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John Dos Passos, Manhattan Transfer

Ich habe in einem meiner Aufsätze an dieser Stelle auf den Unfug hingewiesen, der meiner Ansicht nach darin liegt, daß Autoren von Rang (wenn auch noch nicht von klassischer Bedeutung) Werke von jungen Dichtern als »literarische Ereignisse ersten Ranges« abstempeln, womit die adelnde, schwere Gebärde dieses geistigen Ritterschlages zu der Harmlosigkeit eines gutmütig auf die Schulterklopfens herabsinkt. Nun findet sich in der ausgezeichneten Vorrede, die der bekannte Entdecker des Babbittismus, Sinclair Lewis, dem neuen Roman von John Dos Passos »Manhattan Transfer« voranschickt, genau derselbe Ausdruck. Lewis sagt unter anderem: »Ich frage mich, ob ›Manhattan Transfer‹ nicht wirklich ein Roman von allererster Bedeutung sein könnte... Er könnte der Grundstein einer ganzen, neuen Romanschule sein... Um die Sache noch deutlicher zu machen, ich halte ›Manhattan Transfer‹ in jeder Hinsicht für bedeutender als sämtliche Werke von Gertrude Stein oder Marcel Proust und sogar als den Großen Weißen Eber, Mr. Joyces ›Ulysses‹ ... Der Unterschied ist, Passos weiß zu fesseln ... aber vor allem, das Buch ist interessant!« Sonderbarerweise beantwortet Lewis, seinem gütigen Enthusiasmus zum Trotz, niemals präzis die Frage, ob »Manhattan Transfer« ein literarisches Ereignis allerersten Ranges, um schon bei diesem Klischee zu bleiben, darstellt oder nicht. Diese Frage ist ja auch nicht von dem Kritiker, als dem ersten Leser a priori, zu lösen. Denn um ein Ereignis ersten Ranges zu werden, bedarf es nicht nur einer säkularen geistigen Bedeutung, sondern auch einer aufnahmebereiten Masse, eines glücklichen Sternes, unter dem nicht nur das Werk, sondern in viel höherem Grade noch die Wirkung des Buches stehen muß. Bei den ersterwähnten, den von deutschen Enthusiasten gepriesenen Werken muß ich, so sehr die Werke selbst fördernswert und liebenswert sind, beides verneinen, sowohl die Bedeutung der geistigen Tat als auch die Existenz des Schattens, den sie werfen und der Erneuerung, die von ihnen ausgehen würde und ausgehen müßte. Denn literarische Ereignisse erster Ordnung sind heute, 1927, so selten, daß sie, wenn sie auch nicht den Augenblickserfolg eines Charles Lindbergh oder eines Dempsey erwarten dürfen, doch einen sehr weitreichenden Schatten werfen und sich im internationalen Geistesleben früher oder später auch als belebende und im stillen spontan weiterwirkende Elemente beweisen müßten. Bei »Manhattan Transfer« ist die Beantwortung nicht so einfach. Daß es sich um ein nicht alltägliches Werk handelt, steht fest. Es ist originell in der Erfindung; diese besteht darin, auf eine große Erfindung, auf einen grandiosen Grundeinfall zu verzichten und statt dessen tausend (aber in der wahrsten Bedeutung des Wortes tausend) Einzeleinfälle zu bieten. Kein Held, sondern zahllose einander begegnende und einander fliehende Menschenköpfe und Menschenherzen, naturgetreue, breite Dialoge, oft ergreifend wahre Gesprächs- und Seelenfetzen, und endlich Bruchstücke einer liebevollen großen Schilderung einer großen Stadt. Es ist Manhattan, ein Teil der Metropole Amerikas, die als Insel im Meer liegt und durch die Fähre, Transfer genannt, mit dem Festlande verbunden ist. Nicht Meer, nicht Ebene, sondern das zwischen beiden Wirkende, Verbindende, Hin-und-Her-Schwingende. In der deskriptiven Anatomie der Schilderung lyristische Überschriften, die an die verblaßte und dennoch ergreifende Prosa großer Lyriker erinnern (ich denke an Rimbauds Prosa, an die Georg Trakls, auch an die fabelhaften Prosaskizzen des der Kunst leider so jung entrissenen Johannes R. Becher, dem wir ähnliche, dem innersten Herzen entrissene Zeilen verdanken, in seinem ersten Buche »Verfall und Triumph«).

»Schwelgende Stadt, die sorgenlos thronte«, solche kurzen Rhapsodien stehen vor den Kapiteln des John Passos; in den Kapiteln aber flimmert ein mit großer Sicherheit und unendlichem Fleiß aufgenommener sprechender Film, der mit einer ganz besonders bewunderungswürdigen Technik »geschnitten«, das heißt kompositorisch gegeneinander und durcheinander geordnet ist. Es finden sich in dem Werke wahrhaft geniale Einfälle dieser Art. Zum Beispiel, daß die Idee eines jungen Mädchens, sich ein Kind »nehmen zu lassen« nicht als sentimentaler Plan oder als nüchterne Rechnung durchgeführt wird, sondern in höchster Wirklichkeit, mit allen Mitteln einer naturalistischen Erzählungskunst, die absolut gefangennimmt. Einfach die schmucklose und eben durchaus lebensechte Szene, die mit den Worten nach der Operation endigt:

»Auto!«

»Jawohl, Gnädige.«

»Fahren Sie zum Ritz!«

Nach dieser Szene des Möglichen, nachher die wahre Szene, die das Kind am Leben läßt. Diese aber nicht etwa unmittelbar darauffolgend, sondern irgendwohin in den schnell rollenden Filmstreifen hineingestellt, hineingeschnitten; und diesem Film kann man, darin hat Lewis recht, nicht mehr entrinnen. Hier ist also die Stärke der Nichtkomposition. Hier zeigt sich, ich möchte sagen, das Atonale dieser neuen Art. Nach dieser Richtung, die an sich keine großen Steigerungen in der Tonstärke, im Ergreifenden, Erschütternden, Überwirklichen erlaubt, ist er schlechthin klassisch. Passos hat den literarischen Film, das rollende Band des Romans, wenn nicht erfunden, so doch als erster praktisch zur Durchführung gebracht, und schon deshalb wird er wie Ford seine Kreise ziehen – wie weit, läßt sich heute noch nicht sagen. In einem anderen Punkte – wie ich glaube, im entscheidenden – hat aber Lewis unrecht, und damit ist auch das Werk um seine säkulare Bedeutung gekommen. Lewis sagt: »In ›Manhattan Transfer‹ bringt Mr. Dos Passos eine Sache fertig, die, wie wir alle häufig genug bewiesen haben, unmöglich sein sollte: Er gibt das Panorama, das Wesen, den Geruch, die Klangfarbe, die Seele von New York. Es ist ein langes Buch, zweifellos an die 200000 Worte, aber jeder andere Erzähler hätte eine Million Worte zu Hilfe nehmen müssen, um all die Personen und Stimmungen darzustellen, die hier in erschöpfender Weise dargestellt sind.«

Es hieße New York sehr unterschätzen, wenn man glaubte, daß die Anzahl der Worte bestimmend wäre für die Intensität der künstlerischen Schilderung dieser Stadt und vor allem für die Extensität einer solchen Darstellung. Schon die erschöpfende, das heißt alles einschließende Art der Lebensdarstellung eines ganz bestimmten kleinen Kreises von Menschen, einer Familie zum Beispiel oder einer kleinen Clique, wie es Balzac oder später Zola versucht haben, kommt sehr bald in den Sumpf des Chaotischen. Um dies Versinken im Bodenlosen zu verhindern, sucht dann Balzac Hilfe bei der Wissenschaft und behauptet, seine »Comédie humaine« sei Naturgeschichte wie ein Werk von Lamarck, aber was bleibt, ist typisch bestenfalls für Balzac, niemals für den Vormärz. Balzac war und ist immer mehr eine europäische als eine zeitgeschichtliche Erscheinung gewesen. Flaubert aber, der von der Einzelbeobachtung, von der Mikroskopie der menschlichen Seele und von der »Landmesser-Aufnahme« der Landschaft ausging, ist viel eher ein bleibender Schilderer des Bleibenden, er ist im gleichen Maße kulturgeschichtlich echt, wie er als Einzelgenie bewundernswert ist trotz aller scheinbaren Beschränkung und Provinzialität. Hier bei Passos ist es vor allem die erdrückende Masse, die es macht. Tausende von Einzelschicksalen, gewiß; und es stecken Menschen dahinter, alles hat eine gewisse kleine Wahrheit. Aber Lewis, der glaubt, Passos hätte einfach die »langweiligen Überschriften« ausgelassen, ist hier von einem naiven Irrtum befangen. Es gibt (und gerade der Schöpfer des Babbitt müßte es wissen) ungeheure Komplexe von für Amerika im höchsten Grade charakteristischen Dingen, die in dem Werk Dos Passos' auch nicht mit einer Silbe erwähnt werden. Vor allem sind es immer nur kleine Menschen, die gegen mittlere Menschen gestellt werden, nie die Masse gegen den einzelnen, nie der Amerikanismus gegen den Eingewanderten, niemals der Babbitt gegen den Geist. Niemals Tatsachen gegen Menschen, niemals Maschinen gegen Menschen, niemals die Wissenschaft, nirgends die Technik. Keine Fabrik. Kein Anarchist. Keine große Erfindung. Keine Spur Rockefeller, christian science, Edison, Ford. Wie kann man da von fünfundzwanzig Jahren des Wachstums und des Verfalls der ganzen gewaltigen Stadt reden? Nirgends ein Wort von Politik, nirgends eines von der Börse, nirgends etwas von einem Bauplan, von den zwei Epochen, der Gasepoche (1900) und der elektrischen Epoche (1925), die einander gefolgt sind und die nicht nur das äußere Antlitz der Stadt, sondern auch das innere Antlitz des Menschen beeinflußt haben. Was ich am »Zauberberg« als einzigen, aber entscheidenden und alles vernichtenden Fehler gesehen habe, daß die durchgehende Grundfigur Hans Castorp das Objekt einer gewaltigen Handlung und Entwicklung, nicht aber das Subjekt derselben sein könnte, das trifft auch auf dieses gigantisch geplante Werk »Manhattan Transfer« zu. »Zwei Hauptpersonen sind in dem Buch«, sagt Lewis. Ein Journalist und eine Schauspielerin. Vom Journalistischen aus ließe sich eine Weltstadt wie New York 1900 bis 1925, wenn man den nötigen Mut und das seelische Format dazu hätte, schon in Kontur umreißen. Möglich wäre es, wenn ich auch fürchte, daß dann von den Stimmungen und seelischen Augenblicksfilmen des Journalisten wenig übrigbliebe. Aber das ist hier gar nicht versucht, trotz der Zeitungszitate, die ab und zu eingestreut sind. Und was eine Schauspielerin von der Welt sieht und was New York in einer Schauspielerin sieht, das ist, auch wenn es sich um den größten Star und den kleinsten Cliquenkreis handelt, ein unmeßbares Sandkorn im Gesamtbild einer Stadt von vier Millionen. Was bleibt also? Ein ewiges Hin und Her der Fähre, ein Kreisen um das ewig Private. Möglicherweise ist die Methode Dos Passos' (und die des Joyce) eine Möglichkeit vorwärtszukommen, um Dinge in die Erzählung einzubeziehen, die man bis jetzt nicht hat erfassen können. Als Gesamtwerk scheint mir aber »Manhattan Transfer« nur den Wert eines ausgezeichneten, fabelhaft geschriebenen und von der ersten bis zur letzten Zeile fesselnden Romans zu haben. Ich finde, daß dies auch genügt.


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