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Du lügst ja!« schrie Karen auf, als ihr Christian die Kassette reicht. Er hatte nicht einmal gesprochen, aber seine Gebärde verhieß das Unglaubwürdigste. Darum schrie sie, um sich vor verfrühter Freude zu wahren: »Du lügst ja!«
Unbeschreibliche Gier, mit der sie das Schloß öffnete, den Deckel hob! Unter ihrer Haut flüchtete das Blut. In der Kehle würgte es. Da lagen die Perlen, da strahlten sie milchig, mit lila und rosigen Tinten. »Die Tür zu, sperr die Tür zu,« fauchte sie, kam seiner Langsamkeit zuvor, stürzte hin, einen Stuhl umstoßend, und drehte den Schlüssel zweimal. Dann stand sie und preßte die Hände an den Kopf. Dann eilte sie wieder zur Kassette.
Schüchtern befühlte sie die Perlen mit den Fingerspitzen. Ein doppelter Schrecken: erstens waren sie warm wie lebendes Fleisch; zweitens wollte ihr dünken, daß der Griff trotz ihrer Zaghaftigkeit zu grob gewesen sei. Sie heftete auf Christian einen Blick, ängstlich wie das Flattern eines flugkranken Vogels. Plötzlich packte sie mit beiden Händen brutal seine Linke, riß sie zu sich, beugte sich nieder und drückte ihren Mund darauf.
»Laß das, Karen,« stotterte Christian betroffen, konnte aber seine Hand aus der eisernen Umklammerung nicht lösen. Länger denn eine Minute blieb sie so, gebückt, mit gebogenen Knien, über seine Hand hingeworfen, und unter dem grauen Stoff sah er ihren Rücken zittern. »Sei vernünftig, Karen,« redete er ihr zu, und redete sich selber zu, daß es keine Erschütterung sei, die sich seiner bemächtigte, keine Tiefe einer Seele, in die er schaute; »was tust du, Karen? Laß das doch!«
Sie ließ ihn, und er ging. Hinter ihm schloß sie wieder die Tür. Sonderbarerweise entledigte sie sich nun der Schuhe und näherte sich auf Strümpfen dem Schatz in der Kassette. Ohne den Augenschein wagte sie noch immer nicht zu glauben. Es waren furchtsam aneinandergesetzte Gebärden, mit denen sie die Schnur aus dem Behältnis nahm. Bei jedem Klirren seufzte sie und sah sich um. Die unerwartete Länge der Kette erregte ihre Bestürzung, ebenso wie die unerwartete Schwere. Zärtlich ließ sie sie auf den Boden niedergleiten, folgte mit den Knien, mit dem Rumpf, mit dem ganzen Körper, lag zuletzt bäuchlings, mit Lippen, Atem und Auge dem glitzernd Herrlichen so nah wie möglich. Zählte; zählte wieder; irrte sich; einmal zählte sie hundertdreiunddreißig, das andere Mal hundertsiebenunddreißig; verzichtete auf das Zählen; besah einzelne Kugeln; behauchte sie; befeuchtete den Zeigefinger und tastete; horchte auf ein Geräusch im Flur; vertiefte sich wieder grenzenlos ins Schauen; versetzte sich in Räume, wo das zauberische Gebilde schon geleuchtet haben mochte, in Frauen, an deren Hals es gehangen haben mochte, in Begebenheiten, in die es verstrickt gewesen sein mochte; spürte Schauer über sich rieseln, kämpfte mit dem Gelüst, es selber um den Hals zu tun, was wie Vermessenheit war, dann aber doch ausführbar schien; erhob sich leise, nahm die Kette mit zwei Händen auf, schlüpfte in den weiten Ring, reckte sich, fühlte sich verwandelt, ging auf Zehen vor den Spiegel und spähte aus Spalten zwischen den Lidern: es war! es war da! sie und es zugleich! wie die Frau auf dem Bild! Perlen hingen um sie herum, Perlen!
So war der Abend, so war die Nacht. Kein Schlaf. Die Perlen im Bett, neben ihr, dicht an der Brust, warm an der Haut. Fühlen, immer wieder fühlen, daß sie da waren; auf Stimmen im Haus lauschen, die wie Drohung von Raub beunruhigten; Licht anzünden und sehen; schon hatten einzelne Perlen Gesichter, hatten Münder, die erzählten, unterschieden sich von andern durch blassere Färbung oder leiseres Karmin, gaben sich vertrauter oder fremder; aber alle zusammen waren das schimmernde Wunder, das neue Leben.
So war auch der Tag und so die andere Nacht. Daß Krankheit im Körper wühlte, wußte sie; sie hatte den Ausbruch erwartet, doch war es kein tobendes Hervorbrechen, sondern ein tückisches Glimmen; langsam wurde Teil um Teil erfaßt, und die freie Beweglichkeit war zu Ende. Sie wußte auch, daß es keine gewöhnliche Krankheit war, von der man sich nach ein paar Tagen erholt; sie empfand es als einen Prozeß von Reife, der zum Fall der Frucht führt, Zusammenschluß feindlicher Kräfte, die vorher zerstreut und in verschiedenen Zeiten gewütet hatten. Das gelebte Leben brachte die Rechnung zum Vorschein, das war es; ein Arzt im Hamburger Spital hatte es ihr vor Monaten prophezeit. Nun war es an dem. Sie machte nicht viel Aufhebens von ihrem Zustand, blieb einfach im Bette liegen; Schmerzen hatte sie nicht, Fieber nur wenig.
Das Liegen machte sie nicht ungeduldig; sie war froh über den Zwang. Eine bessere Manier, die Perlen zu bewachen und zu hüten gab es nicht. Da konnte kommen, wer wollte, sie hatte ihren Schatz am Leibe, an der Brust oder im Schoß, war seiner sicher in jeder Minute, mit jeder Regung, und niemand merkte etwas davon. Sie malte sich aus, was sie sagen, was sie tun würden, wenn sie ihnen zeigte, was sie heimlich besaß, wenn sie einen von denen rufen würde, die unwissend an der Tür draußen vorübergingen, Stiege hinauf, Stiege hinunter, oder einen von der Straße, vom Wirtshaus, von der Destille, einen Kerl, der sich die ganze Woche lang schinden mußte, ein Weib, das sich für drei Mark verkaufte, oder eines, das sieben Kinder zu füttern hatte. Sie blickte in verschwiegenem Triumph durch das Fenster über die Fensterreihen jenseits der Straße; da hausten lauter solche, die das Elend drosselte und in denen der Kummer winselte. Da krochen sie in den Stockwerken herum wie die Ameisen, von der Kellerwohnung bis in die Mansarde hinauf, und ahnten nichts von Karens Perlen. Karens Perlen; wie das klang, wie das sang! was das Wort enthielt, wie es blinkerte und zwinkerte! Karens Perlen . . .
Aber die Verhehlung wurde Beschwer. Man genoß es nicht so, wie man es hätte genießen können, wenn noch ein Mensch daran teilgenommen hätte; zwei Augen zum mindesten brauchte man noch außer den eigenen. Sie dachte an Isolde Schirmacher; aber die war zu schwatzhaft und zu blöde. Sie dachte an Gisevius' Weib, dann an die Näherin vom vierten Stock, dann an die Kammecke, die den Trödlerladen unten hatte, dann an Amadeus Voß.
Zuletzt verfiel sie auf Ruth Hofmann, und diese dünkte ihr am ungefährlichsten, der wollte sie die Perlen zeigen.
Unter dem Vorwand, das Mädchen solle ihr von der Apotheke etwas mitbringen, schickte sie zu Hofmanns hinüber, und Ruth kam, um zu fragen, was sie besorgen solle. Da wartete Karen, bis die Schirmacher das Zimmer verlassen hatte, dann richtete sie sich im Bett auf und bedeutete dem Mädchen, es möge den Riegel an der Tür vorschieben. Dann sagte sie: »Kommen Sie mal her,« und zog die Bettdecke zurück, da lagen die Perlen in einem dichten Haufen auf dem Linnen. »Sehen Sie sich das mal an,« sagte sie, »das sind echte Perlen und sind mein, aber wenn Sie mit jemand drüber reden, dann gnade Ihnen Gott, dann sollen Sie Karen Engelschall kennenlernen.«
Ruth staunte. Sie staunte nicht weiberhaft-begehrlich, sondern wie ein Mensch von Phantasie über ein außerordentliches Naturspiel. Ihr frisches Gesicht hatte eine Gespanntheit, die nur freudige Elemente enthielt. »Woher haben Sie das?« fragte sie naiv; »das ist ja wundervoll. Ich hab so was nie gesehn. Gehören sie Ihnen, alle die Perlen? Mein Gott, davon liest man ja nur in Tausendundeine Nacht.« Sie kniete am Bett nieder, stellte ihre Hände zu beiden Seiten des Perlenhaufens flach auf und lächelte. Die Hängelampe brannte; in dem ziemlich düstern Licht hatten die Perlen einen purpurn flaumigen Glanz und schienen durch rotierendes Blut gemeinsam beseelt.
Karen ärgerte sich, war aber fast so glücklich, wie sie sich eingebildet hatte, in der Überraschung eines Beschauers zu sein. »Dumme Frage, ob sie mir gehören,« zürnte sie; »meinen Sie vielleicht, ich hätt sie gestohlen? Es sind seiner Mutter Perlen,« fügte sie geheimnisvoll hinzu, den Kopf zu Ruths Ohr neigend, wobei sie einen Augenblick stutzte über den reinen Duft, einen Duft wie Gras und feuchte Erde im Februar, der von dem Mädchen ausströmte; »seiner Mutter Perlen, und mir hat er sie gebracht.« Sie wußte nicht, einen wie ergriffenen Ton ihre Stimme hatte, als sie von Christian sprach; Ruth horchte auf bei dem Ton; allerlei Zweifeln und Raten nahm ein Ende.
»Was fehlt Ihnen denn?« fragte sie und erhob sich.
»Weiß nicht, was mir fehlt,« antwortete Karen, die Perlen wieder zudeckend; »vielleicht gar nichts. Ich liege eben. Manchmal tut einem das Liegen gut.«
»Ist denn jemand bei Ihnen in der Nacht? Es kann ja sein, daß Sie etwas brauchen; ist da jemand bei Ihnen?«
»Gott, ich brauche nie was,« versetzte Karen möglichst gleichgültig; »und wenn, ich kann doch aus dem Bett steigen und mirs holen; so schlecht geht mirs nicht, daß ich das nicht könnte.« Aus ihren Zügen verschwand das Rohe und machte einem Ausdruck unbeholfener Verwunderung Platz, als sie hastig fortfuhr: »Er hat mir angeboten, daß er die Nacht über in der Wohnung bleiben will. Er will auf dem Sofa schlafen, damit ich ihn wecken kann, wenn mir nicht gut ist. Das mache ihm gar nichts aus, sagte er, er wolle es gern tun. Er sitzt schon immer den ganzen Abend dort am Tisch und studiert in seinen Büchern. Wozu studiert er denn so viel? Hat er denn das nötig, so einer? Aber was sagen Sie dazu, daß er da schlafen will und aufpassen? Ist das nicht närrisch?«
»Gar nicht närrisch,« versetzte Ruth, »das kann ich durchaus nicht finden. Ich wollte Ihnen eigentlich dasselbe vorschlagen. Herr Christian und ich könnten ja abwechseln. Eine Nacht er, eine Nacht ich. Ich kann ja auch dabei arbeiten. Ich meine nur, im Fall es nötig werden sollte. Einen kranken Menschen in der Nacht allein zu lassen, das geht nicht an.« Sie schüttelte den Kopf, und ihre aschblonden Haare bewegten sich nach rechts und links.
»Was ihr für komische Menschen seid,« sagte Karen und schob den gelben Haarwust bis an die Augen herab, »wahrhaftig, komische Menschen.« Sie tat, als suche sie etwas auf dem Bett, und ihre Augen, die sich zu blicken weigerten, flohen in ängstlicher Eile.
Ruth beschloß, mit Christian über die Nachtwachen zu sprechen.
Sie sprach mit ihm, aber Christian schlug es ihr ab. Er sagte, es bedürfe der Nachtwachen nicht. Es widerstrebte ihm, sie mit einer solchen Aufgabe zu betrauen. Obgleich sie ihn durch die Klarheit und Reife ihres Wesens in Erstaunen setzte, sah er doch ein Kind in ihr, das um so mehr geschont werden mußte, als es sich selbst nicht schonte.
Das spürte Ruth; gegen jeden andern hätte sie sich aufgelehnt; ihm fügte sie sich.
Sie hatte viel über ihn nachgedacht. Sie war zu ganz bestimmten Schlüssen gelangt, die nicht weit von der Wahrheit entfernt waren. Wohl hatte sie dies und jenes reden gehört, im Hause und von Karen Engelschall, aber Augenschein und Instinkt hatten sie besser belehrt. Was allen rätselhaft war, schien ihr selbstverständlich. Sie wunderte sich niemals über das Seltene; sie wunderte sich nur über das Gemeine.
Karen hatte ihr anfangs tiefen Schrecken eingeflößt; die traurigen Verhältnisse, in denen sie selbst seit früher Jugend gelebt, hatten sie mit vielen häßlichen Erscheinungen der sozialen Welt fortwährend in Berührung gebracht; ein so böses und verwildertes Weib war ihr trotzdem noch nie begegnet. Sie mußte jedesmal einen Widerstand überwinden, bevor sie ihr nahte.
Aber es geschah, daß sie einst ins Zimmer trat, den Morgen nach der Entbindung, bei der sie geholfen, und daß Christian da war; sie sah, wie er dem Weibe auf einem irdenen Untersatz ein Glas Rotwein ans Bett brachte. Er lächelte verlegen, und seine Handreichung war ziemlich ungeschickt. Da hatte sie alles begriffen; da wußte sie, woher er kam und woher das Weib kam und was sie zueinander geführt und warum sie beisammen waren. Dies Wissen dünkte ihr so schön, daß sie dunkelrot wurde und schnell das Zimmer verließ, um nicht vor Freude zu lachen oder sonst etwas Anstoßerregendes zu tun.
Seitdem betrachtete sie Karen Engelschall nicht mehr mit Scheu oder Abscheu, sondern mit einer natürlichen, wenigstens ihr natürlichen Empfindung von Schwesterlichkeit.
Dann kam das mit den Perlen. Von dem Gehänge, das ihr das Weib fieberhaft verzückt zeigte, ahnte sie den Wert bloß aus den behutsam tastenden Fingern und dem kranken Leuchten der Augen. Sie war aber am stärksten nicht von den Perlen betroffen, nicht von Karen, von Karens grauenvollem Glück, sondern von Christians Handlungsweise, die sie erraten hatte.
Eines Sonntag Abends, als Isolde Schirmacher mit einem Gesellen ihres Vaters ausgegangen war, läutete Christian an der Hofmannschen Wohnung und bat Ruth, sie möge von der öffentlichen Sprechstelle in der Bornholmer Straße einem Arzt telephonieren; Karen befinde sich schlechter; ohne über Schmerzen zu klagen, liege sie still und erschöpft. Ruth eilte gleich selbst zu dem ihr bekannten Doktor Voltolini in der Gleimstraße und brachte ihn. Er untersuchte Karen, machte aus seiner Unsicherheit gegenüber den Symptomen keinen Hehl und gab einige allgemeine Ratschläge. Nachher saßen Ruth und Christian am Bett. Karen blickte mit weit offenen Augen in die Höhe. Ihr Mienenspiel veränderte sich beständig. Ihr Atem ging regelmäßig, aber hastig. Bisweilen seufzte sie. Bisweilen huschte ein schneller Blick in die Richtung, wo Christian saß, über ihn hinweg, an ihm vorbei. Ein paarmal starrte sie Ruth durchdringend an.
Am andern Tag kam Christian zu Ruth. Sie war allein. Sie war meist allein. Mit der Feder in der Hand öffnete sie die Zimmertür, die verriegelt war, da sie unmittelbar ins Treppenhaus führte. Ihr Blick war in einer anziehenden, geistigen Art verwirrt, doch auf Christians Frage, ob er störe, erwiderte sie mit einem Nein von beruhigender Entschiedenheit.
Er bot ihr die Hand; sie gab die ihre mit einem leichten Schwung, jungenhaft frisch.
Sie war gesprächig. Es war alles flink an ihr: Gang, Auge, Sprache, Entschluß und Tat.
»Ich muß sehen, wie Sie hausen,« erklärte sie und kam an einem der nächsten Vormittage zu ihm ins Quergebäude; ein bißchen atemlos, denn sie war nach ihrer Gewohnheit die Treppen herabgerannt, immer zwei Stufen auf einmal. Ungeniert musterte sie den Raum, verbarg einen tiefen Ernst hinter munterer Beweglichkeit, setzte sich harmlos auf die Tischkante, zog aus der Tasche einen Apfel und biß hinein. Sie sagte, sie habe wegen Karen mit einer ihr bekannten Assistentin an der Poliklinik gesprochen; sie wolle kommen und Karen untersuchen.
Christian dankte ihr. »Ich glaube, daß da Ärzte nicht viel helfen können,« sagte er.
»Warum nicht?«
»Ich kann es nicht begründen. Die Natur geht einen so logischen Weg in allem, was Karen betrifft.«
»Vielleicht haben Sie recht,« antwortete Ruth, »aber das läßt auf wenig Vertrauen zur ärztlichen Wissenschaft schließen. Ist es so? Weshalb studieren Sie dann Medizin?«
»Reiner Zufall. Von hundert Türen ins Freie eine, auf die einer wies. Es schien mir, man könnte da am ehesten gebraucht werden. Man hat zu tun, ein Ziel ist gegeben. Was drum und dran hängt: – Menschen; es sind eben Menschen.« Triftigeres, das er hätte erwidern können und in ihm wühlte, war noch nicht reif für das Wort; darum hielt er sich im Banalen.
»Ja, Menschen,« sagte Ruth und blickte ihn forschend an. Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Sie müssen vieles wissen. In Ihnen muß vieles sein.«
»Wie –? Wie meinen Sie das: vieles sein?«
Sie war der erste Mensch, in dessen Gesellschaft er sich von dem Zwang zur Verstellung und Vorsicht ganz frei fühlte. Da war ein reines Element, aufgeschlossen, enthusiastisch, mitlebend, mitschwingend; der Instinkt eines jungen Tieres, das sicher schreitet. Die Lebensäußerungen waren wie Dank und von unwiderstehlicher Intensität. Aus Steinen wuchsen ihr Seelen zu. Sie war befreundet mit Wegen, Türen, Zäunen, Laternen, Ladenschildern. Sie vergaß nicht, Worte nicht, Bilder nicht. Die Ungeduld, Empfundenes zu sagen, der Mut zum eigenen Herzen gab der Atmosphäre um sie einen bestimmten Charakter wie kräftiger Pflanzengeruch.
Erlebtes kam ihr einfach vor; es hatte sein Gesetz. Die Sterne diktierten das Schicksal; das Blut war der Strom, in dem es rann; der Geist formte, leuchtete, reinigte.
Sie sprach vom Vater.
David Hofmann, Typus des jüdischen Kleinbürgers aus dem Osten des Reichs, war Handelsmann gewesen, hatte ein Geschäft errichtet, war zugrunde gegangen, hatte den Wohnsitz verändert, um von vorn anzufangen, hatte durch unermüdliche Tätigkeit ein paar tausend Mark erübrigt und sich mit einem Betrüger verbunden, der ihn um sein Erspartes gebracht, hatte in Armut und Verschuldung abermals von neuem begonnen. Sein Fleiß war bienenhaft, seine Geduld nicht zu erschüttern. Er zog von Breslau nach Posen, von Posen nach Stettin, von Stettin nach Lodz, von Lodz nach Königsberg, wanderte im Winter über Land, von Dorf zu Dorf, von Gutshof zu Gutshof, sah die Frau hinsiechen und sterben, das jüngste Kind hinsiechen und sterben, und setzte schließlich die letzte Hoffnung auf die Millionenstadt. Vor anderthalb Jahren war er mit Ruth und Michael nach Berlin gekommen, und auch hier war er Tag und Nacht auf den Beinen. Mit erschöpftem Geist und geschwächtem Körper log er sich Aufschwung und krönenden Lohn für den Abend seines Lebens vor, aber das Gelingen blieb aus, und in den Stunden des Überblicks meldete sich Verzweiflung.
Sie sprach vom Bruder.
Michael war verschlossen; ein Knabe, der nie lachte. Er hatte keinen Freund, suchte keine Zerstreuungen, vermied die Gesellschaft von Menschen, litt an seinem Judentum, krampfte sich zusammen unter dem Haß, dem er überall zu begegnen wähnte, ließ jeden Zuspruch an sich abprallen, fand jede Tätigkeit zwecklos. Vormittags lag er stundenlang auf dem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, rauchte Zigaretten. Dann schlenderte er ins Kosthaus, wo er mit dem Vater zu Mittag aß, dann kehrte er heim, trieb sich im Hof und auf den Gängen herum oder an Fabrikstoren, an Zäunen, vor den Wirtschaften, stand mit eingedrücktem Hut und hochgezogenen Schultern beobachtend, ging wieder nach Hause, rekelte sich auf Stühlen, brütete stumpf, rauchte, verkroch sich scheu, wenn Ruth kam und sich zur Arbeit setzte, wenn der Vater kam und über Müdigkeit seufzte.
Seine Augen mit ihrem wie aus Brunnen emportauchenden Blick waren brombeerbraun, und wie bei Ruth waren die Sterne gegen das Weiße außerordentlich scharf abgehoben.
Ruth erzählte: »Neulich kam ich gerade dazu, als ihn ein halbes Dutzend Rangen verfolgte und ihm »Jud, Jud, hepp, hepp« nachschrie. Er schlich mit gekrümmtem Rücken und gesenktem Kopf. Sein Gesicht war käseweiß. Bei jedem Schmähwort zuckte er zusammen. Ich nahm ihn bei der Hand, er stieß mich zurück. Abends, als der Vater darüber klagte, daß ihm ein Geschäft mißlungen sei, fuhr Michael auf und sagte: Was willst du? Was willst du denn in so einer Welt? Sie ist ja zum Anspeien zu schlecht. Laß uns doch einfach verhungern. Wozu die ganze Quälerei? Der Vater war bestürzt und konnte ihm nichts antworten. Der Vater glaubt sich von Michael gehaßt, weil es ihm nicht gelungen ist, uns vor der Not zu bewahren. Es nützt nichts, es ihm auszureden, er fühlt sich schuldig, fühlt sich schuldig vor uns, seinen Kindern, und das ist hart, härter als Not.«
Sie hielt es für ihre Pflicht, den Wankenden, der sich mit Selbstvorwürfen peinigte, Hoffnungen zu geben. Sie tröstete ihn durch ihre holde Heiterkeit. Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, daß sie unscheinbar wurden, war Lust für sie.
Als siebenjähriges Kind hatte sie die Mutter in der Todeskrankheit gepflegt. Sie hatte Magddienste verrichtet und am Herd gekocht, als sie noch kaum zu den Topfdeckeln reichen konnte. Sie hatte den Bruder betreut, Botengänge getan, Gläubiger vertröstet, von Gerichtsvollziehern den Pfändungsaufschub erwirkt, hatte Kunden geworben, fällige Gelder einkassiert, bei jedem Domizilwechsel die Menschen freundlich gestimmt, von denen man abhängig war, in jeder neuen Wohnung die Ordnung hergestellt; sie hatte Wäsche ausgebessert, Kleider instand gehalten, Sorgen verscheucht, Widrigkeiten vergessen gemacht, in trüben Stunden Frohsinn verbreitet, und wo Bitterkeit bis an den Rand des Daseins stieg, noch Süßes gefunden.
Christian fragte, was sie arbeite. Sie erwiderte, sie bereite sich für die Matura vor. Sie hatte einen Freiplatz im Gymnasium. Um den Vater zu entlasten, dessen Verdienst täglich knapper wurde, erteilte sie Stunden. Den Abend dem Tag, die Nacht dem Abend zuzulegen, kostete sie nicht einmal einen Entschluß. Fünf Stunden Schlaf erfrischten und erneuerten sie vollkommen. Am Morgen bereitete sie das Frühstück, räumte das Zimmer und die Küche auf und trat dann ihren Pflichten- und Arbeitsweg in einem Tempo und mit einer Miene an, die glauben machten, sie begebe sich auf eine Vergnügungsreise. Das Mittagessen hatte sie in der Tasche. War es zu frugal, so lief sie um die Vesperzeit geschwind zu einem Automaten.
Eines Abends kam sie von einer Ausspeisehalle, wo sie zweimal wöchentlich eine halbe Stunde Hilfsdienst leistete, und erzählte Christian von den Menschen, die sie dort zu sehen gewohnt war, den Vernichteten der Großstadt. Sie ahmte Gesten nach, ahmte Mienen nach, gab Bruchstücke erlauschter Gespräche wieder, malte die Gier, den Ekel, die Verachtung, die Scham; es war unerhört beobachtet. Christian begleitete sie das nächste Mal. Er sah wenig, fast nichts. Er sah Leute in defekten Kleidern, die eine karg bemessene Mahlzeit freudlos hinunterschlangen, Brotrinden in die Suppen tunkten und verstohlen den letzten leergegessenen Löffel noch einmal ableckten; hagere Gesichter, trübe Augen, Stirnen, wie mit der hydraulischen Presse eingedrückt, und über dem Ganzen nüchterne Ruhe wie über stillstehenden Maschinen. Er war gequält, als hätte man ihm einen Brief in einer unbekannten Sprache gegeben, und er fing an zu begreifen, daß er nicht sehen und fühlen konnte.
Obgleich er sich in keiner Weise auffällig bemerkbar machte und auf den ersten Blick nicht anders wirkte als ein beliebiger Mensch von der Straße, ging eine gewisse Bewegung durch den Saal, nicht länger als drei Sekunden dauernd. Die Welle flutete auch über Ruth hinweg; sie schöpfte gerade Gemüse aus einem riesigen Kessel in hundertzwanzig in vierfachem Kreis aufgestellte Teller; sie schaute verwundert empor; ihr Blick blieb auf dem vornehmen, fast lächerlich höflichen Gesicht Christians haften, und sie empfand Schrecken; mystisch empfänglich spürte sie die Ausstrahlung einer Kraft, die ungenützt im Luftraum, vergraben in einer Seele lag. Sie neigte das Haupt über den dampfenden Kessel, daß die vorfallenden Haare die Wangen verdeckten, und indes sie fortfuhr, Gemüse zu schöpfen, dachte sie an ihre Schützlinge, an die vielen, die zu einer Stunde dieses Tages oder des nächsten oder des dritten auf sie harrten, Leidende, Verstrickte, Niedergebrochene, denen sie etwas zu sein und zu geben glühend bemüht war, und denen sie doch niemals sein und geben konnte, was sich ihr unter der drei Sekunden dauernden Wellenbewegung als das wunderbar Mögliche unerwartet offenbart hatte.
Man müßte knien, dachte sie in einer ihr sonst fremden Überschwenglichkeit, knien und sich tief sammeln, tief, tief versenken . . .
Die hundertzwanzig Blechteller waren gefüllt.
Ihre Schützlinge; da gab es ein junges Mädchen in einer Blindenanstalt; dem las sie an Sonntagabenden vor. Da gab es ein Obdachlosenasyl in der Ackerstraße; in diesem hielt sie Musterung unter den Verwahrlosesten und warb um Hilfe bei Männern und Frauen, an deren Türen zu klopfen ihr für solchen Zweck erlaubt worden war. In einer Moabiter Wärmestube hatte sie ein Weib mit einem Kind an der Brust getroffen, beide einen Schritt vom Hungertod; sie hatte sie gerettet, der Frau Arbeit und Unterkunft verschafft, das Kind in ein Säuglingsheim gebracht. Sie ließ sich daran nicht genügen; sie trachtete nach menschlicher Beziehung, suchte Vertrauen zu gewinnen, besorgte Korrespondenzen, griff vermittelnd in schwierige Lebensverhältnisse, und so hatte sie aus jenem Weib, einer zwanzigjährigen Heimatlosen, eine ihr fanatisch ergebene Freundin gemacht.
Sie wußte so viele Namen von Gefährdeten, so viele Häuser, wo die Not herrschte; einmal erregten bei einer sozialdemokratischen Frauenversammlung abseits kauernde Kinder ihr Interesse; das andre Mal kam sie in die Wohnung eines streikenden Arbeiters; einmal war sie dabei, als man eine Selbstmörderin aus dem Spreekanal zog und eilte zu den Angehörigen; das andre Mal war sie zwischen einer Unterrichtsstunde und einem Gang in die Charité am verschmierten Marmortisch eines Winkelcafés zu finden, wo sie sich mit einen relegierten Studenten namens Jacoby verabredet hatte, der in schlechter Gesellschaft und in Mangel zu verkommen drohte. Sie disputierte mit ihm, stritt über seinen Glauben, seine Prinzipien, seine Freunde, überredete ihn zu neuem Mut, zu neuen Versuchen.
In der Parallelstraße zur Stolpischen, Czernikauer Straße, wohnte ein Maschinenschlosser namens Heinzen mit seiner Familie, der durch einen Betriebsunfall in der Fabrik beide Beine verloren und infolge des erlittenen Nervenchoks auch eine allgemeine Lähmung zurückbehalten hatte. Er lag meist in einem krampfähnlichen Zustand, und eines Tages hatte ein Hausgenosse, der ihn besuchte, die Wahrnehmung gemacht, daß das Gliederreißen, von dem er geplagt war, eine unmittelbare Linderung erfuhr, sobald ihn Heinzen an irgendeiner Stelle seines Körpers mit der Hand anrührte. Dies hatte sich wie Lauffeuer verbreitet; man sprach von magnetischer Wunderheilung, und es kam eine Menge bresthafter Leute, die bei Heinzen Genesung zu finden hofften. Er nahm kein Geld; die Gläubigen, deren Zahl sich täglich vermehrte, brachten seiner Frau Naturalien oder sonstige Geschenke.
Ruth hatte davon gehört. Sie war bei Heinzen gewesen. Erfüllt von Gesehenem, schilderte sie Christian ihre Eindrücke in ihrer lebhaften Art.
Christian sah sie verwundert an. »Ruth, kleine Ruth,« sagte er kopfschüttelnd, »das sind so schwere Dinge. Hat man einmal angefangen, sich damit zu beschäftigen, so reicht das Leben nicht mehr für sie. Ich dachte immer, wenn man nur einen einzigen Menschen ganz ausschöpfte, wüßte man viel und könnte sich zufrieden geben. Aber es ist wie das Meer. Können Sie überhaupt sein, ohne eine Minute lang nicht daran zu denken? Und wie kommt es dann, daß Sie immer so aufgeräumt sind? Ich versteh es nicht.«
Mit glänzenden Augen blickte Ruth vor sich hin; plötzlich erhob sie sich, nahm vom Bücherbrett ein schmales gelbes Buch, blätterte drin und las mit kindlicher Betonung vor: »Die Freude der Fische. Tschuang-Tse und Hui-Tse standen auf einer Brücke, die über den Hao führt. Tschuang-Tse sagte: ›Sieh, wie die Elritzen umherschnellen! Das ist die Freude der Fische.‹ ›Du bist kein Fischt sagte Hui-Tse, ›wie willst du wissen, worin die Freude der Fische besteht?‹ ›Ich bin nicht wie du,‹ bestätigte Hui-Tse, ›und weiß dich nicht. Aber das weiß ich, daß du kein Fisch bist, so kannst du die Fische nicht wissen.‹ Tschuang-Tse antwortete: ›Kehren wir zu deiner Frage zurück. Du fragtest mich, wie kannst du wissen, worin die Freude der Fische besteht? Im Grunde wußtest du, daß ich es weiß, und fragtest doch. Gleichviel. Ich weiß es aus meiner Freude über dem Wasser.‹«
Christian dachte über das Gleichnis nach.
»Wissen Sie es nicht auch, Sie, gerade Sie, aus Ihrer Freude über dem Wasser?« fragte Ruth, den Kopf vorbeugend, um seinen Blick zu erhaschen.
Christian lächelte unsicher.
»Wollen Sie nicht morgen mit mir zu Heinzens gehen?« fragte Ruth.
Er nickte und lächelte abermals; er begriff plötzlich, was für ein Menschenwesen da neben ihm saß.
Um zwei Uhr nachts erhob sich Christian vom Tisch, in Karens Stube, und klappte seine Bücher zu. Er ging zum Sofa, um sich in Kleidern hinzulegen. Karen hatte gegen Abend starkes Fieber bekommen. Die Ärztin, an welche Ruth sich gewendet, war mittags dagewesen. Sie hatte von Knochentuberkulose gesprochen.
Auf einem hölzernen Sessel am Ofen lag zusammengerollt eine kleine weiße Katze. Sie war vor wenigen Tagen zugelaufen und hatte sich heimisch gemacht, da niemand sie vertrieb. Christian hatte von jeher einen Widerwillen gegen Katzen gehabt, er blieb einen Augenblick stehen und besann sich, ob er sie nicht aus dem Zimmer jagen solle. Sie betrachtend dachte er aber an andres.
Ruth, kleine Ruth, ging es ihm durch den Kopf.
Karen schlief schwer. In ihrem vom Lampenschein nicht mehr gestreiften Gesicht waren die Muskeln straff gespannt. Ein Traum wütete hinter der verfalteten Stirn. Im Munde sammelte sich ein furchtbarer Schrei.
Der Traum: sie stand vor einer Scheune, die hoch oben eine Luke hatte. Ein Mann und ein Weib waren eben dort verschwunden. Man wußte sofort, zu welchem Zweck. Zwei Burschen standen im Dunkel, halb unsichtbar. Die Träumende spürte erbost, daß sie lüstern waren, lüstern horchten. Sie selbst war von jenem sinnlichen Neid und Haß gequält, mit dem man Liebesfreuden andrer beobachtet. Das Blut kitzelte, das Herz schlug stark. Da schien die Scheune sich zu drehen, oder man wechselte unmerkbar den Platz. Die Scheune war offen; es fehlte einfach eine Wand. Aber nicht oben lag das Paar, wie man erwartet, sondern in der Tiefe. Der Mann war in Kleidern und bewegte sich in der Wollust, gleichmäßig wie eine Maschine; von dem Weib sah man nur schwarze Strümpfe im Stroh. Etwas unnennbar Ekles strömte von ihnen aus, erhitzte, süßliche Luft; die halb unsichtbaren Burschen, vom Veitstanz ergriffen, warfen sich aufeinander. Die Träumende wurde ihrer Grenzen beraubt; sie war nicht mehr Karen, sie war der sinnliche Dunst, sie war das Weib unter dem Mann, sie verirrte sich ins Stroh, ins braunrote Licht, in die schwarzen Strümpfe; sie lag da, und ihr Leib schwoll auf, schwoll und schwoll zu einer gallertigen, graugelben Kugel, schwoll bis an das Dach der Scheune, die Kugel wurde durchsichtig, und in ihrem Innern sah man Eidechsen, Kröten, kleine rötliche Pferde, auf denen winzige Reiter saßen, Soldaten, Spinnen, Würmer, ein entsetzliches Gewimmel. Die ekle Gier, von der alles durchdrungen war, verwandelte sich in eine erstickende Qual; die Kugel zersprang, eine Leiche flatterte umher wie verbranntes Papier, ein weißer Schatten dehnte sich aus, Karen schrie gräßlich und fuhr, erwacht, aus den Knien empor.
Ihre erste Bewegung war der Griff nach den Perlen.
Christian trat an ihr Bett.
Verstört murmelte sie: »Du bist noch da? Was tust du denn?«
Er reichte ihr Wasser. »Mir hat geträumt,« sagte sie und nippte mit zitternden Lippen am Glas. Schon zerfielen die Elemente des Traums und entzogen sich dem Wort; im gleichen Maß nahm das Gefühl seiner Schrecklichkeit zu. In der Tiefe des Bewußtseins zuckte Todesfurcht.
»Mir hat geträumt,« wiederholte sie schlotternd. Nach einer Weile fragte sie: »Warum bist du noch wach, so spät? Was hast du denn den ganzen Tag gemacht, daß du in die Nacht hinein schuften mußt? Warum schuftest du dich so, sag mir?«
Er schüttelte den Kopf. Ruth, kleine Ruth, ging es ihm durch den Sinn. »War nicht deine Mutter heute bei dir?« fragte er und glättete das Kissen.
»Sag mir doch, was hast du den ganzen Tag über gemacht?« beharrte sie.
»Vormittag war ich in der Vorlesung.« – »Und dann?« – »Dann bin ich zu Botho Thüngen gegangen, er hatte dringend mit mir zu sprechen.« – »Und dann?« – »Dann bin ich mit Lamprecht und Jacoby bei einer Gerichtsverhandlung gewesen. Ein Dienstmädchen aus der Kurfürstenstraße hat ihr Kind nach der Geburt erdrosselt.« – »Haben sie sie eingelocht?« – »Fünf Jahre Zuchthaus. Ich habe sie in der Zelle gesehen. Der Verteidiger hat uns zu ihr geführt. Lamprecht hat mit ihr gesprochen. Sie war wie irrsinnig. Sie sah mich immerfort an.« – »Und dann, wo warst du dann?« – »Dann hab ich Amadeus Voß getroffen. Er hat mir geschrieben.« – »Hat er Geld verlangt?« – »Nein; er hat verlangt, daß ich kommen soll, wenn Johanna Schöntag bei ihm ist.« – »Wer ist das?« – »Eine Freundin von früher.« – »Was will sie von dir?« – »Ich weiß es nicht.« – »Und dann?« – »Dann bin ich über Moabit und Plötzensee nach Hause gegangen.« – »Zu Fuß? Den weiten Weg? Und dann?« – »Dann war ich ja hier.« – »Aber nicht lange, und dann?« – »Dann war ich drüben bei Ruth.« – »Was tust du immerfort bei der Jüdin?« murmelte Karen mit finsterm Gesicht. »Gib mir deine Hand,« stieß sie plötzlich rauh hervor, streckte ihre Rechte hin und krampfte die Linke um die Perlen unter der Decke. An der Linken hatte sie sich verletzt. Als die Witwe Engelschall dagewesen war, hatte sich Karen mit den eigenen Fingernägeln verwundet, so angstvoll hatte sie nach dem versteckten Schmuck gegriffen.
Die Witwe Engelschall hatte ein erpresserisches Schriftstück an den Geheimrat Wahnschaffe abgefaßt und es Karen vorgelesen. Die Sache war die: Niels Heinrich hatte im Baubureau zweitausend Mark unterschlagen, die mußten beschafft werden, sonst drohte Anzeige. In dem Brief an den Geheimrat wurden unverschämt zehntausend gefordert. Da Karen die Absendung des Schreibens verhindern gewollt, hatte die Witwe Engelschall randaliert.
Es war fast gut, daß man krank war. Doch weshalb gab er ihr nicht seine Hand?
Die kleine Katze war vom Stuhl gesprungen; mit emporgerichtetem Schwanz stand sie vor Christians Füßen, zwinkerte leise miauend empor, schien unschlüssig, faßte plötzlich Mut und sprang auf seine Knie. Einen Moment lang kämpfte er noch mit dem Widerwillen, dann reizte ihn das weiße Fell, die graziöse Bewegung, er berührte schüchtern Kopf und Rücken des Tierchens, beugte sich herab zu ihm und lächelte. Die kleine Katze gefiel ihm.
»Wo hast du mein Kind hingetan?« hatte Karen ihre Mutter gefragt. Die Antwort war schepperndes Gelächter gewesen. Wüßte er, daß sie nach dem Kind gefragt, er hätte sie vielleicht freundlich angeschaut. Aber sie konnte es nicht sagen. Auch war ihr bang, als sie sich des Gelächters erinnerte.
Eine Weile noch hielt sie stumm die Hand hin, dann ließ sie sie fallen, streifte die Decke zurück und kroch aus dem Bett. Sie wimmerte seltsam. Auf dem Bettrand sitzend, gegenüber Christian, starrte sie eisig und wimmerte. Man konnte die Worte kaum hören: »Er gibt einem nicht die Hand«; sie blies sie nur so hin. Barfuß, im langen Hemd, gebückten Rückens ging sie bis zum Ofen, kauerte sich dort in den Winkel, steckte den Kopf zwischen die Arme und heulte laut auf.
Erstaunt und erstaunter verfolgte Christian ihr Gehaben. Die kleine Katze hatte sich in seine Hand geschmiegt, und mit ihrem rosigen Schnäuzchen stieß sie schnurrend gegen seine Brust. Dies erregte eine Freude in ihm, wie er sie lange nicht gefühlt, und er wünschte heimlich, mit dem Tierchen allein zu sein, um mit ihm zu spielen. Zugleich aber entsetzte ihn Karens Tun; er stand auf, ohne das Kätzchen von sich zu lassen, ging hin und kniete nieder und fragte Karen, was ihr sei, und bat sie, sich doch wieder ins Bett zu legen. Doch Karen achtete nicht auf seine Worte. Sie krümmte sich verzweifelt und hörte nicht auf zu heulen.
Es war das Chaos, das da heulte.
Zu den Kumpanen Niels Heinrich Engelschalls gehörte Joachim Heinzen, der Sohn des verunglückten Metallarbeiters, ein höchst einfältiger Mensch. Sein wahlloser Hang zum weiblichen Geschlecht gab ihn bösartigen Scherzen preis, und da infolge der Lächerlichkeit, die ihm anhaftete, sich jedes Frauenzimmer hütete, in seiner Gesellschaft gesehen zu werden, erfaßte ihn nach und nach eine stille Wut, die den Umgang mit ihm gefährlich machte, obwohl er im allgemeinen ziemlich gutmütig war.
Neben einigen andern Weibern hatte die rote Hedwig sein Gefallen erregt. Er schlich ihr im Dunkeln nach, und in den Kneipen setzte er sich an einen Tisch in ihrer Nähe und stierte sie an. Sie wies seine Annäherungsversuche höhnisch zurück, auch als er einen Vermittler mit Geldversprechungen zu ihr schickte. Solange sie in vertrauten Beziehungen zu Niels Heinrich Engelschall stand, wagte er nichts weiter zu unternehmen, und sein Interesse schien sogar abgekühlt, aber nachdem ihr dieser den Laufpaß gegeben hatte, fing er wieder an, ihr nachzustellen. Seine Mühe war so fruchtlos wie vorher.
Da kam ihm Niels Heinrich selber zu Hilfe. Er erbot sich, ihm die rote Hedwig zu verschaffen, wenn er ihm einen blauen Lappen zahlen wolle. Joachim Heinzen zögerte, eine so große Summe aufzuwenden. Sie wurden in dem Sinne handelseins, daß er vorläufig die Hälfte des Kuppelpreises entrichtete, die andre Hälfte sollte in Raten gezahlt werden. Die rote Hedwig, durch Niels Heinrich in Angst gesetzt, war ihm wohl ein paarmal zu Willen, aber er fand nicht das erhoffte Vergnügen bei ihr, denn seit dem Bruch mit dem früheren Liebhaber betrank sie sich täglich und führte wüste Szenen auf. Er behauptete, Niels Heinrich habe ihn übers Ohr gehauen, weigerte sich, die Raten zu zahlen, und forderte auch die fünfzig Mark zurück. Sie gerieten in Streit.
Niels Heinrich fürchtete den Dummkopf nicht, und es wäre ihm ein leichtes gewesen, sich ihn vom Halse zu schaffen, aber da er unbeschränkte Herrschaft über ihn besaß und ihn bei verschiedenen Gelegenheiten für nützlich befunden hatte, wollte er es nicht bis aufs äußerste kommen lassen und traf Anstalten, ihn zu begütigen. Er zeichnete ihn schmeichelhaft aus, erlaubte ihm, in der Kneipe an seiner Seite zu sitzen, und ergriff bei Spöttereien und Händeln seine Partei. In seinem Hirn entstand Verworfenes und zog mit zielvoller Langsamkeit Kreis um Kreis. Finstere Pläne beschäftigten ihn, waren aber noch ohne festen Umkreis. Er erwählte sich eine Kreatur und war sich über ihre Verwendung noch nicht im klaren; er sah bloß die Brauchbarkeit zu jedem, auch zum schrecklichsten Dienst und dabei einen gewissen Grad von Unschuld. Vielleicht gewann ein Vorhaben, mit dem seine Gedanken nur zynisch und bildlos gespielt, erst in dem Sklavenblick des geistesschwachen Individuums Greifbarkeit; vielleicht entzündete ihn dies, flößte ihm Mut ein und machte seine Phantasie, die am Abgrund des Menschlichen hing, ausschweifend.
Er sagte zu Joachim, mit der roten Hedwig sei nichts los; die sei eine abgetakelte Schraube, ein verpestetes Aas. Da könne er ganz andre haben, wenn er nur die Augen auftun wolle. Ha, da gäbe es welche, nach denen müsse man sich die Finger lecken; ein Graf könne sich gratulieren. Da gäbe es welche, da und da, und dort und dort, solche und solche, fein, pikfein, namentlich von Leibesart. Na wo denn? wer denn? schnappte der armselige Kerl. Da wisse er zum Beispiel eine Jüdin, erklärte Niels Heinrich mit Feixen, Donnerlittken, wei Backe; die müsse man sehen. Wie'n geschältes Ei. Stramm auf den Beinen. So und so; nicht zu fett, nicht zu mager; Augen wie die Irländerin im Kientopp, Haare wie der geschniegelte Schwanz von nem Vollblut, das zum Start geht; alles übrige direktemang zum Reinbeißen. »Nanu wirds Dag,« antwortete Joachim Heinzen verblüfft, »Junge, Junge.«
Es verursachte Niels Heinrich ein düsteres Behagen, dem Menschen immer wieder von der Jüdin zu erzählen. Er erfüllte ihn damit; er reizte ihn auf damit. Er richtete die unflätigen Begierden des Idioten auf ein Wesen, das dieser noch nicht einmal erblickt hatte. Außerdem malte er sie für sich selbst, steigerte sich, hetzte sich, machte sich selber ungeduldig, hielt sich selber zum besten, um im Zorn über das Unerreichbare die frechen Geburten seiner Einbildung auf die Möglichkeit der Verwirklichung zu prüfen. Er nahm Joachim in die Stolpische Straße mit, und sie lauerten gemeinsam auf Ruths Heimkehr. Da zeigte er ihm das Mädchen, und sie gingen hinter ihr bis zur Stiege. Ruth war tief geängstigt.
Es fügte sich dann, daß sie von einer Studentin, die in der Czernikauer Straße wohnte, auf die merkwürdigen Heilerfolge des alten Heinzen aufmerksam gemacht wurde; aber als sie hinging, wußte sie nicht, daß Joachim Heinzen der eine ihrer Verfolger war, erkannte ihn auch nicht, als sie ihn im Zimmer gewahrte. Sie war nur beunruhigt durch sein entgeistertes Glotzen.
Aufgeregt meldete Joachim seinem Beschützer, daß er die Jüdin, die er bereits wie seine Leibeigene betrachtete, bei seinem Vater gesehen. »Na, Junge, so 'n Dussel,« sagte Niels Heinrich kalt. Über die Wunderkuren des alten Heinzen hatte er sich schon früher mit giftigem Hohn geäußert. So tat er auch jetzt und fügte hinzu, wenn die Jüdin bei Vater Heinzen gewesen sei, habe es nur den Grund, daß sie ein Auge auf Joachim geworfen habe; das leide nicht den mindesten Zweifel. Joachim grinste. In der Spelunke »Zum grünen Hund«, wo sie nächtlicherweile verkehrten, hatte Niels Heinrich mit überlegter Berechnung dafür gesorgt, daß die vermeintlich in Sicht stehende Liebschaft des Idioten von vielen besprochen und glossiert wurde. Daß man ihn hänselte, merkte Joachim nicht. Er zog Niels Heinrich beiseite und fragte, wie er sich der Jüdin am schnellsten nähern könne; Niels Heinrich schaute ihn spöttisch an und sagte, der Zeitpunkt sei noch zu verschieben, solches müsse schlau eingefädelt werden; die Jüdin sei mißtrauisch und überdies eins von den neumodischen studierten Menschern, der dürfe man nicht so klatrig kommen, das müsse mit Eleganz gedeichselt werden. Aber der einfältige Mensch ließ nicht nach. Er sagte, er wolle zu ihr in die Wohnung gehen und sie für Sonntag zum Ball bei Knotze einladen. Niels Heinrich schlug eine Lache auf. »Du hast woll 't jroße Traller?« versetzte er; »verrückt und drei macht neune.« Sein Gesicht verfärbte sich, dann lachte er von neuem und sagte: »Minne, mach Licht, oder ick sterbe im Dustern.«
»Warten und aufpassen,« sagte er; »die Judenschickse wird in den nächsten Tagen wieder bei Vater Heinzen vorkommen; da leg ich zehn gegen eins für. Ich stell nen Spion auf Posten, und du bleib hübsch zu Hause und sieh zu, daß du die richtige Zeit nicht verbummelst.«
Er schlug ihm die Hand auf die Schulter; er stand da wie ein Pfahl, eng, dürr, spitz. Auf dem Damm gegen Weißensee schmetterten die Räder eines Schnellzugs auf den Schienen.
Ruth und Christian traten in eine schlechtbeleuchtete, schlechtriechende Stube. Die Tür zu dem kleinen Vorraum stand offen, ebenso die in ein anstoßendes Zimmer führende, da sich ziemlich viele Leute im Wohnzimmer befanden. Unbekümmert um die fremden Menschen saß Mutter Heinzen an einem runden, mit zahllosen Gegenständen, Feilen, Schachteln, Tintenzeug, sogar ein Paar Schuhen bedeckten Tisch und schälte Kartoffeln. Im Hintergrund, an einem zweiten Tisch, der schmal und massiv war wie eine Hobelbank, waren Joachim Heinzen und ein Lehrling damit beschäftigt, mit Handmaschinen Metallkapseln zu stanzen. Der alte Heinzen lag in einem Korbsessel; der untere Teil seines Körpers war in ein gefranstes schwarzes Tuch gehüllt, das den Blicken die Verstümmelung entzog. Das Gesicht, zurückgelehnt, hager und fast regungslos, mit dicken, violett entzündeten Lidern, einem schütteren Bart und einer scharfen, geraden Nase, zeigte keine innere Beteiligung an den Vorgängen, die sich um ihn abspielten.
Einige tuschelnde Weiber standen ihm zunächst. Etwas abseits bildeten ein Unteroffizier, ein Metzgergeselle mit blutiger Schürze und aufgestreiften Ärmeln, ein Mädchen von der Heilsarmee mit einer blauen Brille und ein Lohndiener in einer Phantasieuniform eine Gruppe. Hinter Christian und Ruth erschien ein Mensch, dessen Kopf mit weißen Binden umwickelt war, die nur einen Spalt für die Augen freiließen, ferner ein furchtsam aussehender Mann, der an Krücken ging, und ein Weib, dessen Gesicht von ekelhaftem Schorf bedeckt war. Andre Gestalten wurden nach und nach auf dem Vorplatz sichtbar.
Niemand traute sich noch in die Nähe des Wundertäters, da drängte sich hastig und keuchend eine Frau ins Zimmer, die ein drei- bis vierjähriges Kind auf dem Arm trug. Das Kind war bleigrau im Gesicht, hatte die Augen in die Winkel verkrampft, und Hals und Glieder waren widernatürlich verdreht. Da die Frau am ganzen Leib bebte und nicht wußte, wohin sie sich wenden sollte, nahm ihr Ruth das Kind ab und trug es zum alten Heinzen hin. Die Leute machten ihr willig Platz. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck strahlenden Wohlwollens.
Joachim Heinzen stand auf, indes der Lehrling eine Partie fertiger Kapseln in einen mit Sägespänen gefüllten Korb warf und diesen schüttelte. Die Hände in die Hüften gestemmt, trat Joachim dicht an den Stuhl seines Vaters heran und verschlang Ruth mit den Blicken. Sein Mund war offen, der Kopf vorgestreckt, alles an ihm verriet höchste Erregung. Ruth hielt dem alten Heinzen das Kind hin und sagte etwas, was wegen des Geklappers der Kapseln unverständlich blieb. Da winkte Joachim drohend zurück, und der Lehrling stellte den Korb zu Boden.
Der alte Heinzen schlug die Augen auf und erhob den rechten Arm. Das war die Heilgebärde, und ein Schweigen entstand, daß man ein Zündholz hätte fallen hören können. Christian beobachtete, mit welcher Hingebung, welcher liebevollen Bewegung Ruth das epileptische Kind dem siechen Mann entgegenhielt; da durchzuckte es ihn, und er fragte sich bestürzt: Glaubt sie denn daran? Ist es möglich, daran zu glauben? In dem Maß, wie seine Bestürzung zunahm, wuchs die Ahnung von etwas Unbekanntem und Unfaßbarem; wie oft in Situationen, die eine außergewöhnliche Empfindung in ihm hervorriefen, mußte er sich einer heimlichen Lachlust erwehren, und er schaute verlegen zu Boden.
Auf einmal ließ Heinzen den aufgehobenen Arm wieder fallen. Er schien beirrt. Er rückte mit Kopf und Schultern und sagte mit matter Stimme: »Es geht nicht heute. Es ist einer da und nimmt mir die Kraft. Es geht nicht.«
Diese Worte machten tiefen Eindruck auf alle. Die Augen begannen zu suchen. Sie glitten von einem zum andern. Köpfe wandten sich, Pupillen liefen unruhig. Es verging keine Minute, da hatten sich die Blicke aller im Zimmer befindlichen Menschen auf Christian gerichtet. Sogar die kartoffelschälende Mutter Heinzen war aufgestanden und starrte ihn an.
Christian hatte Heinzens Worte gehört. Was forderten die Augen der Menschen? Was bedeutete das? Fragten sie? Wünschten sie? Zürnten sie? War etwas an ihm oder in ihm, das sie beleidigte und störte? Doch schienen sie eher scheu und verwundert als gegen ihn eingenommen zu sein. Das zweideutige Lächeln schwebte um seine Lippen, seiner Stummheit altes Siegel; indem er wie um Hilfe bittend emporschaute, begegnete er dem Blick Ruths, und in diesem lag leuchtendes Verstehen und jene silberne, geistige Liebe, die alle ihre Lebensäußerungen durchdrang.
Die Mutter des Kindes stieß einen Schrei aus. »Wie denn, nimmt dir die Kraft?« schrie sie entsetzt; »besinn dir doch, Mann; um Jottes willen, besinn dir doch!«
»Kanns nicht anders sagen,« murmelte Heinzen, »es ist einer da und nimmt mir die Kraft.«
»Und hat er denn die Kraft?« rief das Mädchen von der Heilsarmee in gellendem Ton.
»Das weiß ich nicht,« antwortete Heinzen gedrückt; »möglich, aber ich weiß es nicht.«
Christian trat langsam zu Ruth heran, die noch immer das Kind im Arm hielt, beugte sich und schaute auf das leblose Wesen nieder. In diesem Moment löste sich der epileptische Krampf; Schaum perlte aus dem Mund, ein leises Weinen wurde vernehmbar.
Die Bewegung der Gemüter ergab ein Atemholen wie aus einer einzigen Brust.
In das Schweigen drang Lärm von draußen. Man hatte schon vorher Gelächter und Schimpfen gehört, es verstärkte sich jetzt, und an der Tür zeigten sich Niels Heinrich Engelschall und die rote Hedwig.
Er zerrte die Person ins Zimmer, die betrunken schwankte, mit den Armen fuchtelte und schrill lachte. Von Niels Heinrich vorwärts geschoben, tastete sie mit ausgespreizten Fingern nach einer Stütze; die Menschen, nach denen sie griff, wichen unwillig zurück; Niels Heinrich packte sie an den Schultern und bugsierte sie zu Joachim Heinzen hin, wobei er kicherte; es hörte sich an wie das Gackern eines Huhns. Joachim erschrak und musterte die megärenhaft Aussehende düster und blöde. Sie schlang die Arme schlickernd um seinen Hals, hing sich an ihn und lallte; ihr weitrandiger, schwarzer Hut, auf dem eine grüne Feder wie ein Segel gehißt war, fiel in den Nacken. Joachim suchte sie abzuschütteln, heftete dabei die blöde aufgerissenen Augen auf Ruth, und da sie ihn immer fester umschlang, stieß er sie so roh gegen die Brust, daß sie mit einem Schmerzenslaut zu Boden stürzte und in einer schamlosen Stellung liegen blieb.
Leute eilten schimpfend und protestierend herzu. Einige bückten sich zu der Betrunkenen, die sogleich wieder zu schlickern und zu lallen anfing. Einige ballten die Fäuste gegen Joachim. Mutter Heinzen mischte sich beschwichtigend in den Tumult; Ruth flüchtete zu Christian und ergriff seine Hand. Da geschah das Unheimliche, daß Joachim Heinzen sie beim Arm faßte und sie, über die Breite eines Schrittes ungefähr, zu sich herüberriß. Entweder war es schwachsinnige Eifersucht oder der naiv-brutale Versuch, ihr zu erklären, daß er sich aus der roten Hedwig nichts mache und an dem Auftritt mit ihr schuldlos sei. Mit gläsernen Augen stierte er Ruth an; geiles Grinsen war in seinem Gesicht. Ruth schrie leise, hielt die flache Hand empor und wand sich ein wenig; ihre Lider waren gesenkt, und dies rührte Christian, der ruhig auf den Burschen zutrat und ruhig zu ihm sagte: »Lassen Sie sie los.« Joachim zögerte. »Lassen Sie sie los,« sagte Christian, ohne die Stimme merklich zu erheben. Da ließ er sie los und schnaufte.
Niels Heinrich schien sich ausnehmend gut zu unterhalten. Er machte die Leute, die nicht um die niedergestürzte Trunkenboldin beschäftigt waren, auf die beiden aufmerksam, stieß sein gackerndes Lachen aus und war bemüht, den Idioten anzueifern. »Uf de Beene, Joachim,« rief er ihm zu; »nimm se dir se denn se! feste mang.« Während er aber lachte und hetzte, blieben seine Brauen zusammengezogen, und der obere Teil seines Gesichts war in Finsternis geradezu erstarrt. Er hatte sich in der letzten Zeit ein schmales Kinnbärtchen stehen lassen, das eine rötliche Farbe hatte; es stieg beim Sprechen und Lachen steif auf und ab und verlieh dem Kopf etwas Wachsfigurenhaftes.
Als er sah, daß Christian der lümmelhaften Zudringlichkeit des Burschen Einhalt tat, pflanzte er sich vor ihm auf und sagte mit frecher, schneidender Stimme: »Morjen. Wir kennen uns, sollt ich meenen.«
»Gewiß, wir kennen uns,« antwortete Christian artig.
»Morjen hab ich Ihnen jewünscht,« sagte Niels Heinrich mit unverschämtem Hohn. Das Knebelbärtchen zuckte. Die Finsternis breitete sich von oben her über das ganze Gesicht.
»Guten Abend,« sagte Christian artig.
Niels Heinrich rieb die Zähne. »Morjen!« brüllte er in weißer Wut. Alle im Zimmer Anwesenden fuhren zusammen und hörten auf zu sprechen.
Christian blickte ihn schweigend an. Dann kehrte er sich gelassen zu Ruth und sagte: »Wir wollen gehen, kleine Ruth.« Er ließ ihr mit einer Weltmannsverbeugung den Vortritt; auch grüßte er die Nächststehenden höflich. Es war, als entferne er sich aus einem Salon.
Niels Heinrich starrte ihm mit vorgebeugtem Oberkörper nach, streckte die geballte Faust aus und machte eine Geste wie beim Drehen eines Schraubenziehers.