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Rahel Sanzara, Das verlorene Kind

Es handelt sich um einen Roman, »Das verlorene Kind«. Es ist das einzige Dokument einer Begabung, die über das gewohnte Ausmaß des Fördernswerten weit hinausgeht. Man darf von diesem Werke mit der größten Nüchternheit sprechen, denn es ist so neu, so groß, daß es die klarste Tagesbeleuchtung erträgt, ohne zu verlieren. Ja, es wächst, je näher man ihm kommt, es wird tiefer, je öfter man es liest, es hat die Zeichen von Dauer, Echtheit, Wahrheit in sich. Es durchmißt die Kreise des Schauerlichsten, das es innerhalb der menschlichen Seele gibt, aber ebenso mühelos erhebt es sich zu den Bezirken menschlicher Größe, und wie es von der Hölle durch die Welt zum Himmel strebt, ist es ein Abbild des im guten wie im bösen gewaltig ausschweifenden menschlichen Wesenskernes. Kraft, Konsequenz, Hellsicht in der Gestaltung, damit ist es nicht getan. Dazu muß Weisheit kommen, Gnade der Erleuchtung und vor allem etwas mit Worten kaum zu Nennendes, sich auch im nüchternsten Tageslichte nicht ganz Entschleierndes, ein schicksalsmäßiges Glück von jener Art, die mit einer einzigen Nacht und einer einzigen Umarmung eine lange kinderlose Ehe mit Nachkommenschaft segnet. Warum diese Nacht? Warum gerade dieses Werk? Dieses schicksalsmäßige Glück heiligt hier wie dort alles Irdische. Das Gefühl »So muß es sein« wird versöhnt, es strahlt Ruhe aus mitten auf der Flucht, und der Glanz dieser Begegnung von Schicksal und Gnade wird hier wie dort so bald nicht vergehen.

Es enthält dieses Buch an Faßbarem vor allem die Geschichte eines vierzehnjährigen Mörders, Fritz Schütte, Sohn einer vergewaltigten Magd Emma, geboren und aufgewachsen auf dem Gute Treuen im nördlichen Deutschland. Ferner die Geschichte dieser Mutter des Mörders. Es enthält die Geschichte des Opfers, eines vierjährigen Kindes, Anna B., die Geschichte der Eltern, des Vaters Christian B., und die der Mutter. Für die Anekdote, die nackte Tatsache, liegt eine kurze Prozeßgeschichte aus dem neunten Bande des neuen Pitaval vor, demselben Bande, der auch den Bericht über Michael Kohlhaas bringt. In diesem Prozeßbericht wird nur des Mörders Erwähnung getan, nicht eigentlich der Tat, die kriminal-juristisch nie aufgeklärt wurde. Dieser Prozeßbericht ist mit der Urteilsfällung zu Ende, dort, wo das Buch der Sanzara eigentlich beginnt. Denn es geht der Dichterin offenbar nicht nur um die Ereignisse, nicht um die Verfolgung eines Schuldigen oder um die Rache des ruhigen und sittlichen Staates an einem verwirrten und unsittlichen Menschen, sondern es entstand eine Schöpfung, die viele Menschenleben mit ihren ganzen Wurzeln ergreift, die sie durchführt durch den Stamm bis an die Blüte, durch alle Jahreszeiten, alle Stille, alle Gewitter; aber selbst damit ist die Völligkeit dieser ineinandergewobenen Menschenseelenschöpfung nicht zu Ende. Die elementare Kraft, die psychologische Einsicht, die umfassende Liebe des Schaffenden dringt weiter zu den Urgründen des Daseins, wo dieses Dasein sich nicht mehr in Worten und Zuständen begrenzen läßt, sondern wo es zu gleicher Zeit etwas ist und etwas bedeutet. Man nennt dieses Zusammentreffen von Sein und Bedeutung mythisch. Viele solcher mythischen Stellen hat dieses Werk, und diese Stellen haben den Keim der Unsterblichkeit in sich wie diese Stellen bei Hamsun, diesem »Größten unter den Lebenden«, wie ihn ein anderer Großer genannt hat.

Da es sich bei dem »verlorenen Kinde« um eine solche Schöpfung handelt, wo kein einziger Faden vor dem Ende des Teppichs aus dem Gewebe fällt, kann man den Inhalt nicht kürzer fassen, als es die Dichterin selbst getan hat, man kann nur Stellen herausleuchten lassen mittels Überbelichtung, man kann Takte herausreißen, das Wesentliche dieses einzigartigen Buches aber wird nur das Buch selbst vermitteln können. Es ist jeder Strich mit der gleichen Liebe gesetzt, jede Einzelheit mit derselben untrüglichen Sicherheit, und daher mit der gleichen Überzeugungskraft herangeführt an die Seele des Lesers. Die Sanzara geht jeder winzigsten Erscheinung des Lebens nach, ob es atmosphärische Einzelheiten sind oder das Leben und Weben der Tiere, die praktischen Verrichtungen auf dem Bauerngute oder die offenen oder verdeckten Gesichtszüge eines Menschen, die Regungen in seinem Innern ... alles ist ebenso wichtig und wahr wie das Vorüberflattern einer Lerche an einem Zellenfenster, alles ist gleich endgültig, es wirkt nicht durch seine einzelmäßige Bedeutung, nicht durch sein moralisches Gewicht, sondern durch die Stelle, in die es innerhalb des zeitspinnenden Teppichgewebes eingewirkt ist. Wer so dem Leben nachgeht, kann dem Tode nahekommen, wer so das Sinnliche zu umreißen imstande ist, wird, wenn überhaupt jemand, auch das Übersinnliche zwingen. In den Gesprächen des Konfuzius heißt es: »Gi Lu über das Wesen des Dienstes der Geister. Der Meister (Konfuzius) sprach: ›Wenn man noch nicht die Menschen nennen kann, wie sollte man den Geistern dienen können?‹ Dsi Lu fuhr fort: ›Darf ich wagen, nach dem Wesen des Todes zu fragen?‹ Der Meister sprach: ›Wenn man noch nicht das Leben kennt, wie sollte man den Tod kennen?‹«

Aus der östlichen Ehrfurcht der Gesinnung erwächst die keusche zurückhaltende Art dieser Dichterin, ihr völliges Abgewendetsein von dem Hervortreten ihrer Persönlichkeit, ihr fast unbegreiflicher Mangel an Eitelkeit. Aber daher bei ihr die zwingende Kraft, die Treue und das Erreichen der höchsten, Menschen unserer Zeit zugänglichen Bezirke. In dem Kommentar zu Konfuzius heißt es nun zu dieser Stelle: »Unsere Aufgabe ist es, das Erforschliche zu erforschen und das Unerforschliche ruhig zu verehren.« Die Sanzara, die als eigentlichen Helden des Buches den Vater des ermordeten Kindes Anna, den Rittergutspächter Christian B., schildert, läßt diesen verlorenen Vater, nachdem er das Erforschliche des Verbrechens nach Menschenkräften erforscht, nachdem er den Spuren seines ermordeten Kindes bis in die verstecktesten Winkel Rußlands nachgegangen ist, zur Verehrung des Unerforschlichen kommen, zu einer übermenschlichen Güte, zu einem »gewaltigen, eisigen Glück« – »es öffnete sich seine Seele, in unirdischen Kreisen, in die sein Geist sich hob, glaubte er der Seele seines entschwundenen Kindes zu begegnen, und er fühlte sich bereit zum Letzten.« In dieser Verfassung des Geistes betritt er das protestantische Gotteshaus, und der Prediger wählt ihm als Spruch für die Predigt die Worte Moses, 2. Buch, 33. und 34. Kapitel:

»Moses sprach zum Herrn: So laß mich deine Herrlichkeit sehen! Der Herr sagte: Wem ich aber gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, des erbarme ich mich. Und sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Und sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann nun meine Herrlichkeit vorübergehet, will ich dich in der Felskluft lassen stehen, und meine Hand soll ob dir halten, bis ich vorübergehe. Und wenn ich meine Hand von dir tue, wirst du mir hintennach sehen. Aber mein Angesicht kann man nicht sehen.« – Dieser Raum auf dem Felsen ist der seelische Punkt, auf dem der Held dieses Buches steht. Von hier sieht er die Unerforschlichkeit Gottes, die Schauerlichkeit und grauenhafte Schrecklichkeit der Welt, wie nur ein Halbgott sie sieht. Hier in diesem Buche kommt das Faustische nicht zu dem Ziele, das Unzulängliche zu säkularisieren, sondern es gilt, die äußersten Möglichkeiten eines im innersten Lebenskern getroffenen Mannes zu bewähren in einem großen Heroismus, sich dem Angesichte Gottes, das heißt, der Erkenntnis der Welt wissend, wollend und wirkend so weit zu nähern, als es Menschenkraft überhaupt kann. Daher die ungeheure Logik in allem, was dieser Mann tut, darin ganz gleichwertig der ungeheuren Logik dessen, was er leidet. In seinem Herrlichsten wird dieser Mann durch den Verlust des bezaubernden kleinen Wesens getroffen. In dem weichsten, gütigsten Bezirk eines arbeits- und segensreichen Daseins wird er erschüttert durch das unfaßbar erschütternde lautlose Leiden und Sterben seiner Frau – und vor allem dadurch, daß sich nach dem Verschwinden des Kindes auch nicht ein Baumblatt in der großen unbarmherzigen Welt rührt. Nur bei dem ersten Morde, dem des Kain, hat die Erde gebebt und sich gegen die Blutstropfen gesträubt, bei den späteren nicht mehr. Nur vor dem ersten Morde spricht Gott zu dem Mörder: »Warum ergrimmst du? Und warum verstellet sich deine Gebärde? Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, bist du angenehm. Bist du aber nicht fromm, so ruhet die Sünde vor der Tür. Und nach dir hat sie Verlangen. Du aber herrsche über sie.« In dem Buche der Sanzara wird das vergossene Blut nicht an dem Mörder gerächt. Die schwerste und zugleich heiligste Last wird dem andern auferlegt, auf daß er sie beherrsche. Denn der Schicksalsgott erhebt ihn schon zu Lebzeiten zu einem übermenschlichen Dasein: »›Wie jetzt Gott hart zu mir war‹, sagt er, ›war ich auch hart zu Martha (der Frau) und den anderen Menschen. Und ich werde nie mehr, wenn es in meiner Macht steht, hart zu einem Menschen sein, und wäre es der Mörder meines Kindes. Das Leben hat sich mir verhüllt nach langer Klarheit; vielleicht wird mein Tod schön.‹ Er hatte jetzt das Licht angezündet, und die Schwester sah ihn an. Sein Gesicht hatte fast nichts Menschliches mehr. Umhangen von dem weißen, wirren, langen Haar, war die Stirn glatt und von einem Schimmer übergossen, der sich über die schweren Augenlider bis in die Furchen der Wangen senkte und erst von dem wirren Bart aufgefangen wurde, der den bitteren, festgeschlossenen Mund verhüllte. Während seine hohe Gestalt in der Ruhe und in den Bewegungen ihre zutiefst gebrochene Kraft nun verriet, erhob sich auf seinem Gesicht die Spannung und Verklärung einer bis zum letzten gesteigerten Kraft der Seele.«

Diese bis zum letzten gesteigerte Kraft der Seele bewährt sich in der Folge der fürchterlichen Ereignisse. Der Vater des ermordeten Kindes lebt weiter. Er vertritt Vaterstelle an dem Mörder. Er scheidet seine ihm gebliebenen Kinder von sich, um sie dem bösen Schicksal um ihn zu entziehen, und er nimmt, ein Zeichen einer grandiosen Lebensbejahung, den Mörder seines Kindes, nachdem dieser seine fünfzehn Jahre Zuchthaus »verbüßt« hat, zu sich und läßt ihn bis an dessen Ende bei sich, pflegt ihn in der letzten Krankheit und nimmt ihm den Todesschweiß von der Stirn, und – dieses ist das Große, dies ist das beispielhafte Leben für sich selbst – – er tut dies alles, ohne zu fragen, ohne »bessern« zu wollen, ohne sich selbst heilig zu sprechen. So »unbewegt ist dieses Herz, so fest in den Händen des Unerbittlichen«.

Diese Heldengeschichte eines waffenlosen Menschen spielt in einer einfachen Landschaft, deren holde und doch auch wieder gespenstische Konturen in der schärfsten Deutlichkeit vor uns stehen bei Tag und Nacht. Sekundenschnelle Ereignisse sind uns ebenso greifbar nahe wie das Rieseln der Jahre und Jahrzehnte. Mißernte, Verdorren und Verwesen ebenso zwingend wie Segensernte, Blühen, Werden. Hier hat außer Hamsun nur Adalbert Stifter Ähnliches geschaffen. »Drei Tage und Nächte hatte im November der Sturm geweht, die Bäume kahl gefegt, den Himmel mit Wolken überzogen. Nun war alles schon lange still, die Luft klar in der Kälte, und im rötlichen Schein der Wintersonne schwebte sie über den Feldern wie Schleier aus zartem Gold, umschmiegt von dem weichen dunklen Blau des Horizontes. In den Nächten des Neumonds überzogen Wolken den Himmel, und es schneite von neuem. Die vollkommene Ruhe über der Natur war Trauer und Fest, Leben und Tod zugleich. Es schwieg der Lärm des Lebens, des Wachsens, der Geburt, und es sprach die Stille des Todes, seine erlösende Verheißung in der Nacht...« Oder eine andere Stelle: »Christian fuhr langsam zurück nach Treuen, um ihn sank der Abend auf die Erde. Er erinnerte sich jener Fahrt im Winter mit Martha, seiner Braut. Damals war es kalt gewesen, die schneebedeckte Erde hell strahlend, der Himmel aber dunkel und verborgen, und das schwarze weit geöffnete Auge seiner Frau war wie Finsternis um seine Gestalt gewesen. Jetzt war es warm, die Luft noch durchhaucht von der Sonne des Tages, der nachtblaue Himmel groß, sichtbar, schimmernd wie Glas. Die Gestirne prunkten. Die Erde aber war dunkel, verschwiegen, trächtig in sommerlicher Fülle.«

Einmal heißt es von einem alten Mann, der aus Mitleid zur Erntezeit unter das Hofgesinde des Gutes aufgenommen wird: »Er setzte den mit Mühe zum Munde geführten Becher mit zitternden Händen wieder ab und sagte, die trüben kleinen Augen ins Leere gerichtet: ›Es kann nichts verschwinden von der Erde. Was da war, kommt wieder.‹« So wird denn auch ein Werk, das in solcher Kraft und Weisheit, Fülle und Klarheit die Welt erfaßt, wie sie ist und was sie bedeutet, nicht so bald wieder verschwinden von der Erde, und dieses Buch wird, was es mir gewesen ist, auch vielen andern sein, Beweis des großen Glühenden, Schönen und Schauerlichen und Eisigen in uns, und so wird es auch an künftige Geschlechter kommen.


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