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Die Gräfin Brainitz fuhr mit ihrer Gesellschafterin, dem Fräulein Stöhr, in der Welt herum.
Sie war bei einer uralten Fürstin Neukirch in Berchtesgaden zu Gast, langweilte sich dort und ging nach Venedig, Ravenna und Florenz. Mit dem Baedeker und dem Cicerone ausgerüstet, besah sie sich die Galerien, die Kirchen, die Basiliken, die Palazzi, die Grabmäler, die Monumente und setzte das Fräulein Stöhr durch ihre Unermüdlichkeit in Verzweiflung.
Sie zankte mit den Gondolieri um das Fahrgeld, mit den Kellnern um das Trinkgeld, mit den Geschäftsleuten um die Preise der Waren. Jede Münze hielt sie für falsch und berührte aus Angst vor Schmutz und Ansteckung keine Türklinke, keinen Stuhl, keine Zeitung und keines Menschen Hand. Sie wusch sich ununterbrochen, kreischte ununterbrochen und erregte durch ihren Appetit Aufsehen an der Table d'hote.
Mit Groll im Herzen schied sie aus dem Land der Wunder und des kleinen Betrugs. Sie besuchte ihre Neffen in Berlin, die Brüder Stojenthin, die sich hochentzückt zeigten, sie zu sehen und bei Austern und Champagner eine Anleihe von tausend Mark bei ihr machten. Dann fuhr sie zu ihren Schwestern Hilde Stojenthin und Else von Febronius nach Stargard.
Sie amüsierte sich über die Damen von Stargard, von denen ihr jede einen Hofknicks schuldig zu sein glaubte. Bei den Kaffeekränzchen thronte sie in der Mitte eines Kanapees, welches einen getüpfelten Kattunbezug hatte. Da erzählte sie der andächtig lauschenden Runde Geschichten aus der großen Welt. Sie waren manchmal so gewagt, daß die Amtsrichterswitwe ihre gräfliche Schwester warnend in den Arm zwickte.
Frau von Febronius kränkelte seit Beginn des Winters. Durch eine unvorsichtige Schlittenfahrt zog sie sich eine Brustfellentzündung zu, die alsbald eine Wendung zum Schlimmen nahm. Die Gräfin, welche Krankheiten nicht nur für sich fürchtete, sondern auch an andern haßte, wurde unruhig und sprach von Abreise.
»Als mein seliger Mann sein Ende kommen sah, schickte er mich nach Mentone,« sagte sie zu Fräulein Stöhr; »so dumm und verständnislos er sonst war, nicht dümmer und verständnisloser übrigens als alle Männer, in diesem Punkt zeigte er ein lobenswertes Zartgefühl. Ich bin nun einmal nicht für den Anblick von Leiden geschaffen. Das Karitative liegt mir nicht.«
Fräulein Stöhr machte ihre geistlichen Augen, mit Blick nach oben. Sie kannte ihre Gebieterin zur Genüge, um zu wissen, daß die Geschichte von dem sterbenden Grafen und der Verschickung nach Mentone ein Erzeugnis der Einbildungskraft war. Sie sagte: »Der Mensch sollte sich beizeiten an den Todesgedanken gewöhnen, Frau Gräfin.«
Die Gräfin erwiderte entrüstet: »Liebe Stöhr, sparen Sie sich die Brahminenweisheit für Zeiten der Not. Geistliche Tröstungen sind nicht mein Fall. Ihre Aufgabe ist es nicht, mir Wahrheiten zu predigen, sondern mich angenehm zu täuschen.«
Eines Abends verlangte Frau von Febronius nach der Gräfin. Die Gräfin ging zu ihr, in Hut und Schleier, mit dicken Wollhandschuhen, angstbleich. Seufzend setzte sie sich an das Bett der Schwester und maß die Entfernung daraufhin ab, daß sie außer dem Atembereich der Kranken blieb.
Frau von Febronius lächelte nachsichtig. Die Krankheit hatte die Sorgenfurchen und die Alltagstraurigkeit aus ihren Zügen gewischt, und in den weißen Kissen ähnelte sie auffallend ihrer Tochter Lätizia. »Verzeih die Belästigung, Marion, aber ich muß mit dir reden,« begann sie; »ich habe etwas auf dem Herzen, es beschwert mich, und ich muß es einem Menschen anvertrauen, damit es einer weiß, der mich kennt, und es nicht mit mir ins Grab geht.«
»Ich beschwöre dich, Elschen, mein gutes, armes Kind, sprich nicht von Grab und solchen Sachen,« rief die Gräfin weinerlich; »da schmeckt mir eine Woche lang kein Bissen mehr. Folge mir, wirf die Arzneiflaschen aus dem Fenster, und jag die Quacksalber zum Teufel, so bist du übermorgen gesund. Ich flehe dich an, laß auch das Beichten sein; es ist ja gräßlich, woran einen das erinnert.«
Frau von Febronius fuhr fort. »Es nützt nichts, Marion, es muß heraus. Ich wende mich an dich, weil du Lätizia soviel Liebe erwiesen hast und weil Hilde, so verständig und treu sie ist, mich doch nicht recht begreifen würde. Sie denkt zu bürgerlich dazu.«
Nun erzählte sie flüsternd die Geschichte von Lätizias Geburt. Wie ihr Mann durch ein frühes Leiden der Hoffnung auf Nachkommenschaft beraubt worden; wie er sich trotzdem nach einem Sohn, einem Kind überhaupt gesehnt, und wie dieser Wunsch schließlich alle Bedenken verscheucht, alle andern Empfindungen dermaßen zurückgedrängt habe, daß ein Fremder, für den er Sympathie gefaßt, von ihm erwählt wurde, das Geschlecht fortzupflanzen. Wie er sie, die Frau, die er mehr als alles geliebt, hiezu überredet und sie nach langem Kampfe endlich in das unerhört Sonderbare gewilligt; wie aber, als das Kind dagewesen, eine wachsende Melancholie sich des Mannes bemächtigt habe und zu einem unheilbaren Übel geworden sei, unter dessen Gewalt er sein Haus, sein Vermögen, sich selbst zugrunde gerichtet. Von dem Glück, das ihm sein Wahn vorgemalt, habe er nichts verspürt; im Gegenteil, er habe Lätizia stets eine verächtliche Abneigung fühlen lassen und sei ihr aus dem Weg gegangen, wo er es gekonnt.
»Mich wundert das gar nicht,« bemerke die Gräfin; »du warst ungewöhnlich naiv, Liebchen, wenn es dich gewundert hat. Kuckuckskind ist Kuckuckskind; aus welche Manier es ins Nest kommt, spielt keine Rolle. Immerhin, es ist eine märchenhafte Begebenheit, und ich sehe, daß ich dich unterschätzt habe und daß dus hinter den Ohren hast. Und wer ist der Vater des Kindes? Wer hat meinen süßen Engel in die Welt gesetzt? Der Mann ist unter allen Umständen zu loben.«
Frau von Febronius nannte den Namen. Da schrie die Gräfin auf und fuhr von ihrem Sitz empor wie gestochen. »Crammon? Bernhard von Crammon?« Sie schlug die Hände zusammen. »Ist das wahr? Träumst du nicht? Überleg dirs, Liebchen; du fieberst. Ach ja, du delirierst. Trink einen Schluck Wasser, tu mir den Gefallen, und dann denk einmal genau nach und rede keinen Unsinn mehr.«
Erstaunt sah Frau von Febronius die Schwester an. »Kennst du ihn denn?« fragte sie.
»Ja, ich kenne ihn,« antwortete die Gräfin erbittert, »ich kenne ihn. Und sag mir das eine: weiß er es, dieser . . . dieser Mensch? Hat er es immer gewußt?«
»Er weiß es. Er hat Lätizia vor zwei Jahren in Klein-Deussen gesehen, seitdem weiß er es. Aber du tust ja, als sei er der Gottseibeiuns, Marion. Hast du Zank mit ihm gehabt, oder was war sonst? Wie du nur alles übertreibst!«
Die Gräfin ging erregt hin und her. »Er weiß es, das Scheusal,« murmelte sie; »er hat es gewußt, der Bösewicht. Und solche Verstellung! Solche Heuchelei! Warte nur, Scheusal, das werd ich dir eintränken; warte nur, Bösewicht, ich werde dich zu finden wissen!« Sich an die Schwester kehrend, sagte sie laut: »Entschuldige, Elschen, aber das Temperament ist wieder einmal mit mir durchgegangen. Du hast recht, der Name hat einen verjährten Zorn in mir wachgerüttelt. Ich koche, ich kann nichts andres sagen als: ich koche. Gewiß war der Mann in seiner Jugend ein Ehrenmann und Kavalier, da du dich in so verwegene Dinge mit ihm eingelassen hast. Was er heute ist, will ich nicht näher untersuchen. Verschwiegen ist er noch immer, darüber kannst du beruhigt sein; es gibt aber eine Grenze für die Verschwiegenheit, behaupte ich, und wo die überschritten wird, schütteln die honetten Leute den Kopf, und die Tugend sieht aus wie Niedertracht. Voilà.«
»Was du da vorbringst, ist mir rätselhaft,« antwortete Frau von Febronius müde, »und ich habe auch keine Lust, es zu ergründen. Ich wollte dir ein Geheimnis mitteilen, das mich bedrückt hat. Bewahre es bei dir, und mache nur dann Gebrauch davon, wenn du durch seine Eröffnung ein Unglück verhüten oder Lätizia einen Dienst erweisen kannst. Zwar seh ich nicht, wie es dazu kommen soll, aber der Gedanke tröstet mich, daß außer mir und jenem Mann noch ein Mensch um das Geschehene weiß.«
Die Gräfin schaute ihre kranke Schwester sinnend an. »Dein Leben war eigentlich gar nicht lustig, Elschen,« sagte sie.
»Nein; lustig war es gerade nicht,« antwortete Frau von Febronius.
In den nächsten Tagen erholte sich Frau von Febronius ein wenig. Dann trat ein Rückfall ein, der keine Hoffnung mehr ließ. Mitte März starb sie.
Zu dieser Zeit hatte die Gräfin schon längst das Weite gesucht. Ihr Tun und Treiben war planlos und vielfältig wie je, aber ihre stets gehegte Lieblingsvorstellung war: Crammon zu treffen, mit dem neuen Wissen ihm gegenüberzutreten, Rache an ihm zu üben, ihn herauszufordern und niederzuschmettern, kurz, über ihn zu triumphieren. Bisweilen, wenn sie allein war oder auch im Beisein von Fräulein Stöhr, die sich darüber erstaunt zeigte, furchte sich plötzlich die kindliche Stirn der Gräfin, ihre kleinen Fäuste ballten sich, ihr glattgescheuertes Gesicht wurde krebsrot, und ihre Vergißmeinnichtaugen blitzten kampfdurstig.
Es war drei Uhr nachts, als Felix Imhof eine Gesellschaft in der Leopoldstraße verließ, wo hoch gespielt worden war. Er hatte einige tausend Mark gewonnen, und in seiner Manteltasche klirrten Goldstücke, die er achtlos hineingeschüttet hatte.
Er hatte auch viel getrunken; sein Kopf war schwer, bei den ersten Schritten in der frischen Luft taumelte er.
Heimzugehen hatte er trotzdem noch keine Lust; so trat er in ein Kaffeehaus, in welchem Künstler verkehrten. Er erwartete noch einige Leute zu finden, mit denen er schwatzen und streiten konnte. Der gelebte Tag war ihm noch nicht voll genug; es sollte noch mehr Leben hinein.
In dem verräucherten Lokal saßen nur zwei Menschen, der Maler Weikhardt, der vor kurzem aus Paris zurückgekehrt war, und ein andrer Maler, der ziemlich verlumpt aussah und trübsinnig auf die Tischplatte stierte.
Felix Imhof setzte sich zu ihnen, bestellte Kognak, schenkte den beiden ein, vermochte jedoch zu seinem Ärger kein Gespräch in Gang zu bringen. Er erhob sich und forderte Weikhardt auf, ihn zu begleiten. »Na, Sie oller Farbenreiber,« wandte er sich verächtlich-jovial an den Verlumpten, »bei Ihnen scheint der Spiritus ausgebrannt zu sein.«
Der Angeredete rührte sich nicht. Weikhardt zuckte die Achseln und sagte leise: »Nichts zu beißen, kein Bett zum Schlafen.«
Felix Imhof griff in die Manteltasche und warf ein paar Goldstücke auf den Tisch. Der Maler blickte empor, dann raffte er die Goldstücke zusammen. »Hundertsechzig Mark,« sagte er gelassen; »wird am Ersten zurückgezahlt.«
Imhof lachte dröhnend.
»Er glaubt daran,« bemerkte Weikhardt gutmütig, als sie auf die Straße traten; »wenn er nicht felsenfest daran glaubte, hätte er das Geld nicht genommen. Es sind noch elf Tage bis zum Ersten; eine Menge Platz für Illusionen.«
»Mag sein, daß er daran glaubt,« erwiderte Imhof mit seinem trunkenen Lachen, »mag sein. Er glaubt ja auch, daß er existiert, und ist doch bloß ein trauriger Kadaver. Ihr Maler, o ihr Maler!« rief er tobend in die stille Nacht, »ihr spürt ja nicht das Leben. Malt mir doch das Leben, ihr Maler. Ihr hockt noch am Spinnrocken statt am gewaltigen Schwungrad mit sechzehntausend Pferdekräften. Malt mir doch meine Zeit! meine ungeheure Daseinswollust! Riecht, schmeckt, greift, schaut den Koloß! Laßt mich den großen Rhythmus fühlen, gestaltet mir meine grandiosen Träume, bestätigt mich, bejaht mich, schafft mir Leben!«
Weikhardt sagte lakonisch: »Dergleichen hab ich oft gehört zwischen Mitternacht und Morgengrauen. Wenn der Hahn kräht, gibt man sich wieder zufrieden, und jeder Gaul zieht den Karren, vor den er gespannt wird.«
Imhof blieb stehen, legte Weikhardt etwas theatralisch die Hand auf die Schulter und sah ihn mit seinen pechschwarzen, blutunterlaufenen Augen starr an. »Ich mache eine Bestellung bei Ihnen, Weikhardt,« sagte er. »Sie haben Talent; Sie sind der einzige hier, der von der Palette los kann. Porträtieren Sie mich. Es mag kosten, was es will, zwanzigtausend, fünfzigtausend, ganz gleich. Es mag dauern, solange es will, zwei Monate oder zwei Jahre. Aber mich müssen Sie mir zeigen, mich, mich. Abstrahieren Sie von dieser Geiernase, von dieser Habsburgerlippe, von diesen Gorillaarmen und Spinnenbeinen, von diesem Frack und diesem Chapeau claque und geben Sie die Idee davon. Ich pfeife auf meine zufällige Visage, die aussieht, als ob ein boshafter Töpfermeister dran herumgepfuscht hätte. Geben Sie meinen Ehrgeiz, meine Unruhe, meine innere Farbigkeit, mein Tempo, meinen Hunger, meine Zeithaftigkeit. Aber beeilen Sie sich. Ich verbrenne schnell. In ein paar Jahren bin ich hin. Meine Seele ist wie Zunder. Photographieren Sie diesen Prozeß mit dem göttlichen Objektiv der Kunst, und ich bezahle Sie mediceisch. Aber ich muß die Flamme sehen, den Aufstieg, den Untergang, die Zuckungen, alles will ich sehen, und wenn darüber die ganze Tradition seit Raffael und Rubens in Fetzen ginge.«
»Sie sind ein kühner Mann,« sagte Weikhardt trocken; »haben Sie Geduld mit uns und mäßigen Sie die Bewunderung für das Jahrhundert. Ich lasse mich nicht von der Zeit übertölpeln. Die ehrfürchtigen Schauder vor der Geschwindigkeit und vor der Maschine kenn ich nicht, von denen viele unsrer jungen Leute jetzt befallen sind wie von einer neuartigen Epilepsie. Ich empfinde nun einmal keine Andacht vor Siebenmeilenstiefeln, Zügen, Dreadnoughts und aufgebauschten Impressionen; ich suche mir meine Götter woanders; und Ihr Maler, scheint mir, bin ich nicht. Sie waren wieder unterwegs, waren verreist?«
»Ich bin immer unterwegs,« versetzte Felix Imhof. »Eigentlich doll, so ein Leben. Hören Sie, wie ich die letzten fünf Tage verbracht habe. Montag abends fuhr ich nach Leipzig. Früh neun Uhr Verhandlung mit einigen Schriftstellern wegen Gründung einer neuen Revue. Prachtvolle Kerle, lauter Frondeure und Jakobiner. Dann Besichtigung einer Majolikenausstellung. Schöne Dinge gekauft. Mittags nach Hamburg; im Coupe zwei Romane und ein Drama in Handschrift gelesen; junges Genie, wird riesiges Aufsehen machen. Abends Sitzung der Ostafrikanischen Gesellschaft, bis spät in die Nacht gekneipt, zwei Stunden geschlafen, dann nach Oldenburg zu einem alten Herrenfest der Offiziere meines ehemaligen Regiments; viel geredet, getrunken, getanzt, wenn auch ohne Damen. Sechs Uhr morgens nach Quackenbruck, schäbiges Land und Moorstädtchen, wo kleines Offiziersrennen gelaufen wurde. Ich wurde um einen Kopf geschlagen. Im zweiräderigen Jagdwagen zur Bahn; am andern Morgen Berlin; Geschäfte im Auswärtigen Amt erledigt, Agenten empfangen, in der Klinik einer merkwürdigen Operation beigewohnt, nach Johannisthal, wo ein neuer Flugapparat probiert wurde, abends im Deutschen Theater bei einer fabelhaften Aufführung von Peer Gynt; die Nacht mit den Schauspielern durchgezecht; am Morgen nach Dresden, Konferenz mit zwei amerikanischen Freunden, und heute wieder hier. Die nächste Woche wird nicht viel anders sein, die übernächste auch nicht. Ich sollte mehr schlafen. Das ist das einzige.« Er fuchtelte mit seinem dicken Bambusrohr in der Luft herum.
»Es kann einem angst und bang werden,« sagte Weikhardt, dessen Phlegma augenscheinlicher wurde, da es sich im Gegensatz zur Exaltation seines Begleiters gefiel; »und Ihre Frau? Was sagt die zu Ihrem Leben? Jemand hat sie mir neulich gezeigt; sie sieht nicht so aus, als ließe sie sich ohne weiteres an die Mauer drücken.«
Imhof blieb wieder stehen. Mit gespreizten Beinen stand er da, bog den Oberleib nach vorn, stützte sich auf den Stock und lachte. »Meine Frau!« rief er, »wie das klingt! Ich habe also eine Frau. Ehrenwort, lieber Freund, wenn Sie mich nicht daran erinnert hätten, ich hätt es rein vergessen diese Nacht. Nicht als obs an ihr läge, gewiß nicht. Judith Imhof, geborene Wahnschaffe, alle Achtung. Aber es liegt, weiß der Deibel, worans liegt . . . na, an dieser gottverfluchten Hetzjagd vielleicht. Sie haben recht, an die Mauer drücken, nee, das gibts nicht bei ihr. Die schafft sich Raum, so –« er beschrieb mit dem Stock einen weiten Kreis – »und da drinnen residiert sie, kühl bis in die Fingerspitzen, gespannt wie ein Drahtseil. Eine großartige Natur; energisch; mit einem starken Sinn für das Dekorative. Respekt, mein Lieber.«
Weikhardt wußte hierauf nichts zu sagen. Die Mischung von Prahlerei und Ironie, von Zynismus und Rausch entwaffnete und ermüdete ihn. Sie waren an einer Seitengasse angelangt, die gegen den Englischen Garten führte und in der das Häuschen stand, das der Maler bewohnte. Er wollte sich verabschieden, da fragte Imhof, der noch immer nicht allein sein mochte: »Haben Sie was auf der Staffelei?«
Weikhardt zögerte mit der Antwort; dies genügte, um Imhof zum Mitgehen zu veranlassen. Der Himmel wurde weiß.
Felix Imhof rezitierte leise vor sich hin: »Wo am letztem Rastort Reiter / Und geschmückter Züge Leiter / Spähen nach erreichten Zinnen: / Stillen Wanderer ihr Dürsten / Bieten Wasserträgerinnen / Ihm den Krug und grüßen heiter / Niemand kennt den frühern Fürsten.«
Weikhardt, der Imhof in der Kenntnis und Liebe des Dichters Stephan George nichts nachgab, fuhr im selben zärtlichen Tonfall fort: »Lachend dankbar. Kein Erbittern / Ist in ihm, doch flieht er weiter / Scheu, weil Seine Hoheit bricht. / Jede Nähe macht ihn zittern, / Und er fürchtet fast das Licht.«
Sie betraten das Atelier; Weikhardt zündete die Lampe an und ließ ihren Schein auf ein nicht ganz vollendetes Bild fallen. Es war eine Kreuzabnahme.
»Altmodisch, was?« fragte Weikhardt mit schlauem Lächeln. Er war blaß geworden.
Imhof schaute. So wie er, Liebhaber im innersten Grund, verstand keiner sonst zu schauen. Die Maler wußten es.
Das Gemälde, an die Visionskraft und den Pinsel Grecos gemahnend, war bizarr im Aufbau, inbrünstig in der Bewegung und von ekstatischer Leidenschaft erfüllt; die Formensprache eines alten Meisters, in der es sich ausdrückte, war nur Schein. Es hatte etwas Hingeschleudertes und Brennendes. Die Figuren, ohne Veraltetes und Phrase, sahen aus wie Wolken, die Wolken wie Architektur, Dinge waren kaum noch da. Ein Chaos, das zu Sinn und Ordnung erst in der gesammelten Empfindung des Beschauers gedieh.
Felix Imhof schlang die Hände ineinander und murmelte: »So etwas können, großer Gott, so etwas können!«
Weikhardt senkte den Kopf. Er legte diesem Wort geringe Bedeutung bei. Vor ein paar Tagen war er einmal vor der Leinwand gestanden und hatte sich eingebildet, neben ihm stehe ein Bauer; ein alter Bauer oder sonst ein Mann aus dem Volk. Und es hatte ihm möglich geschienen, daß dieser Bauer, dieser einfache Mensch, der nichts von Kunst verstand, niederkniete, um zu beten. Nicht etwa aus Frömmigkeit, sondern weil er von der Sache selbst bis zur Bestürzung überwältigt wurde.
Beinahe schroff wandte sich Imhof an den Maler und sagte: »Das Bild gehört mir. Unter allen Umständen. Es ist mein Bild. Ich muß es haben. Gute Nacht.« Mit seinem schiefsitzenden Zylinder und dem übernächtigen, verwüsteten Gesicht war er eine Gestalt zum Erschrecken.
Endlich ging er nach Hause.
Am andern Tag meldete ihm Crammon seine Ankunft. Crammon war gekommen, weil Edgar Lorm ein Gastspiel in München gab.
Christian dachte darüber nach, wie er Amadeus Voß zu Geld verhelfen sollte, ohne ihn zu demütigen. Da es nun beschlossene Sache war, daß sie zusammen reisten, mußte Voß eine Ausstattung haben. Er besaß nichts, als was er auf dem Leibe trug.
Amadeus Voß begriff. Die soziale Kluft gähnte zwischen ihnen; beide schauten ratlos hinein, der eine hüben, der andre drüben.
Voß verhöhnte im stillen die Schwäche des andern, liebte ihn zugleich für seine edle Scham; liebte ihn mit seinem knechtischen, abgewandten, zertretenen, von Jugend auf beleidigten Gefühl; schauderte bei der Aussicht, mit leeren Händen und enttäuschten Hoffnungen wieder im Försterhaus sitzen, an lockenden Bildern verbluten zu sollen.. Was wird er tun? Wie wird er die Schwierigkeit überwinden? grübelte er und beobachtete Christian mit Haß.
Die Zeit drängte.
Am letzten Nachmittag sagte Christian: »Ich langweile mich, wir wollen ein Spiel machen.« Er nahm aus einer Schublade ein Paket französischer Karten.
»Ich habe in meinem Leben keine Karte in der Hand gehabt,« antwortete Voß.
»Schadet nichts,« meinte Christian, »Sie müssen nur die Farben unterscheiden, Rot und Schwarz. Ich halte die Bank. Setzen Sie auf eine Farbe. Wenn Sie auf Rot gesetzt haben und ich schlage Rot auf, so haben Sie gewonnen. Wieviel wollen Sie setzen? Machen wir den Anfang mit einem Taler.«
»Gut, hier ist ein Taler,« sagte Voß und legte das Geldstück auf den Tisch. Christian mischte und zog ab. Voß gewann.
»Setzen Sie die zwei Taler,« gebot Christian; »Neulinge haben Glück.«
Voß gewann auch die zwei Taler. Er setzte weiter, ein paarmal verlor er, aber schließlich hatte er dreißig Taler gewonnen.
»Übernehmen Sie jetzt die Bank,« schlug Christian vor und freute sich heimlich, daß seine List den gewünschten Verlauf nahm.
Er setzte zehn Taler und verlor. Er setzte fünfzehn, dann zwanzig, dann dreißig und verlor. Er setzte hundert Mark, zweihundert, fünfhundert, immer höher und verlor. Vossens Wangen röteten sich hektisch, wurden kreideweiß; seine Hände bebten, seine Zähne klapperten. Es packte ihn die Angst vor einem Wechsel des Glücks, aber er war nicht fähig zu sprechen und um Einhalt zu bitten. Die Scheine häuften sich vor ihm; nach einer halben Stunde hatte er über viertausend Mark gewonnen.
Christian hatte die Karten vorher markiert, in einer Art, die von einem Unerfahrenen nicht bemerkt werden konnte. Er wußte immer genau, welche Farbe Voß aufschlagen würde, aber das Sonderbare war, daß er bisweilen vergaß, nach dem Zeichen zu sehen und daß dann Voß trotzdem gewann.
Christian erhob sich. »Wir haben Eile,« sagte er, »Sie müssen sich für die Reise versorgen, Amadeus.«
Voß war betäubt von dem Umschwung, den sein Leben in wenigen Minuten erfahren. Glomm in seinem Innern ein Funken von Argwohn, so kehrte er den Sinn ab, um sich in maßlose Träume zu stürzen.
Das Auto brachte sie nach Wiesbaden, und Voß kaufte unter Christians Beistand Kleider, Wäsche, Mäntel, Stiefel, Hüte, Handschuhe, Schlipse, Toilettenartikel und Koffer. Er staunte und war stumm.
Um zehn Uhr abends saßen sie im Schlafwagen. »Wer bin ich nun?« fragte Amadeus Voß. »Was stell ich vor?« Er sah sich mit einem neugierigen und heftigen Blick um und strich die gelben Haare aus der Stirn. »Geben Sie mir ein Amt und einen Titel, Christian Wahnschaffe, damit ich weiß, wer ich bin.«
Christian maß den Erregten mit ruhigen Augen. »Warum sollen Sie heute ein andrer sein als gestern?« entgegnete er verwundert.
Eva Sorel zog durch die Länder: ein Komet mit glänzendem Schweif.
Ihr Tag war von Menschen bevölkert. Die allseitigen Forderungen zu gewähren oder nur zu prüfen, verlangte die Geschmeidigkeit eines erfahrenen Praktikers. Hierin leistete Monsieur Chinard, der Impresario, Dankenswertes. Nur Susanne Rappard behandelte ihn mit Unlust. Sie nannte ihn einen Figaro pris à la retraite.
Außer ihm stand ein Reisemarschall und ein Sekretär im Sold der Tänzerin.
Mehrere ihrer Anbeter folgten ihr seit Monaten von Stadt zu Stadt. Fürst Wiguniewski; Mr. Bradshaw, ein Amerikaner in mittleren Jahren; der Marquis Vicenti Tavera von der spanischen Botschaft in Petersburg; Herr Distelberg, ein jüdischer Fabrikant aus Wien; Botho von Thüngen, ein Hannoveraner, blutjung, Student im dritten Semester.
Diese wie auch andre, die sich gelegentlich einfanden, vernachlässigen ihren Beruf, ihre Freunde, ihre Familie. Sie brauchten die Luft, in der Eva atmete, um selber atmen zu können. Sie hatten die Geduld von Bittstellern und den Optimismus von Kindern. Sie neideten einander ihre Vorzüge, ihr Wissen, ihre witzigen Einfälle. Jeder vermerkte es mit Schadenfreude, wenn sich der Rivale eine Blöße gab. Sie warben mit Eifer um die Gunst Susannes und machten ihr kostbare Geschenke, damit sie ihnen berichten sollte, was die Herrin gesprochen und getan, wie sie geschlafen, in welcher Laune sie aufgewacht und wann sie empfangen würde.
Seit Graf Maidanoff in Evas Lebenskreis getreten war, hatte sich Niedergeschlagenheit ihrer aller bemächtigt. Sie wußten, wie jeder es wußte, wer sich hinter dem Pseudonym verbarg. Gegen den Gewaltigen und Gefürchteten konnte keiner hoffen zu bestehen.
Eva tröstete sie lächelnd. Sie wogen nichts in ihren Augen. »Wie geht es meinen Kammerherren?« erkundigte sie sich bei Susanne; »was treiben meine Zeitvertreiber?«
Sie war aber nicht mehr ganz so leicht im Gemüt wie vordem.
Es war in Trouville gewesen, wo sie den Grafen Maidanoff kennenlernte. Als sie ihm auf der Strandpromenade vorgestellt wurde, stand ein weitgebogener Kreis von mondänen Zuschauern regungslos. Behutsames Murmeln mischte sich mit dem Rauschen des Meeres.
Sie kam nach Hause und packte Susanne bei den Schultern.
»Laß mich nicht wieder fortgehen,« sprach sie hauchend und blaß, »ich mag nicht mehr in diese Augen schauen, ich will dem Manne nicht mehr begegnen.«
Susanne erschöpfte sich in Versprechungen, ohne noch zu wissen, wem das Entsetzen galt. »Elle est un peu folle,« sagte sie zu Monsieur Labourdemont, dem Sekretär, »mais ce grain de folie est le meilleur de l'art.«
Am andern Tag stattete Graf Maidanoff seinen Besuch ab und mußte empfangen werden.
Die konventionelle Huldigung, auf die er durch seine Geburt Anspruch hatte, erwiderte er mit einer persönlichen, die aufrichtig war.
Seine Sprache war breit und schwer; er schien die Worte zu verachten, deren er sich mit einiger Anstrengung bediente. Manchmal hielt er mitten in einem Satz inne und runzelte die Stirn, belästigt. Zwischen seinen Brauen befanden sich zwei senkrechte Einkerbungen, die das Gesicht dauernd verfinsterten. Sein Lächeln begann mit einem Fletschen der Lippen und endete in dem dürren, farblosen Bart wie eine Muskellähmung.
Er steuerte auf ein vorgesetztes Ziel ohne Umschweife los. Gewöhnlich war es das Amt seiner Kreaturen, solche Beziehungen einzuleiten; in diesem besonderen Fall wollte er dem Gegenstand seiner Wünsche, indem er selbst warb, einen Beweis von Gnade geben.
Die anfängliche Beklommenheit der Tänzerin hatte ihm behagt; die Furcht war das Sympathische an den Menschen; aber Evas aufschlußlose Kälte bei seinen höflichen Vorschlägen beirrte ihn. Er spähte leer, schien gelangweilt und bat um die Erlaubnis, eine Zigarette anzünden zu dürfen.
Er sprach von Paris, von einer Sängerin an der Großen Oper, dann verstummte er und saß da wie ein Mensch, der eine Ewigkeit lang Zeit hat. Als er sich erhob und Abschied nahm, sah er aus, als schlafe er gehend.
Mit verschränkten Armen wanderte Eva bis zum Abend im Zimmer umher. In der Nacht griff sie nach Büchern, die sie nicht las, dachte an Dinge, die ihr gleichgültig waren, rief Susanne, um sie zu quälen, schrieb einen Brief an Iwan Becker, den sie wieder zerriß, warf schließlich den Mantel über und ging trotz des stürmischen Regens auf die Terrasse.
Maidanoff wiederholte seinen Besuch. Mit Zartheit bedeutete ihm Eva, als das Gespräch den Punkt erreichte, wo sie es mußte, daß er sich in seinen Erwartungen täuschte. Er sah sie mit trägen, schrägen Blicken an und entschloß sich zu seinem Lächeln. Die Lippen fletschten, in der Lähmung endete es. Was für ein Unsinn, schien ein mißmutiges Verziehen der Stirn sagen zu wollen.
Plötzlich öffnete er die Augen weit. Es wirkte unheimlich. Eva lauschte mit vorgestrecktem Kopf, ihre Finger spreizten sich.
Er sagte: »Sie haben die schönsten Hände, die ich an Frauen kenne. Wenn man sie gesehen hat, wünscht man sie auch zu spüren.«
Drei Stunden später verließ sie Trouville, von Susanne und Monsieur Labourdemont begleitet, und fuhr nach Brüssel, wo sich Iwan Becker aufhielt.
Becker wohnte in einem einsamen Vorstadthaus, das in einem verwilderten Garten stand. Er empfing sie in einem unordentlichen Zimmer, das so groß wie ein Saal war. Auf dem Tisch brannten zwei Kerzen.
Er sah abgemagert aus. Er ging ruhelos umher, auch nachdem er Eva begrüßt hatte.
Sie sprach mit einiger Hast von ihrer bevorstehenden Gastspielreise nach Rußland und fragte, ob er Aufträge für sie habe. Er verneinte.
»Der Großfürst war bei mir,« sagte sie dann und blickte ihn erwartungsvoll an.
Er nickte. Nach einer Weile setzte er sich und begann: »Ich will Ihnen einen Traum erzählen, den ich hatte. Oder nein, es war kein Traum, denn ich lag mit wachen Augen, es war eine Halluzination. Hören Sie.
Um eine reichgedeckte Tafel saßen fünf oder sechs junge Weiber. Sie waren in Gesellschaftstoilette, tief entblößt, lachten ausgelassen und tranken Sekt. Mit ihren frivolen Wortspielen und verführerischen Gebärden wandten sie sich an einen, der am oberen Ende der Tafel saß. Der aber hatte keine Gestalt; er war wie ein Kloß oder ein Stück Lehm. Die Diener zitterten, wenn sie in seine Nähe kamen, und die Frauen wurden unter der Schminke bleich, wenn er sie anredete. Mitten auf dem blendend weißen Tischtuch lag, unbemerkt von allen, eine Leiche. Der Körper war mit Früchten bedeckt, und aus der Brust ragte, zwischen Pfirsichen und Trauben, der Griff eines Messers heraus. Durch die Fugen des Tisches rann Blut und tropfte in leisen Schlägen auf den Boden.
Die Mahlzeit war zu Ende, alle waren in übermütigster Laune, da erhob sich der Gestaltlose, packte eine der Frauen, zog sie an sich und forderte Musik. Und während rauschende Musik erschallte, dehnte sich der Kloß und wuchs; er bekam einen Schädel, aus dem Schädel blickten Augen, und die Augen sprachen: ich begehre, ich begehre. Das Weib, das er hielt, wurde zusehends bleicher, sie suchte sich aus seiner Umklammerung zu befreien, ihm jedoch wuchsen spindeldürre Arme, mit denen er sie still und gewalttätig an sich preßte, immer stärker, so stark, daß sie zu röcheln begann, daß ihr Gesicht blau wurde, daß ihr Leib in der Mitte einknickte. Schließlich lag sie ihm entseelt in den Armen, und es schien nichts mehr von ihr übrig als das Kleid. Da richtete der Tote, der mit dem Messer in der Brust unter Früchten und Konfekt begraben war, den Kopf in die Höhe und sagte mit geschlossenen Augen: Gib sie mir wieder.
Auf einmal strömten viele Menschen in den Raum, Bauern, Fabrikarbeiter, Soldaten, ärmlich gekleidete Frauen, Juden und Jüdinnen. Ein alter Mann mit weißem Bart sagte zu dem Kloß: Gib mir meine Tochter wieder. Mehrere, die hinter ihm standen, schrien gleichfalls, wie außer sich: Gib uns unsre Töchter wieder, unsre Bräute, unsre Schwestern. Einige Bauern drängten sich vor; mit bekümmerten Mienen beugten sie sich zur Erde und riefen: Gib uns unser Land, gib uns unsre Wälder. Dazwischen gellten die Stimmen von Frauen: Unsere Söhne gib uns, unsere Söhne. Der Kloß wich Schritt für Schritt ins Leere, bekam aber eine immer deutlichere Gestalt. Das Angesicht, die Hände und die Kleider waren braun, wie mit Rost überzogen oder mit verkrustetem Schlamm. Die Züge erweckten nicht die geringste Vorstellung von seinem Wesen, und ebendieser Umstand trieb die Verzweiflung aller auf den Gipfel. Sie riefen ununterbrochen: Unsre Brüder! Unsre Söhne! Unsre Schwestern! Unsre Länder! Unsre Wälder, du in Ewigkeit Verfluchter!«
Eva schwieg.
Iwan Becker stützte den Kopf in die Hand. Nach einer Weile sagte er: »Eines steht fest: Er ist der Anlaß von so viel Tränen, daß der See, den sie gesammelt bilden würden, tiefer wäre, als der Kreml hoch ist; aber das Blut, das er vergossen hat, wäre ein Meer, in dem man ganz Moskau versenken könnte.«
Er stand auf, machte ein paar Schritte, setzte sich wieder und fuhr fort: »Er ist der Schöpfer und Usurpator eines beispiellosen Schreckensregiments. Unsre lebendigen Seelen sind seine Opfer. Wo eine lebendige Seele bei uns ist, wird sie sein Opfer. Sechstausendachthundert Intellektuelle wurden in den letzten zwölf Monaten deportiert. Wo sein Fuß hintritt, ist der Tod. Seinen Weg bezeichnen Leichenfelder und Trümmer. Diese Ausdrücke sind nicht bildlich zu nehmen, sondern ganz und gar wörtlich. Er hat die Organisation des vereinigten Adels geschaffen, die das Land unter Druck hält, ein modernes Folterinstrument größten Stils. Die Pogrome, die finnischen Mordexpeditionen, die Mißhandlungen in den Gefängnissen, die Greueltaten der Schwarzen Hundert, alles sein Werk. Er verschwendet unermeßliche Summen aus dem Staatsschatz, er begnadigt Schuldige und verdammt Schuldlose; er erdrosselt den Geist und löscht das Licht aus. Er darf es. Niemand verwehrt es ihm. Er ist allmächtig. Er ist der Gegner Gottes. Ich beuge mich vor ihm.«
Eva blickte überrascht empor, doch Becker bemerkte es nicht. »Es gibt niemand, der ihn kennt. Niemand vermag ihn zu durchschauen. Ich glaube, er ist satt. Vielleicht sind es nur noch Reize der Epidermis, die auf ihn wirken. Es wird erzählt, daß er manchmal zwei schöne nackte Frauen miteinander kämpfen läßt. Sie haben Dolche und müssen einander zerfleischen. Davor muß man sich beugen.«
»Ich verstehe nicht,« flüsterte Eva mit weiten Augen. »Warum beugen?«
Becker schüttelte abwehrend den Kopf, und seine eintönige Stimme erfüllte wieder den Raum. »Ihm ist alles käuflich zwischen Himmel und Erde. Käuflich die Freundschaft, die Liebe, die öffentliche Meinung, die Langmut des Volkes, die Justiz, die Kirche, der Krieg und der Frieden. Befehl und Gewalt kommen zuerst, das versteht sich von selbst; aber was Befehl und Gewalt nicht zustande bringen, wird gekauft. Es scheint freilich, daß Befehl und Gewalt manches zustande bringen, woran gewöhnliche Sterbliche scheitern würden. Auf einer Bärenjagd im Kaukasus war sein Liebling und Günstling, der Fürst Fjodor Szilaghin, schwer erkrankt. Mit hohem Fieber wurde er in eine Tscherkessenhütte getragen. Dieser Fürst Szilaghin, nebenbei, ist ein Mensch von verderbtestem Typus, zwanzig Jahre alt, eine weibische, aber trotzdem erstaunliche Schönheit. Infolge einer Wette ging er einmal eine Nacht lang als Kokotte verkleidet in den Straßen und Vergnügungslokalen Petersburgs herum und brachte allerlei Schmuck und Juwelen, die man ihm seiner Schönheit wegen geschenkt hatte, zu den Freunden, unter anderm ein kostbares Smaragdarmband. Der also wurde im Gebirge krank. Ein reitender Bote ward in den nächsten Ort geschickt und schleppte auf seinem Pferd einen alten unwissenden Landarzt herauf. Der Großfürst, indem er auf den in Delirien sich bäumenden Szilaghin wies, sagte zu dem Alten: Stirbt mir dieser, so stirbst auch du. Rette ihn, damit du am Leben bleibst. Der Doktor flößte dem Fiebernden von Stunde zu Stunde eine Medizin ein; in der Zwischenzeit kniete er zitternd und betend am Lager. Die Fügung wollte es, daß Szilaghin gegen Morgen das Bewußtsein wiedererlangte und dann allmählich genas. Sein Gebieter war überzeugt, daß das unerbittliche Entweder-Oder, vor welches er den alten Arzt gestellt, geheime Kräfte in ihm entbunden und eine Art Wunderheilung bewirkt habe. Er macht nicht Halt vor der Natur.«
Evas Züge belebten sich hastig. Sie erhob sich, trat ans Fenster und öffnete es. Der Sturmwind schüttelte die Bäume. Ein zerzauster Ruysdaelscher Wolkenhimmel, vom verborgenen Mond schwach erhellt, wölbte sich über dem Dunkel. Ohne sich umzudrehen sprach sie: »Sie sagen, niemand kann ihn durchschauen. Es ist aber nichts zu durchschauen. Er ist wie ein Abgrund, offen und finster.«
»Mag sein, daß Sie recht haben und daß er wie ein Abgrund ist,« antwortete Iwan Becker leise, »aber wer wird den Mut haben, hinunterzusteigen?«
Ein Schweigen entstand. »So sprechen Sie es aus, Iwan Becker, sprechen Sie es endlich aus!« rief Eva in die Nacht hinein, zum offenen Fenster hinaus. Jede Faser an ihr, von den Haarspitzen bis zum Kleidsaum, der den Boden streifte, war angehaltenes Lauschen.
Aber Becker erwiderte nichts. Er wurde nur furchtbar bleich.
Eva kehrte sich um. »Soll ich mich in seine Arme stürzen, um eine neue Ordnung in der Welt zu machen?« fragte sie dann ruhig und stolz; »soll ich seine ungeheuerliche Meinung von dem, was käuflich ist, noch um einen Grad, um so viel eben, wie ich mich selbst einschätze, herunterschrauben? Oder glaubt man, ich könnte ihn dazu bringen, die Schlachtbank mit dem Beichtstuhl zu vertauschen, das Henkerbeil mit einer Flöte?«
»Ich habe nicht davon geredet, ich werde nicht davon reden,« sagte Iwan Michailowitsch mit feierlich erhobener Hand.
»Ein Weib vermag viel,« fuhr Eva fort; »sie kann sich verschenken, sie kann sich wegwerfen, sie kann sich feilbieten, sie kann ihre Gleichgültigkeit überschminken, ihren Haß verleugnen; gegen das Grauen vermag sie nichts. Das Grauen reißt die Brust auseinander. Zeigen Sie mir einen Weg. Machen Sie mich unempfindlich gegen das Grauen, und ich will den Tiger an die Kette legen.«
»Ich weiß keinen Weg,« antwortete Iwan Michailowitsch; »ich weiß keinen, mir selber graut vor ihm. Der ewige Gott möge Sie erleuchten.«
Die Einsamkeit des Zimmers, des Hauses, des sturmdurchpflügten Gartens war herunterdonnerndes Geröll.
Ihre Freunde beobachteten die Entwicklung gespannt. Daß sie Maidanoff ernstlich Widerstand leisten werde, erwartete keiner. Als es dennoch so schien, bewunderte man nur die Finesse. Paris prophezeite ihr die glänzendste Zukunft. Ihr Tun und Lassen war Mittelpunkt der öffentlichen Neugier und füllte Zeitungsspalten.
Als sie nach Rußland kam, hatten die Behörden und Geschäftsstellen Befehle erhalten. Eine Königin hätte nicht subtiler behandelt werden können. Die palastartigen Räume eines Hotels waren vorbereitet und geschmückt. Sklavendemut umgab sie.
Bei dem ersten Besuch des Großfürsten bat sie ihn, den Zwang aufzuheben, der sie zur Schuldnerin machte. Er verschlang ihre Worte mit einem frostigen Lauern im Gesicht, zog aber keine Folgen daraus. Sie empörte sich gegen diese Trägheit einer Willensrichtung, dieses taube Ohr, das gierig lauschte.
Seine Menschenverachtung hatte etwas Zermalmendes. Sie äußerte sich wie Schläfrigkeit. Mensch, du klebriger Schleim, wirf dich hin und vergeh, sprachen seine trägen Augen.
In seiner Gegenwart waren Evas Gedanken bisweilen so laut, daß sie fürchtete, man könne sie hören.
Sie wagte es, mit ihm zu rechten. Ein junges Mädchen, Wera Scheschkow, hatte den Stadthauptmann erschossen. Sie hatte den Mut, diese Tat zu preisen. Er antwortete glatt und entschlüpfte gefühllos. Sie forderte ihn stärker heraus. Ihr erzogener Körper schwang im Rhythmus der Bitterkeit und Erschütterung. Sie war hineingeschmolzen in Schmerz, Zorn und Anteil.
Er betrachtete sie, wie man eine Edelkatze anschaut, deren Spiel entzückt. Er sagte: »Sie sind außerordentlich, Madame. Ich wüßte nicht, welchen Ihrer Wünsche ich unerfüllt lassen könnte um den Preis, Sie zu besitzen.« Er sagte es mit seiner tiefen Stimme, die heiser klang; er hatte auch eine hohe, die an das Kreischen rostiger Angeln erinnerte.
Evas Schultern zitterten. In seiner eisigen Selbstherrlichkeit spiegelte sich nichts mehr von ihrem Wesen; daran zerschellte es.
Zweimal sah sie ihn sich verändern und aufzucken. Das erstemal, als sie sich zu ihrer deutschen Abkunft bekannte. Eingefleischter Haß erfüllte ihn gegen alles Deutsche und alle Deutschen. In seinen Mienen lag böser Hohn; er entschloß sich, ihr nicht zu glauben und ließ das Thema fallen.
Das zweitemal war es, als sie von Iwan Michailowitsch Becker sprach. Es zwang sie; sie mußte ihn heraufbeschwören. Der Name war ein Arkanum.
Da schoß ein peitschender Blick aus den trägen Augen. Die zwei senkrechten Einkerbungen zwischen den Brauen verlängerten sich wie die Fühler eines Insekts; eine plötzlich querlaufende bildete ein düsteres Kreuz mit ihnen. Das Gesicht wurde fahl.
Susanne war ungeduldig; sie trieb und lockte. »Was besinnst du dich?« sagte sie eines späten Abends zu ihrer Herrin. »So nah dem Gipfel gibt es kein Zurück. Unsre Träume in Toledo; wir dachten wunder, wie frech sie seien. Die Wirklichkeit beschämt uns. Greif zu. Niemals werden deine süßen kleinen Füße Größeres ertanzen.«
Eva ging mit federnden Knien im Kreis über den Teppich. »Sei still,« sagte sie gedankenvoll und drohend, »du weißt nicht, wozu du rätst.«
Auf dem Kaminbord hockend, verfolgte Susanne mit ihren glanzlosen Pflaumenaugen die Unschlüssige. »Bist du bange?« fragte sie mit gerunzelter Stirn.
»Ich glaube, ich bin bange,« entgegnete Eva.
»Erinnerst du dich an den Bildhauer, den wir im Winter besuchten? Es war in Meudon. Er zeigte uns seine Skulpturen, und ihr spracht über die Kunst. Er sagte: Ich darf nicht bangen vor dem Marmor, der Marmor muß bangen vor mir. Beinahe hättest du ihn geküßt für dieses Wort. Sei nicht bange, du bist die Stärkere.«
Eva blieb stehen. »Cette maladie, qu'on appelle la sagesse!« seufzte sie.
Da ging Susanne zum Flügel und begann mit eckigen und flattrigen Bewegungen eine Chopinsche Polonäse zu spielen. Eva hörte eine Weile zu, dann trat sie hinter die Spielerin, tippte ihr mit einem Finger auf die Schulter und sagte, als Susanne die Hände ruhen ließ, mit dunkel gurrender Stimme: »Wenn es denn sein muß, so will ich erst einen Liebessommer haben, wie noch keiner gewesen ist auf Erden. Sprich nicht, Susanne, spiel weiter und sprich nicht.«
Susanne sah auf und schüttelte verwundert den Kopf.
An dem Tag, an welchem Eva zum letztenmal in Petersburg auftrat, flog durch die Entzündung einer Mine der Hauptpavillon der landwirtschaftlichen Ausstellung in die Luft.
Der Anschlag hatte der Person des Großfürsten gegolten. Sein Besuch war erwartet, die Reihenfolge in der Besichtigung der Gebäude vorher festgesetzt worden. Sein Automobil erlitt jedoch eine Panne, und durch diesen Zufall war er mit seinem Hofstaat einige Minuten nach der peinlich fixierten Zeit eingetroffen.
In dem Augenblick, als er seinen Fuß auf die Treppe des Pavillons setzte, ertönte fürchterliches Krachen. Der Himmel verschwand unter Qualm und aufschießenden Trümmern. Einige Industrielle und hohe Beamte, die dem Großfürsten beflissen vorausgeeilt waren, sowie zehn oder zwölf Arbeiter fanden den Tod. Im Umkreis von einem Kilometer wurden durch den Luftdruck an allen Häusern die Fensterscheiben zerschmettert.
Der Großfürst stand eine Weile regungslos. Ohne Neugier und ohne Schrecken, mit unsäglich düsterer Miene aber betrachtete er die Verwüstung. Als er sich zum Gehen wandte, wichen die herzugeströmten Menschenmassen lautlos zurück; es bildete sich eine Gasse lautlosen Volks, die er mit den Säerschritten seiner abnorm langen Beine finster und säbelklirrend durchmaß.
Als Abschiedsvorstellung hatte Eva die Rolle des gefesselten und dann befreiten Echos in dem Ballett Pans Erwachen gewählt. Sie hatte damit stets Begeisterung hervorgerufen, aber einen Triumph wie dieses Mal hatte sie nie gefeiert.
Es war ein Tanz der Freiheit und der Erlösung, der unmittelbar auf die Nerven des dichtgefüllten Hauses wirkte und Spannungen milderte, die vom Tag her kamen. Der bacchantische Trotz, die feurige Angst der Verfolgten, die Umkehr, der heroische Entschluß, der Schmerz über das erste Unterliegen, das Spiel mit der Rachefackel, der Jubel über die aufdämmernde Morgenröte, dies alles hatte aktuelle Beredsamkeit.
Zweitausendfünfhundert Menschen saßen nach dem Fallen des Vorhangs versteinert. Da richteten sich zahllose Augenpaare nach der Loge des Großfürsten. Sie blickten hin und sahen in seine trägen Augen, die niemals blickten. Sie erfaßten seine Schmächtigkeit und die unproportionierte Länge seines Körpers, seinen sehnigen Vogelhals über dem Uniformkragen, seinen dürren Bart, die höckerige Stirn, an der nichts Hautähnliches war, die Atmosphäre, die sich vor ihm herwälzte und die er hinter sich ließ, ein in Millionen Atome zerstäubter Tod; und mittendrin die trägen Augen.
Dann brach der Beifall los. Vornehme Damen wanden sich in Konvulsionen; Greise mit zahnlosen Mündern schrien wie Knaben; blasierte Theatergänger stiegen auf die Sitze und winkten aufgeregt. Als Eva vor die Rampe trat, verstummte der Lärm, und zehn Sekunden lang war es so still, daß man nur das Röcheln aus Brustkästen und das Knistern von Kleidern vernahm.
Sie schaute in das blendende Meer von Gesichtern. Die Falten ihres weißen griechischen Gewands erinnerten an Marmor. Von neuem begann der Sturm, die Zurufe, das Tücherschwenken. An die Brüstung der Galerie drängte sich ein Mädchen, streckte die Arme aus und rief mit einer schluchzenden Stimme, die alles übertönte: »Du hast uns begriffen, Seelchen!«
Eva verstand die russischen Worte nicht, aber es war nicht nötig, die Worte zu verstehen. Sie schaute hinauf und empfing den Sinn.
Um Mitternacht erschien sie, einer Zusage getreu, im Palast des Fürsten Fjodor Szilaghin.
Respektvolles Murmeln und Verstummen entstand, als man ihrer ansichtig wurde. Träger erlauchter Namen, die schönsten Frauen des Hofes und der Gesellschaft, hohe Offiziere und die fremden Gesandten waren versammelt. Einige Herren hatten sich bereits um sie geschart, da trat Fjodor Szilaghin auf sie zu, führte ihre Hand ehrerbietig an die Lippen und löste sie geschmeidig plaudernd aus der Gruppe.
Sie ging durch mehrere Säle an seiner Seite; er war darauf bedacht, sie an sich zu fesseln, und es gelang ihm, ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Kein Hauch von Banalität war an ihm. Bewegungen und Worte waren mit äußerster Kaltblütigkeit und Feinheit auf den Effekt berechnet. Die Augen waren beim Sprechen schmachtend niedergeschlagen, und die allen Russen eigne Leichtigkeit und Fülle der Rede hatte bei ihm außerdem etwas unablässig Schillerndes. Ein anmaßendes und fast zynisches Bewußtsein davon, daß er schön, geistreich, apart, umworben, mysteriös war, verließ ihn nie. Seine Brauen waren gefärbt, seine Lippen geschminkt. Das stumpfe Schwarz des üppigglatten Haares hob die durchleuchtete Blässe des bartlosen Gesichtes faszinierend.
»Ich muß es rühmen, Madame,« sagte er mit einer Stimme von unergründlicher Falschheit, »ich muß es rühmen, daß Ihre Kunst für uns Slawen nicht das westlich Überzüchtete hat wie bei den meisten Sternen des Auslands. Sie gibt sich wie die Natur selbst. Es müßte belehrend sein, den Weg zu kennen, auf dem Sie, von einer andern Seite her, zu den nämlichen Gesetzen und Formen gelangt sind, auf denen sowohl unsre nationalen Tänze als auch unsre modernen orchestrischen Bestrebungen beruhen. Von diesen wissen Sie doch zweifellos?«
»Ich weiß davon,« antwortete Eva, »und was ich gesehen habe, ist ungewöhnlich; es hat Kraft, Charakter und Schwärmerei.«
»Schwärmerei, gewiß, und vielleicht noch etwas mehr: Raserei,« sagte der junge Fürst mit beziehungsvollem Lächeln. »Ohne Raserei wird nichts Großes in der Welt geschaffen. Glauben Sie nicht, daß sogar Christus ein Rasender war? Was mich betrifft, ich kann mich mit der allgemein angenommenen Figur des sanften und harmonisch ausgeglichenen Christus nicht befreunden.«
»Es ist ein neuer Gesichtspunkt, man müßte darüber nachdenken,« versetzte Eva freundlich gelassen.
»Wie es auch sei, bei uns ist alles noch im Werden, der Tanz und die Religion,« fuhr Fjodor Szilaghin fort. »Diese beiden in einem Atem zu nennen, enthält für mich keine Blasphemie; sie haben etwas Verwandtes, wie eine rote Rose und eine weiße Rose. Verzeihen Sie den vorwitzigen Exkurs. Wenn ich sage, wir sind Werdende, so heißt das, daß wir im Guten und im Bösen ohne Grenzen sind. Ein Russe kann den grausamsten Mord begehen und gleich hernach Tränen vergießen beim Anhören eines schwermütigen Gesangs. Er ist jeder Wildheit, Zügellosigkeit und Schändlichkeit fähig, aber auch der Hochherzigkeit und Selbstverleugnung, und kein Wandel kann schneller und schrecklicher sein als der vom Haß zur Liebe bei ihm, von Liebe zum Haß, vom Glück zur Verzweiflung, von der Treue zum Verrat, von der Furcht zur Tollkühnheit. Man vertraue ihm und gebe sich ihm hin; man wird in ihm das gefügigste, großmütigste und zärtlichste Wesen finden. Man enttäusche und mißhandle ihn, – er stürzt in Finsternis und verliert sich in Finsternis. Er kann geben, geben, geben, ohne Ende, ohne Besinnung, bis zur Entäußerung, bis zur Phrenesie, und erst wenn er in die unterste Tiefe der Hoffnungslosigkeit geschleudert ist, erwacht die Bestie, und er zertrümmert alles um sich her.« Der Fürst blieb stehen. »Ist es indiskret, zu fragen, wo Sie den Mai verbringen werden, Madame? Man sagte mir, Sie wollten an die See,« unterbrach er sich in verändertem Ton und blickte Eva erwartungsvoll an.
Diese war von der Frage betroffen wie von einem Überfall.
Sie hatten die für die Gäste bestimmten Räume unversehens verlassen und befanden sich in den ausgedehnten Glashäusern des Wintergartens. Nach allen Seiten führten labyrinthische, von Pflanzen überwucherte Wege. Ein dämmeriges Licht herrschte, und da, wo sie standen, in einer etwas theatralischen Einsamkeit, hauchten Tausende von gespenstisch gefleckten Orchideenblüten ihren beklemmenden Duft aus.
Eva hatte Sinn und Hinweis der Worte Szilaghins erfaßt, so geschickt und deutbar sie auch gewählt waren. Das Eidechsenschlüpfrige seines Geistes lockte sie, sich mit ihm zu messen, trotzdem es sie drohend anrührte. Spiel mit Spiel vergeltend, hüllte sie sich in ein Lächeln, das undurchdringlich war wie Szilaghins Stirn und großpupillige Augen und antwortete: »Ja, ich gehe nach Heyst am Meer. Ich will ruhen. Das Leben in diesem Land der verkappten Rasenden hat mich müde gemacht. Was ich leider entbehren mußte, Fürst, war ein Mentor und Seelenkundiger wie Sie.«
Plötzlich ließ sich Szilaghin auf ein Knie nieder und sagte leise: »Mein Herr und Freund bittet durch mich um die Gnade, dort, wohin Sie gehen, in Ihrer Nähe sein zu dürfen. Er besteht auf keiner Zeit, er fügt sich Ihrem Geheiß. Ich kenne nicht den Grad und die Ursache Ihres Schwankens, schöne Eva, aber welches Unterpfand fordern Sie denn, welche Bürgschaft für die Aufrichtigkeit eines Gefühls, das keine Probe zu scheuen hat und kein Opfer scheuen will?«
»Stehen Sie auf, Fürst,« befahl Eva, indem sie einen Schritt zurücktrat und die Arme zart, in widerwilliger Vertraulichkeit gegen ihn ausstreckte; »Sie sind zu verschwenderisch mit sich selbst in diesem Augenblick. Stehen Sie auf.«
»Nicht, ehe Sie mich ermächtigen, der Überbringer guter Botschaft zu sein. Ihr Entschluß wiegt schwer. Wolken sammeln sich und warten auf den Wind, der sie vertreibt. Prozessionen ziehen aus, um das Verhängnis abzuwenden durch Gebete. Ich bin nur ein Einzelner, zufällig Beauftragter. Darf ich jetzt aufstehen?«
Eva schloß die ausgebreiteten Arme über der Brust und wich bis in ein grünes Lianengehänge zurück. Nun spürte sie des Schicksals gewaltigen und unverstellten Ernst. »Stehen Sie auf,« sagte sie mit gesenktem Kopf, und zweimal wechselten Glut und Blässe auf ihren Wangen.
Szilaghin erhob sich, lächelte schnellatmend und führte abermals ihre Hand, in schweigender Ehrfurcht, an seine Lippen. Dann geleitete er sie, wie vorher geschmeidig plaudernd, zu den übrigen Gästen zurück.
Zwölf Stunden später war es, als Christian das Telegramm erhielt, das ihn nach Berlin rief.
Edgar Lorm machte volle Häuser in München. Der Zulauf war so groß, daß er sein Gastspiel verlängern mußte.
Crammon bezeigte sein Vergnügen darüber und blähte sich auf. Er wandelte umher wie die Amme dieses Ruhmes.
Eines Tages war er bei einer literarischen Dame zum Tee, da entstand in einer Ecke ein Gekicher, das seiner Person galt. Er war sehr erheitert, als er erfuhr, daß die wispernde Gesellschaft, die sich dort zusammengefunden, des festen Glaubens war, er kopiere Lorm als Misanthrop.
Felix Imhof hörte davon und wollte bersten vor Lachen. »Nicht zu leugnen, der Gedanke hat etwas Bestechendes, wenn man dich nicht kennt,« sagte er zu Crammon. »Wahrscheinlich liegt ja die Sache umgekehrt, und du hast Lorm in der Rolle das Modell abgegeben.«
Diese Deutung war schmeichelhafter. Crammon schmunzelte dankbar. Unbewußt vertiefte er die Züge von Weltfeindlichkeit in seinem feisten Domherrengesicht. Als sich Lorm im Kostüm des Alcest photographieren ließ, pflanzte sich Crammon hinter dem Apparat auf und verwandte keinen Blick von der statuenreifen Erscheinung des Schauspielers.
Seine Absicht war, zu lernen. Die Rolle, welche ihm in dem Stück zugeteilt war, das täglich von neun Uhr morgens bis elf Uhr abends gespielt wurde, begann seine Unzufriedenheit zu erregen. Er wünschte sich eine minder episodenhafte. Es schien ihm, daß man den Direktor des Theaters veranlassen könne, eine Umbesetzung vorzunehmen. Er sprach es auch Lorm gegenüber aus. Denn der Schauspieler war ihm nicht mehr, wie in den Jahren der Jugend, Krone und Leuchtpunkt menschlicher Existenz und Gefäß ihrer edelsten Bewegung, sondern Mittel zum Zweck. Man hatte von ihm zu lernen, seine wahren Gefühle bis zur völligen Unbemerkbarkeit zu verbergen; alle Kräfte für den Augenblick zu sammeln, in welchem das Stichwort fiel; mit sich selber hauszuhalten; eine glaubwürdige Maske mit Bravour zu tragen und sich in jeder Situation eines guten Abgangs zu versichern.
Er sagte: »Ich habe mich mit meinen Partnern immer leidlich vertragen. Ich kann behaupten, daß ich ein gefälliger Kollege war und immer in den Hintergrund geschlichen bin, wenn sie an der Rampe ihren Monolog oder ihre große Szene hatten. Aber zwei von ihnen, der erste Liebhaber und die Heroine, haben meine Gutmütigkeit entschieden mißbraucht. Sie haben mich nach und nach aus der Komödie verdrängt. Zu ihrem eignen Schaden; die Intrige hätte famos werden können; seit man mich hinter die Kulissen geschickt hat, droht sie im Sand zu verlaufen. So etwas wurmt einen.«
Edgar Lorm lächelte. »Da scheint mir eher der Dichter gesündigt zu haben als jene beiden,« antwortete er. »Es ist sicher ein Fehler im Bau der Handlung. Auf eine Figur wie Sie verzichtet ein erfahrener Theatermann nicht ohne weiteres.«
»Prosit,« sagte Crammon und hob sein Glas. Sie saßen, spät nachts, im Ratskeller.
»Man muß auch die Entwicklung abwarten,« fuhr Lorm fort, den die Charade ergötzte; »es gibt, namentlich bei guten Autoren, manchmal unerwartete Wendungen. Schimpfen darf man erst, wenn der Vorhang gefallen ist.«
Crammon murmelte verdrossen: »Die Zeit wird lang. Ich will demnächst mal wieder auf die Bühne und sehen, in welchem Akt wir sind. Kann sein, daß ich mir ein Extempore leiste.«
»Für welches Fach sind Sie eigentlich engagiert?« erkundigte sich Lorm; »Bonvivant? Charakter? Heldenväter?«
Crammon zuckte die Achseln. Sie sahen einander ernsthaft an. Um den schmallippigen Mund des Schauspielers blitzte gute Laune. »Seit wann haben wir uns nicht mehr gesehen, mein Vortrefflicher?« sagte er und schlang vertraulich den Arm um Crammons Schulter; »es mögen Jahre sein. Bis vor kurzem hatte ich einen Sekretär, der mir jeden Brief von Ihnen abends auf das Kopfkissen legte. Er wollte damit sagen: Sieh mal, Edgar Lorm, die Menschen sind doch kein so miserables Pack, wie du immer behauptest. Na, er war ein Idealist, aufgewachsen bei Zichorienkaffee, Kartoffeln und Hering. So was findet man zuweilen. Mein guter Crammon, Sie haben Fett angesetzt indessen. Wie rund und behäbig Sie wohnen in der prallen Haut da. Ich bin mager geblieben und zehre von meinem Blut.«
»Das Fett ist nur Attrappe,« versetzte Crammon melancholisch.