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Vor allem sei eines früh gestorbenen, früh vollendeten Dichters gedacht: Raymond Radiguet. Er ist im Alter von zweiundzwanzig Jahren dahingegangen, nachdem er zwei meisterhafte Werke geschaffen, die Romane: »Das Fest« und »Den Teufel im Leib«, die eben von dem Verlag »Die Schmiede« in der Sammlung der Romane des zwanzigsten Jahrhunderts veröffentlicht werden. Es sind erstaunliche Arbeiten. Aber man erwarte nicht die Klaue des Löwen, nichts von der, man möchte sagen, zeugungswütenden, lebensstrotzenden Art eines jungen Rimbaud. Die Form ist gesänftigt, knabenhaft und lieblich, reich ohne Schlaffheit und wissend ohne Frühreife. Die Jugend aller Zeiten ist wissender, als man es später begreift. Es gibt große Werke und mächtige Taten auch auf anderem als auf künstlichem Gebiete, die von Jünglingen vollbracht sind. Mathematische Genietaten wie die des jungen Gauß sind nicht die einzigen. Humboldt spricht in seinem »Kosmos« von einem jungen Franzosen, Gascoigne: »Die Mikrometerausrichtung von feinen Fäden, im Brennpunkt des Fernrohrs ausgespannt, welche der Anwendung des letzteren erst ihren eigentlichen und unschätzbaren Wert gab, wurde von dem jungen, talentvollen Gascoigne entdeckt. Der unglückliche, lang verkannte Gascoigne fand, kaum dreiundzwanzig Jahre alt, den Tod in der Schlacht bei Marston Moor, die Cromwell den englischen Truppen lieferte. Ihm gehört, was der beobachtenden Astronomie, deren Hauptgegenstand es ist, Orte am Himmelsgewölbe zu bestimmen, einen vorher unerreichten Aufschwung gegeben hat.«
Solch ein vorher unerreichter Aufschwung wird den Werken des jungen Radiguet nicht beschieden sein. Nicht an der Begabung mangelt es ihm, sie ist stupend, nicht an dem Tiefblick in die Gründe und Abgründe menschlicher Handlungen fehlt es, denn dieser erweist sich, selbst im kargen Raum der zwei kleinen Romane, in der vollendet sicheren Führung der Handlung, in der Konsequenz des seelischen Warum, Deshalb. Was ihm fehlt, was die jung gestorbenen, fragmentarisch zerrissenen Genies Büchner und Rimbaud auszeichnet, ist die unbeherrschbare, grandiose Fülle der Lebenskraft, der fast tierhafte animalische Hauch, der die Schöpfungen dieser beiden umwittert und der sie gerade dadurch vor dem Vergehen, vor der Verwesung schützt. Dies hat Radiguet nicht. Seine zwei Romane wirken nicht über sich hinaus. Sie sind wohl meisterhaft, aber auch überreif, eng und beschränkt in dieser Meisterschaft.
Was Humboldt an dem jungen Gascoigne rühmt, die Verbindung zweier, bis dahin nicht in Verbindung gebrachter Welten, und zwar in Gestalt der optischen und astronomischen Instrumente (und Denkungsarten), das geht ihm völlig ab. Humboldt spricht von der Schärfe des Erkennens (Teleskop) und der Kraft des Messens (Mikrometer) als von zwei verschiedenen geistigen schaffenden Prinzipien. Das sind sie auch. In der Kunst heißt Erkennen: Schaffen. Messen heißt ordnen, und zwar nach zwei Seiten hin, nach innen ordnen in die Form, nach außen Einordnen in die soziale Gemeinschaft, in den Kreis der Mitmenschen, den Mikrokosmos der Mitwelt. Ein vollendetes, aber kaum mehr erreichbares Ideal nach dieser Richtung ist der »Don Quichotte«. Die Seele dieses Menschen Don Quichotte und damit ein Teil der Seele der gesamten Menschheit ist erkannt und auf immer gebannt. Das Werk ist innerlich geordnet in einer frühbarocken Form, geschlossen, wenn auch nicht frei von Schnörkeln, und nach außen hat es seiner Zeit, hat es der sozialen Ordnung seines Jahrhunderts Unendliches gegeben. Der nächste Versuch großen Stils, Goethes »Wilhelm Meister«, von dem Dichter in der ersten, rauhen Blüte seines Genius unternommen, versandete in der Breite eines nicht genug leidenschaftlich durchbluteten Weltbilds. »Wilhelm Meister« verbirgt sich in den späteren Teilen nicht ohne Grund (und Scham) in Geheimnissen und hinter blutleeren Deutungen. Goethe weiß es, er mußte es wissen, daß hier ein Grund Charakter menschlicher Gesamtexistenz angefaßt, aber nicht durchdrungen war. Halb lebte er, halb war er ein schönes Buch. Der Held der großen Korruption, der kosmischen Schöpfung aus bürgerlicher Grundsphäre ist nicht genug aus dem brütenden Mutterleibe entwachsen, wovon der ewig fragende, ewig unreife Wilhelm Meister die fragmentarischen Teile immer mit sich herumträgt als mystische Maske seiner selbst. Was nützt dann die herrliche, kaum je wieder zu erreichende Kunst des Messens? Wohl war hierin Goethe groß. Die Farbenlehre beweist es herrlich, ein Ruhmestitel des universalen Menschen überhaupt. Goethes eigenes Leben beweist es tragisch, denn der genial messende, mit den Maßen des Unendlichen, des Göttlichen Vertraute kann für sich »persönlich« nicht messen. Was ihm bleibt, ist (bei Goethe oft so quälend) die Liebe zum »reinlichen«, zum guten Leben, der behaglichen Existenz, das Kaltherzige gegen den Willen des eigentlichen, lodernden Herzens.
Von dem jungen Radiguet wissen wir nichts. Wir wissen nur das, was die beiden Romane von ihren Helden erzählen. Wir gehen vielleicht nicht fehl, wenn wir in ihnen jeweils den Dichter selbst sehen. Das erste Buch, »Das Fest«, enthält eine kleine Stelle, die ich hierher setzen möchte. »Er hatte die junge Perserin als Tischdame. Seine Freude machte ihn anziehend. Der Zufall oder vielmehr die Regeln der Konvenienz hatten den russischen Fürsten neben Frau D'Orgel – und François (den Helden) neben die kleine Witwe gesetzt ... François hätte sich keine angenehmere Tischdame als diese Prinzessin wünschen können, die das Alter zum Lachen hatte und schon soviel geweint hatte. Das Lachen traf Frau D'Orgel (die Heldin) ins Herz. Das Kind ist bezaubernd, dachte sie und sah François an ...« Sieht man es nicht vor sich, das junge, mit wissenden Augen die mondäne Welt umfassende Kind, das »das Alter zum Lachen hatte und schon soviel geweint hatte«? Ein kleines Gefühl im Rahmen einer großen Gesellschaft, ein echter ergriffener Herzschlag inmitten von unerbittlich höflichen Formen – es ist ein Stück Leben, wenn auch nur von weither widergespiegelt und blaß vor Stolz und Schüchternheit zugleich.
Tiefer geht das andere Werk, »Den Teufel im Leib«. Ein soldatischer Titel, aber kein soldatisches Werk. Hier fließt das Blut der Seelen. Kann sein, daß dieses Blut giftig geworden ist. Es ist traurig, blaß und heiß wie in der »Beichte eines Kindes um die Jahrhundertwende« des unsterblichen Jünglings Alfred de Musset. Es ist die gleiche Geschichte, der gleiche Charakter, halb Teufel, halb Engel und im ganzen nicht weit von dem Prototyp der Rasse entfernt, von dem der größte Kritiker aller Franzosen, Voltaire, sagt, es seien Affen, die Tiger spielen. Ein junger Mann hat eine jung verheiratete Frau, eine Frau im Orangenblütenduft, verführt, deren Mann im Felde steht. Aus Liebe, aus Begehren, aus Einsamkeit, aus Zärtlichkeit, aus Grausamkeit, aus Wollust, aus Keuschheit, aus Bosheit und aus einem Augenblick Liebe. Vieles ist zum Erschrecken wahr, handgreiflich echt, man schauert, als griffe man in entblößtes Fleisch. Und doch, trotz allem, gültig ist es nicht. Meisterhaft, aber nicht zwingend.
Der Inhalt ist einfach, französisch klar: Liebe, Begegnung und Abschied. Die Geliebte stirbt an ihrem ersten Kind. Hier der Schluß des Romans: »Ich wollte den Mann sehen«, schreibt der Held, »dem Martha ihre Hand gereicht hatte. Mit angehaltenem Atem ging ich auf den Fußspitzen zur halb offenen Tür. Ich konnte gerade noch hören: ›Meine Frau ist gestorben mit seinem Namen auf den Lippen. Armes Kind! Das ist mein einziger Grund, am Leben zu bleiben.‹ Als ich diesen würdigen Witwer sah, der seine Verzweiflung beherrschte, erkannte ich, daß sich die Ordnung auf die Dauer von selbst um die Dinge legt. Hatte ich nicht gerade erfahren, daß Martha mit meinem Namen auf den Lippen gestorben sei und mein Sohn ein vernünftiges Leben haben würde?«
Man denke an den Schluß der »Madame Bovary«, oder besser, man lese jene unsterblichen Seiten nach. Die Jüngeren werden Flauberts grandiose, kosmische Menschlichkeit nicht wieder erreichen. Auch sie streben, das Geheimnis der Sterne erkennend und messend zu ergründen. Auch der junge, geniale Radiguet schuf mit dem Besten, dem Reinsten seiner Seele, aber noch während des Suchens erlosch er, ein armer, vergänglicher Stern, dessen Ort am Himmelsgewölbe nicht bleibt.