eines solchen Beginnens wohl zuzutrauen. In dem vorliegenden Werk bricht der Autor mitten in einer Episode ab. Weshalb sollte er aber nicht mit der gleichen Erzählerfreude einen neuen Band beginnen? Diese Erzählerfreude ist das hervorstechendste Zeichen der Begabung dieses bei uns noch unbekannten Franzosen. Er kann nicht nur erzählen, sondern er kann manchmal auch das geben, was hinter dem schlechthin Erzählbaren liegt, und manche seiner Figuren, zum Beispiel Jeromé, der Vater des jungen Daniel, wirken in uns noch nach, wenn der Dichter schon bei ganz neuen Figuren weilt. Denn er hat die Neigung, den Faden nicht bis ans Ende zu spinnen, sondern lieber neue Lebenskreise anzuschneiden, wobei er sich über den relativen Wert der einzelnen Partien, über die Tiefe und Echtheit seiner Charakterschilderungen keine großen Sorgen macht. Er ist ein unbekümmerter Dichter, scheut nicht vor mehr oder minder großen Anleihen zurück. Wenn man an Romain Rolland und »Jean Christophe« denkt, so ist dies eben nur einer der Väter dieses Romans; er hat deren viele, eigentlich alle, denn es sind die Spuren aller großen Epiker von d'Annunzio, Balzac, Flaubert bis zu Proust, Maupassant usw. unverkennbar. Dazu kommen noch russische Einflüsse; auch der alte englische Erziehungsroman mit Fielding spielt herein, und es wäre eine lohnende Aufgabe für einen Literaturhistoriker, aus dem Werk dieses jungen Autors sein unbestreitbares Eigentum zu isolieren. Von dem großen, noch unter uns weilenden, unsterblichen Weisen André Gide ganz zu schweigen, der seine Hände sehr mild und verehrungswürdig über dieser Familie Thibault hält. Alle diese Anleihen wären im Grunde ganz gleichgültig, wenn der Leser das Gefühl hätte, daß der Autor ihm etwas Neues zu sagen habe; man würde froh sein, die gute Tradition fortgesetzt zu sehen, wenn entweder aus der Synthese dieser alten Roman- und Dichterwelten eine neue Welt, ein noch unberührter Kontinent entstünde oder wenn das von großen Dichtern schon Vorgearbeitete hier bei dem neuen Mann du Gard mit einem besonderen Grad von Intensität nachgedichtet und lebendig gemacht würde. Aber es ist im Grunde betrübend, zu sehen, wie indifferent dieser junge Dichter mit dem alten Traditionsgut umgeht. Es rührt ihn nicht, es wandelt ihn nicht. Er übernimmt es und gibt es weiter. Sein Roman liest sich gut, die Sprache ist gepflegt, die Beobachtungen oft von großer Feinheit, viele Szenen von dramatischer Wucht. Es ist für seine Technik überhaupt bezeichnend, daß er aus dem epischen Fluß oft zu einer hochdramatischen Explosion kommt, »die nach dem Theater schreit«. So bringt er einmal die Szene, in der ein junges Mädchen, das an Meningitis erkrankt ist, gesundgebetet wird. Er zeigt den Jammer der Mutter, deren Gatte sie eben verlassen hat. Der einzige Sohn Daniel ist mit seinem Freunde Jacques durchgebrannt und unauffindbar. Die kleine Tochter liegt da, röchelnd, besinnungslos, schwer erkrankt. Schwer? Unrettbar. Dieses »unrettbar« wird dem Leser mit einer raffinierten Technik, die an das Boulevardtheater erinnert, suggestiv eingehämmert, damit später das Gesundbeten eine viel größere Wirkung explosivartig ausüben könne. Mag eine solche wunderbare, augenblickliche Heilung gerade bei einer Krankheit wie der Meningitis, die mit sehr lang dauernden, schweren Lähmungserscheinungen auch in den seltenen Fällen einer Heilung verknüpft ist, wissenschaftlich unwahrscheinlich sein, darüber würde man hinweggehen, wenn nicht – der Autor darüber hinwegginge. Ein so ungeheures Ereignis, das Ins-Leben-Zurückrufen eines »nach den Gesetzen der Wissenschaft« verlorenen Menschen, durch die reine Kraft der Seele – müßte das nicht eine ungeheure Wandlung im Leben dieser jungen Tochter, in dem Leben dieser armen Mutter, im Dasein dieses Sohnes und seines Vaters hervorrufen? Aber alles geht nach wie vor, dieses »nach wie vor« im wahrsten Sinne des Wortes gebraucht, seinen alten Gang. Diese Szene bleibt eine Episode, ein effektvolles, technisch meisterhaftes Kapitel. So kann es dem Autor nicht an Gelegenheiten fehlen, diese technische Meisterschaft immer wieder zu beweisen. Er bringt uns eine wundervolle Milieuszene, die seelische und landschaftliche Atmosphäre einer katholischen Besserungsanstalt, in welche der junge Jacques von seinem bigotten, heuchlerischen und doch warmherzigen (?) Vater gesteckt wird. Wie sich der seelische Druck in diesem toten Hause bis in die feinsten Gefäße fortpflanzt, das ist geradezu atembeklemmend geschildert, und doch ist es verlogen in seinen Voraussetzungen und nichtssagend in seinen Folgeerscheinungen. Es ist, als würde an dem Gehäuse einer komplizierten Uhr ein neuer kostbarer Edelsteinzierat dekorativ angebracht oder wieder fortgenommen. Den inneren Mechanismus, das einzig Wichtige, lernt man nicht kennen, das Gehäuse der Uhr wird eben nicht genügend geöffnet, und auf die nebensächliche Umhüllung wird dauernd solche Mühe verwandt, daß schließlich unser Interesse an dem Uhrwerk selbst vollkommen erlischt. Das Buch spannt, man gibt es nicht gern vor der letzten Zeile aus der Hand, und doch läßt die Figur dieses Jacques vollkommen kalt. Und nicht nur uns läßt sie kalt, sondern auch den Autor vermag diese Figur auf die Dauer weiter nicht zu fesseln. Er läßt sie auslaufen und bringt uns dafür das Schicksal des älteren Bruders dieses geistig vergewaltigten Jungen und dann, als auch das nicht ausreicht, das Schicksal seiner Geliebten Rahel, die sich ihm nach einer fabelhaft erzählten, aber innerlich vollkommen unbegründeten, die Komposition des Buches zersetzenden Detailschilderung einer chirurgischen Operation ergibt. Die Operationsszene ist mit solchem Glanz und solcher Unverfrorenheit hingesetzt, daß sie packt. Aber was soll Rahel? Die Episode muß geschlossen werden. So kehrt sie dann nach Afrika zurück, wo sie von einem Herrenmenschen erwartet wird, dem man seine Verwandtschaft mit Dumasschen Monte-Christo-Figuren (Peitsche, Flinte, Blut, Küsse) schon von weitem ansieht. Damit schließt das Werk. Das alles wird nie ohne einen ungeheuren Aufwand von guten Einzelbeobachtungen erzählt, aber diese Einzelbeobachtungen bleiben immer durch billige Psychologie, durch banale Weltanschauung aneinandergekettet.