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In alter Zeit lebte ein König namens Saldschal, der eine sehr häßliche Tochter hatte. Ihre Haut war rauh und hart wie die des Tigers und ihr Haupthaar glich einer Pferdemähne. Der König war darüber mißvergnügt und ließ sie im Innern des Palastes erziehen, vor aller Augen verborgen. Als sie erwachsen war und man an ihre Verheiratung denken konnte, sagte der König zu seinem Minister: Suche und bringe mir einen armen umherschweifenden Edelmann. Der Minister suchte und fand einen solchen Edelmann; der König führte ihn an einen einsamen Ort und sprach zu Ihm: ich habe eine abschreckend häßliche Tochter; willst du sie zum Weibe, da sie doch die Tochter eines Königs ist? Der Jüngling kniete nieder und antwortete: Ich gehorche meinem Herrn. Da wurden die beiden zusammengetan, der König schenkte ihnen ein Haus, verschloß es mit siebenfachen Türen und sagte zu seinem Eidam: Wenn du das Haus verlässest, so sperre zu und nimm die Schlüssel mit. Darnach handelte der Jüngling.
Eines Tages nun wurde er nebst andern vornehmen Männern zu einem Feste geladen. Während nun alle übrigen Gäste in Begleitung ihrer Frauen erschienen, kam der Eidam des Königs allein. Hierüber verwunderten sich die Leute. Entweder, sprachen sie zueinander, ist das Weib dieses Mannes so schön und reizend, daß er sie aus Eifersucht versteckt, oder sie ist so häßlich, daß er sich fürchtet, sie den Menschen zu zeigen. Um diesen Zweifel zu lösen, beschlossen sie in das Haus des Mannes zu dringen. Sie machten ihn betrunken, entwendeten ihm die Schlüssel, und als er besinnungslos dalag, begaben sie sich auf den Weg.
Unterdessen hatte die Frau, gefangen und einsam in ihrem Hause, schmerzliche Gedanken. Welcher Sünde mag ich wohl schuldig sein, fragte sie sich, daß mein Gatte mich verabscheut und mich an einem Ort verkümmern läßt, wo ich weder Sonne noch Mond sehe? Und sie dachte weiter: Der Siegreich-Vollendete ist in der Welt gegenwärtig; er ist der Hort und Erlöser aller an Qual und Trübsal Leidenden; ich will mich aus der Ferne verbeugen vor dem Siegreich-Vollendeten. Gedenke meiner in Barmherzigkeit, sprach sie, erscheine sichtbar vor mir und zeige dich womöglich einen Augenblick. Der Siegreich-Vollendete, welcher wußte, daß die Gedanken der Königstochter rein waren und von innigster Hochachtung beseelt, erhob sich in ihr Haus und zeigte ihr sein lasurfarbenes Haupt. Als nun die Königstochter das lasurfarbene Haupt des Siegreich-Vollendeten erblickte, ward sie von außerordentlicher Freude erfüllt, und ihr Sinn wurde völlig geläutert. Und in der Läuterung geschah es, daß ihr Haupthaar sanft wurde und die Lasurfarbe annahm. Sodann zeigte der Siegreich-Vollendete sein Antlitz ganz und unverhüllt; da wuchs die Freude der Königstochter so, daß ihr eignes Gesicht schön und reizend wurde und jede Spur von Häßlichkeit und Rauheit verschwand. Als aber der Siegreich-Vollendete seinen in Goldtönen majestätisch strahlenden Körper zeigte, wurde durch das gläubige Entzücken, das die Königstochter darüber empfand, ihr Körper zu göttlicher Vollkommenheit umgestaltet, daß nichts in der Welt mit ihr verglichen werden konnte. In seiner ganzen Herrlichkeit trat der Siegreich-Vollendete vor sie hin; ihre freudige Zuversicht wurde aufs höchste gesteigert, und ihr Inneres wurde wie die Seele der Engel.
Da kamen die Männer, die sie sehen wollten, öffneten die Türen, gingen hinein und erblickten ein Wunder von Schönheit. Sie sprachen einer zum andern: Weil sein Weib so schön ist, hat er sie nicht mitgebracht. Sie kehrten zum Fest zurück, befestigten den Schlüssel wieder am Gurt des Mannes, und als dieser aus seinem Rausch erwacht war und nach Hause kam und seine Frau erblickte als eine unvergleichliche Seltenheit unter den Menschen, fragte er staunend: Du warst ja so häßlich, wie bist du nun so schön und reizend geworden? Sie antwortete: Nachdem ich den Siegreich-Vollendeten gesehen, bin ich so geworden; geh und berichte meinem Vater alles. Der Mann ging hin und berichtete alles dem König, aber der entgegnete: Sprich mir nicht von solchen Dingen. Eile nach Haus und schließe sie so fest ein, daß sie nicht heraus kann. Der Eidam sagte: Sie ist wie eine Göttin. Hierauf sprach der König: Verhält es sich in Wahrheit so, dann führe sie zu mir. Und er empfing, staunend, die Liebliche im Innern seines Palastes; dann begab er sich an den Ort, wo der Siegreich-Vollendete seinen Sitz hatte, verbeugte sich vor ihm und betete ihn an.
Ende
1915 – 1918