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Die Vierzig seien eine kritische Zeit für einen Mann, fand Crammon; da halte er inneres Gericht; er ziehe die Summe seines Daseins und finde Rechenfehler über Rechenfehler.
Die moralischen Beschwerden beeinflußten seine Haltung und Führung nur wenig. Der Lebensappetit wuchs, und das Alleinsein war ihm noch lästiger als früher. Es kam, wenn er allein war, etwas über ihn, was er die Melancholie des halbierten Zustands nannte.
In Paris wurde er von diesem Schicksal betroffen. Er hatte sich mit Felix Imhof und Franz Lothar von Westernach verabredet. Beide ließen ihn im Stich. Imhof war durch eins seiner Börsen- und Gründergeschäfte in Frankfurt zurückgehalten worden und hatte telegraphiert, er wolle später kommen. Franz Lothar war mit seinem Bruder Konrad und dem Grafen Prosper Madruzzi in der Schweiz geblieben.
Aus Verdruß brachte Crammon fast den größten Teil des Tages im Bett zu. Entweder las er unwürdige Schmöker, oder er maulte laut vor sich hin. Aus Verdruß ließ er sich vierzehn Paar Stiefel machen bei den drei oder vier Meistern der Zunft, die nur für Auserwählte arbeiten und ohne bedeutende Empfehlung sich zu keinem neuen Kunden entschließen.
Er hätte den September bei der Familie Wahnschaffe auf deren Gut im Odenwald verbringen sollen. Den jungen Wolfgang Wahnschaffe hatte er im letzten Sommer während des Tennisturniers in Homburg kennengelernt und seine Einladung angenommen. Aus Verdruß über die beiden Treulosen sagte er ab.
Eines Abends traf er auf dem Montmartre den Maler Weikhardt, den er aus München kannte. Sie gingen eine Weile miteinander, und Weikhardt ermunterte Crammon, ihn in ein nahegelegenes Saaltheater zu begleiten, es trete dort, seit einer Woche etwa, eine blutjunge Tänzerin auf; mehrere seiner französischen Kollegen hätten ihm dringend geraten, hinzugehen.
Crammon war einverstanden.
Weikhardt führte ihn durch ein Gewirr verdächtiger Gäßchen zu einem Haus, das nicht minder verdächtig aussah. Es war das Theater Sapajou. Ein phantastisch gekleideter Knabe öffnete ihnen die Tür eines mäßig großen, halbverdunkelten Raums mit purpurroten Wänden und einer Holzgalerie. Ungefähr fünfzig Menschen, meist Maler und Literaten mit ihren Frauen, saßen einer winzigen Bühne gegenüber. Die Vorstellung hatte schon begonnen.
Zwei Geigen und eine Klarinette machten Musik.
Und Crammon sah Eva Sorel tanzen.
Nun grollte er Franz Lothar und Felix Imhof nicht mehr; er war froh, daß sie nicht da waren.
Er fürchtete sich, einem seiner vielen Pariser Bekannten zu begegnen, und schlich mit gesenkten Augen durch die Straßen. Es war ihm widerwärtig, zu denken, daß er mit ihnen von Eva Sorel hätte reden müssen und daß sie dann eine gleichgültige oder neugierige Miene zeigen würden, ohne zu fühlen, was er fühlte.
Den Maler Weikhardt mied er, denn sein Anblick riß ihn aus der Illusion, daß er, Crammon, Eva Sorel entdeckt habe und daß sie vorläufig nur in seinem Bewußtsein als das Wunder lebte, das er in ihr sah.
Er ging umher wie ein verkannter Reicher und bekümmert wie ein Geizhals, der seinen Schatz von Dieben belauert weiß. Alle, die ein geschwätziges Entzücken aus dem Theater Sapajou in die Welt hinaustrugen, waren Diebe in seinen Augen, denn sie drohten die Schar der Dummen und Banalen hinter sich her zu ziehen, die das Große in den Staub schleifen, indem sie es zur Mode machen.
Es war sein Traum, die Tänzerin auf eine verlassene Insel im Ozean zu entführen. Er hätte sich dann begnügt, sie anzubeten, ohne ihr mit einem Wunsch zu nahen.
So wie er für Lorm, den Schauspieler, Beifall verlangt hatte, haßte er den Beifall, den die Tänzerin gewann. Nicht weil sie ein Weib war, nicht aus Männereifersucht. Er betrachtete sie gar nicht wie ein Weib. Sie war ihm als Wesen die Erfüllung dunkler Ahnungen und Gesichte; sie war das Leichte im Gegensatz zum Schweren, das in ihm und allen andern lastete; das Schwebende im Gegensatz zum Kriechenden, das Geheimnis im Gegensatz zum Wissen, die Figur im Gegensatz zum Wirrsal.
Er sagte: »Dieses berühmte zwanzigste Jahrhundert, so jung es ist, geht mir auf die Nerven, die Menschheit wälzt sich wie ein häßlicher, plumper Wurm über die Erde. Sie will von ihrer Wurmhaftigkeit befreit werden, und in ihrer Sehnsucht nach Entpuppung entsteht in ihr die Lust zu hüpfen. Es ist der Gipfel barbarischer Komik.«
Das Leben, das er führte, war ihm als herausfordernde Störung seiner schweißtriefenden Mitmenschen wohl bewußt. Er schwärmte von Zeiten, in denen die herrschende Klasse wirklich geherrscht, wo ein geistlicher Fürst unter den Angestellten seines Hofstaats einen Kapaunenstopfer gehabt und irgendein unbedeutender Reichsgraf eine Armee besoldet hatte, die aus einem General, sechs Obersten, vier Trommlern und zwei Gemeinen bestand.
Daß ihn die Tänzerin aus der Zeit riß, ganz anders noch als der Komödiant, das war es, was er ihr dankte.
Er schuf sich ein Idol, denn es kamen die Jahre, wo er dessen bedurfte, ein satter Gieriger, lüstern nach Vogelflug.
Eva Sorel hatte eine Gesellschafterin und Behüterin, Susanne Rappard; einen häßlichen Irrwisch, schwarz gekleidet und zerstreut. Sie war aus der unbekannten Vergangenheit Evas mit aufgetaucht, und sie rieb sich noch die Finsternis aus den Augen, als sich für die achtzehnjährige Eva die Lichtbahn öffnete. Sie spielte vortrefflich Klavier und war dadurch die Helferin Evas bei deren Übungen.
Crammon hatte ihr einige Artigkeiten erwiesen, und der Ton, mit dem er über ihre Herrin sprach, gewann ihm ihre Sympathie. Sie bewog Eva, ihn zu empfangen. »Bringen Sie ihr Blumen,« raunte sie ihm zu, »das mag sie gern.«
Eva und Susanne Rappard bewohnten zwei Zimmer in einem kleinen Hotel. Crammon brachte Rosen in solcher Menge, daß die muffigen Korridore stundenlang voll Duft waren.
Eintretend gewahrte er Eva vor dem Spiegel, auf einem Armstuhl. Susanne kämmte ihr die Haare, die die Farbe des Honigs hatten.
Auf dem Teppich kniete ein junger Mensch, siebzehn Jahre alt, sehr blaß, mit Tränenspuren im Gesicht. Er hatte ihr erklärt, daß er sie liebe. Er mochte nicht aufstehen, auch als der Fremde kam; seine unglückliche Leidenschaft machte ihn blind.
Crammon blieb an der Tür stehen.
»Susanne, du tust mir weh,« sagte Eva. Susanne warf den Kamm erschrocken auf den Boden.
Eva streckte Crammon die Hand entgegen. Er ging hin und beugte sich nieder, um die Hand zu küssen.
»Der Arme,« sagte sie lächelnd und deutete auf den Knaben, »er quält sich so, er ist so töricht.«
Der Knabe preßte die Stirn an die Lehne ihres Sessels. »Ich werde mich töten,« flüsterte er. Da schlug Eva die Hände zusammen und näherte ihr Gesicht, das spöttische Betrübnis zeigte, dem des Knaben.
Welche Bewegung! mußte Crammon denken; wie durchgebildet, wie zart, wie neu! Und wie sich das Augenlid hob und der Stern des Auges energischesten Glanz aufwies und in der Neigung des Kopfes das Kinn ein wenig sank und ein unerwartetes Lächeln in den Mienen war, halb darbend, halb süß, halb verschlagen, halb kindlich.
»Wo ist mein Goldreif, Susanne?« fragte Eva und stand auf.
Susanne antwortete, sie habe ihn auf den Tisch gelegt. Sie suchte dort umsonst, sie flatterte hin und her, ein schwarzer Riesenfalter, machte Laden auf und wieder zu, schüttelte den Kopf und drückte besinnend die Hand an die Stirn, endlich fand sich der Reif unter dem geschlossenen Klavierdeckel, neben einigen Hundertfrankscheinen.
»So ist es immer,« seufzte Eva und steckte den Reif ins Haar, »wir finden alles, aber wir müssen lange suchen.«
»Was für eine Art Französisch sprechen Sie eigentlich?« fragte Crammon, der vollkommen Pariserisch sprach.
»Ich weiß nicht,« erwiderte sie; »vielleicht ein spanisches, ich bin lange in Spanien gewesen, vielleicht ein deutsches. Ich bin in Deutschland geboren und habe bis zu meinem zwölften Jahr dort gelebt.« Ihr Blick verdunkelte sich ein wenig.
Der verliebte Knabe war fortgegangen, Eva schien ihn vergessen zu haben, kein Schatten war in ihrem braunblassen Gesicht. Sie setzte sich wieder, und nach einigen Worten und Fragen erzählte sie Crammon ein Erlebnis, das sie gehabt.
Der Grund, weshalb sie es erzählte, lag in Verbindung von Gedanken, die sie nicht äußerte. Ihre Blicke ruhten still im Unbegrenzten, für ihre Augen gab es eigentlich keine Wände, und niemand konnte behaupten, daß sie ihn ansah, sie schaute bloß.
Susanne Rappard saß im Ofenwinkel, das Kinn auf die Arme gestützt, während die Finger über die zerfurchten Wangen hinauf sich in die leicht ergrauten Haare gewühlt hatten.
In Arles in der Provence war häufig ein junger Mönch zu Eva Sorel gekommen, Bruder Leotade. Er war nicht älter als fünfundzwanzig Jahre, kräftig, von südländischem Gepräge, ziemlich schweigsam.
Er liebte das Land, er kannte die alten Burgen. Einmal sprach er von einem Turm, der, eine Meile von der Stadt entfernt, auf einem Felsenhügel stand; er rühmte den Ausblick, den man von der Höhe des Turmes genoß, mit Worten, die Eva begierig machten. Bruder Leotade wollte sie führen; sie verabredeten den Tag und die Stunde.
Der Turm hatte eine verschlossene eiserne Tür, der Schlüssel war bei einem Weinbauern verwahrt. Es war spät am Nachmittag, als sie sich auf den Weg begaben, aber es war noch heiß auf der baumlosen Straße. Vor Einbruch der Nacht wollten sie zurück sein, deshalb wanderten sie rasch, doch als sie zum Turm kamen, war die Sonne bereits hinter die Hügel gesunken.
Bruder Leotade öffnete die eiserne Tür, und man sah eine enggewundene Steintreppe. Sie waren schon mehrere Stufen hinaufgestiegen, da kehrte der Mönch plötzlich um, sperrte die Tür ab und steckte den Schlüssel in die Tasche seiner Kutte. Eva fragte ihn, weshalb er dies täte; er entgegnete, es geschehe der Sicherheit halber.
Es war dunkel in dem Turmgewölbe, und Eva sah die Augen des Mönches verderblich blitzen. Sie ließ ihn vorangehen, aber auf einem Treppenabsatz wandte er sich und griff nach ihr. Er war stumm; sie spürte seine Finger. Sie entglitt ihm, ebenfalls stumm, und lief wieder voraus, so schnell sie konnte. Sie hörte keine Schritte hinter sich im Dunkeln; die Treppe schien unendlich. Sie lief empor, der Atem verging, sie lechzte nach dem Licht. Da leuchtete die grüne Himmelsglocke in den Schacht, der Kreis, je mehr sie stieg, erweiterte sich bis zum Scharlach des Westens, und als sie auf der letzten Stufe angelangt war, als sie auf die Plattform trat, aus dem Moder in die Balsamkühle, in die hundertfache Farbenpracht von Luft und Erde, schien die Gefahr überstanden.
Sie wartete und bewachte das schwarze Treppenloch. Der Mönch kam nicht herauf. Seine tückische Verborgenheit spannte ihre Nerven qualvoll. Die kurze Dämmerung schwand; es wurde Abend, es wurde Nacht; kein Schritt, kein Laut. Spät erst fiel ihr ein, daß sie rufen konnte; sie rief ins Land hinab, aber sie sah, daß die Gegend öde war und ohne menschliche Wohnungen. Und als ihr schwacher Schrei verklungen war, zeigte sich die Gestalt des Bruders Leotade über der Treppe.
Der Ausdruck seines Gesichts flößte ihr noch größeres Entsetzen ein als vorher. Er murmelte etwas und streckte die Arme nach ihr aus. Sie prallte zurück, mit den Händen hinter sich tastend. Er folgte ihr, sie schwang sich auf die Brüstung, kauerte sich in die Zinne, hielt sich am äußersten Rand der Mauer, Haupt und Schulter über dem Abgrund schon. Der Wind erfaßte den Schleier, den sie um den Kopf trug und ließ ihn wehen wie eine Fahne. Der Mönch blieb stehen, ihr Auge bannte ihn. Sein Blick war ununterbrochen auf sie geheftet, doch wagte er sich nicht zu rühren, denn ihre Miene verkündete ihren Entschluß: bei der ersten Bewegung, die er gegen sie machte, gab es für sie nur noch den Sturz in die Tiefe.
Trotzdem loderte in seinen Augen das wütendste Verlangen.
Stunde auf Stunde verfloß. Der Mönch stand da wie aus Erz, und sie kauerte auf der Zinne mit wehendem Schleier und sonst regungslos und hielt ihn fest im Auge gleich einem Wolf. Der Himmel bedeckte sich mit Sternen; von Zeit zu Zeit sandte sie einen sekundenschnellen Blick hinauf ins Firmament. So nah war sie dem ewigen Feuer nie gewesen; sie hörte die Millionen Welten melodisch in ihrer Bahn schwingen; mit gelähmten Gliedern flog sie; die Hände, die um den Stein geklammert waren, trugen die diamantene Decke des Kosmos, und da unten war die Kreatur, erfüllt von ihrer Leidenschaft, die blinde Kreatur, einem Gott verdungen, den sie belog.
Allmählich erhellte sich der Rand des Himmels, und Vögel flatterten auf. Da warf sich Bruder Leotade zur Erde und fing an laut zu beten. Und je lichter der Osten wurde, je lauter betete er. Auf dem Bauche kroch er zur Treppe hin, dann richtete er sich auf und verschwand.
Sie sah ihn unten aus der Pforte treten, und mit dem ersten Schein der Sonne verlor er sich zwischen den Weinbergen. Eva lag noch lange matt und betäubt unten im Gras, bevor sie fähig war, zur Stadt zu gehen.
»Es hätte sein können,« so schloß sie ihre Erzählung, »daß mir einer vom Sirius her zugeschaut hat, einer, der bald kommt und vielleicht mein Freund sein wird.« Sie lächelte.
»Vom Sirius?« ließ sich Susannes Stimme vernehmen; »und woher wird er Perlen haben und Diademe? Und welche Kronen wird er dir anbieten, welche Provinzen? Wir wollen uns nicht mit Habenichtsen einlassen, nicht einmal, wenn sie vom Himmel kommen.«
»Still, du Sancho Pansa,« wehrte Eva ab; »er muß wunderbar lachen können, das ist alles, was ich verlange. Er muß lachen können wie jener junge Eseltreiber in Cordova, erinnerst du dich? Er muß so lachen können, daß ich meinen Ehrgeiz vergesse.«
Da ist eine Tugend, die nicht um Pfennige betteln geht, dachte Crammon und beschloß, auf der Hut zu sein und sich beizeiten in Sicherheit zu bringen. Denn in seiner Brust verspürte er ein neues, unbekanntes, trauriges Brennen, und er wußte, daß er keineswegs imstande war, zu lachen wie die jungen Eseltreiber in Cordova; keineswegs so, daß eine Ehrgeizige ihren Ehrgeiz vergaß.
Felix Imhof kam und mit ihm Wolfgang Wahnschaffe, ein hochaufgeschossener junger Mann von zweiundzwanzig Jahren. Er trat mit der Eleganz auf, die ihm seine fast unbeschränkten Mittel erlaubten. Sein Vater war einer der großen Maschinenindustriellen Deutschlands.
Crammons Absage hatte ihn verdrossen, und er wollte sich seiner versichern. Es war die Art der Wahnschaffes, daß sie gerade das am stärksten begehrten, was sich ihnen entzog.
Sie gingen ins Theater Sapajou, und Felix Imhof fand die Tänzerin unvergleichlich. Sofort spritzten Pläne aus seinem Hirn wie Funken aus glühendem Eisen, das man hämmert. Er wollte eine Akademie der Tanzkunst gründen, einen Impresario zu einer Reise durch Europa dingen, eine Pantomime verfassen, alles womöglich zwischen morgen und übermorgen.
Sie saßen zusammen und tranken viel; zuerst Wein, dann Sekt, dann Ale, dann Whisky, dann Kaffee, dann wieder Wein. Auf Imhof übte das Zechen nicht die mindeste Wirkung; er war schon im nüchternen Zustand so wie andre Menschen, wenn sie berauscht sind.
Er schwärmte von Gauguin, von Schiller, von Balzac und entwickelte das Projekt einer Menschenzuchtschule; die erlesensten Exemplare von Männern und Weibern sollten verheiratet werden und ein arkadisches Geschlecht erzeugen.
Dazwischen zitierte er Verse von Keats und Stellen aus Rabelais, mischte Schnäpse auf zehnerlei Arten und erzählte ein Dutzend saftige Anekdoten aus seiner Lebemannserfahrung. Sein Mund mit den sinnlichen Lippen barst von Superlativen, seine hervorquellenden Negeraugen sprühten Geist und Laune, und der hagere, sehnige Körper litt, wenn er für einige Minuten zur Unbeweglichkeit verurteilt war.
Den beiden andern fielen vor Müdigkeit die Augen zu, er aber wurde immer munterer, immer lärmender, fuchtelte mit den Händen, schlug auf den Tisch, schlürfte begeistert die verräucherte Luft ein und lachte mit dem Baß eines Riesen.
So ging es fünf Nächte hintereinander, da wurde es Crammon zu viel, und er beschloß abzureisen. Wolfgang Wahnschaffe hatte ihn aufgefordert, ihn zur Jagd nach Waldleiningen zu begleiten.
Es war vormittags um elf Uhr, als Felix Imhof zu Crammon kam. In der Mitte des Zimmers stand der große Reisekoffer mit offenem Deckel. Wäsche, Kleider, Bücher, Schuhe, Krawatten waren auf dem Boden verstreut wie aus einer Feuersbrunst gerettete Habseligkeiten. Vor den Fenstern wogten gelbflammend die Baumwipfel des Parks Monceau.
Crammon saß nackt, nur mit ein Paar langen Strümpfen an den Beinen, in einem Lehnstuhl. Er hatte nackt gefrühstückt und schaute düster vor sich hin. Der viereckige, gotische Kopf und der breitgebaute, muskulöse Rumpf waren wie aus Bronze.
Felix Imhof hatte den Tag zuvor die Bekanntschaft Cardillacs gemacht, des Pariser Börsenkönigs, und war jetzt wieder auf dem Weg zu ihm. Er wollte sich an einer der Unternehmungen Cardillacs mit zwei Millionen beteiligen und fragte Crammon im Vorübergehen, ob er nicht auch Lust habe, eine Summe zu wagen; eine Kleinigkeit genüge, fünfzigtausend Franken; unter den Händen des Zauberers verdoppelten sie sich in drei Tagen, dann habe man den Genuß von Einsatz und Erwartung gehabt.
Er sagte: »Dieser Cardillac ist ein Phänomen. Der Mann hat als Laufbursche in einem Bahnhofshotel begonnen, jetzt ist er Hauptaktionär von siebenunddreißig Aktiengesellschaften, Gründer der spanisch-französischen Bank, Besitzer der Zinkminen von La Nere, Gebieter eines ganzen Stocks von Zeitungen und Herr eines Vermögens von Hunderten von Millionen.«
Crammon erhob sich, zog aus dem Kleiderhaufen auf dem Boden einen violettfarbenen Schlafrock und hüllte sich fröstelnd darein. Nun sah er aus wie ein Kardinal.
»Ist dir vielleicht zufällig bekannt,« fragte er schläfrig sinnend, »oder hast du einmal gesehen, wie die jungen Eseltreiber in Cordova lachen?«
Imhofs Gesicht wurde vor Erstaunen dumm. Er wußte nichts zu antworten.
Crammon nahm einen faustgroßen Pfirsich von einem Teller und biß hinein. Der Saft träufelte ihm aus den Mundwinkeln.
»Es wird nichts andres übrigbleiben, ich werde selbst nach Cordova gehen müssen,« sagte er und seufzte bekümmert.
Wolfgang Wahnschaffe erzählte unterwegs von seinen Angehörigen; von Judith, seiner Schwester, von seinem älteren Bruder Christian; von seiner Mutter, die die schönsten Perlen in Europa besaß; »in ihrem Schmuck sieht sie aus wie eine indische Göttin,« sagte er; von seinem Vater, den er einen liebenswürdigen Mann mit Hintergründen nannte.
Crammon hätte gern Einleuchtenderes erfahren über das Leben und die Vorgeschichte einer dieser reichgewordenen Bürgerfamilien, die der alten Aristokratie den Rang abliefen. Es interessierte ihn als ein Stück Neuland, eine Welt, die noch in Knospen stand und die zu fürchten war.
Sein schlaues Fragen brachte ihn nicht weiter, aber etwas andres kam zutage. Da war ein Bruder, dem der Bruder im Wege war; versteckte Bitterkeit über unbegreifliche Bevorzugung; Zweifel, Kritik und Spott; ein Wort der Mutter, das sie zu einem Fremden gesprochen: »Sie kennen meinen Sohn Christian nicht, das Schönste, was unser Herrgott je erschaffen hat?«
Billig, fand Wolfgang, billig, ein Pferd im Stall zu rühmen, das man nicht zum Derby schickt, weil man es für zu edel und kostbar dazu hält. Warum denn billig? fragte Crammon, belustigt von dem feudalen Gleichnis, warum Stall, warum Derby, was er damit sagen wolle?
Nun, damit sei ein Bursche gemeint, der noch nichts bewiesen, nichts geleistet habe mit seinen dreiundzwanzig Jahren; dürftig durchs Examen geschlüpft sei; kein Lumen, in keiner Beziehung. Ausgezeichnet gewachsen, das müsse ihm der Neid lassen; elegant im Auftreten, ein Gesicht wie Milch und Blut, wie man so sage; von bestrickendem Wesen, ohne allen Zweifel, so bestrickend, daß kein Mann und kein Weib ihm widerstehen könne; aber kalt wie eine Hundeschnauze und glatt wie ein Fisch; und maßlos verwöhnt, maßlos hochmütig, als ob die ganze Welt eigens für ihn gemacht sei.
»Sie werden ihm schon auch hereinfallen,« schloß Wolfgang; »alle fallen herein.« Das klang beinahe nach Haß.
Es war ein regnerischer Oktoberabend, als sie in Waldleiningen eintrafen. Das Haus war voller Gäste.
Schneller als er selbst gedacht haben mochte, erfüllte sich Wolfgangs Vorhersage: schon am dritten Tage waren Crammon und Christian Wahnschaffe ein Herz und eine Seele; die Gespräche, die sie führten, hatten einen Ton der Vertraulichkeit, als kennten sie sich seit Jahren. Der Altersunterschied von beinahe zwei Dezennien schien einfach nicht vorhanden.
Crammon erinnerte Wolfgang lachend an seine Prophezeiung und fügte hinzu: »Ich wünsche, daß mir nie Übleres verkündet und das Angenehme stets so prompt verwirklicht wird.« Bei diesen Worten spuckte er zuerst nach rechts, dann nach links; er war abergläubisch wie ein altes Weib.
Wolfgang machte ein Gesicht, als wolle er sagen: ich war darauf gefaßt; konnte es anders kommen?
Crammon hatte in Christian ein verzärteltes Muttersöhnchen zu sehen erwartet; statt dessen sah er einen durch und durch gesunden, blonden jungen Athleten, der ihn um anderthalb Kopflängen überragte, sich seiner Kraft und Schönheit ohne eine Spur von Eitelkeit bewußt war und von froher Laune strahlte. Es erwies sich als wahr: alle machten ihm den Hof, von seiner Mutter an bis zum letzten Stallburschen, aber er nahm es hin wie schönes Wetter, unbefangen, ganz leicht, verbindlich, ohne sich zu binden.
Crammon liebte Jünglinge, wenn sie so elastisch waren wie Pantherkatzen und ihre Heiterkeit die Stimmung der übrigen Menschen verwandelte wie ein köstliches Aroma die Luft einer Krankenstube. Sie erschienen ihm als hochbegnadete Wesen, denen man alles aus dem Weg zu räumen hat, was ihre segensreiche Mission hemmen könnte, und denen er nicht zu imponieren, sondern von denen er zu lernen bemüht war.
Nur in England und bei Engländern hatte er diese Achtung vor der Jugend, vor dem werdenden Mann gefunden, die ihm längst Grundsatz und Lebensregel war. Er sagte sich, daß das Klima eines gepflegten Verständnisses für ein solches Menschenwesen das geeignetste wäre, und schmiedete insgeheim seine Pläne. Er dachte an eine Kavalierstour im Stil des achtzehnten Jahrhunderts, bei der er die Rolle des Mentors zu übernehmen hätte.
Indessen unterhielt er sich mit Christian über die Jagd, das Forellenfischen, über die verschiedenen Arten der Zubereitung von Wildbret, über die Vorzüge der einen Jahreszeit vor der andern, über die zahlreichen Reize des weiblichen Geschlechts und über lächerliche Eigenschaften gemeinsamer Bekannten; immer mit tiefsinniger Miene und erschöpfender Gründlichkeit.
Sooft er Christian betrachtete, mußte er denken: was für Augen, was für Zähne, was für Kiefer, was für Beine! Da hat die Natur ihr edelstes Material hergegeben, ebenso auf Dauer wie auf Wohlgefälligkeit berechnet; ein Meister hat die einzelnen Partien zusammengesetzt; wäre man ein schlechter Kerl, man könnte platzen vor Neid.
Bei einem Auftritt, der ihn entzückte, trieb es ihn, sein Entzücken den andern Zuschauern mitzuteilen. Der Vorfall trug sich im Hof zu, wo sich früh am Morgen die Jagdgesellschaft versammelt hatte. Die Hunde sollten gekoppelt werden, Christian stand allein in der Mitte von dreiundzwanzig Rüden, die mit ohrenbetäubendem Gebell und Gekläff um ihn herum und an ihm emporsprangen; er schwang die kurzstielige Peitsche und ließ sie über ihre Köpfe sausen; die Tiere wurden immer wilder, der zudringlichsten mußte er sich mit den Ellbogen erwehren, der Förster wollte ihm zu Hilfe kommen und schrie in die tobende Schar hinein, Christian winkte ihn lachend zurück, sein verstellter Zorn, alle seine Bewegungen reizten die Hunde; einer, dessen Maul von Schaum troff, schnappte nach ihm, hing mit den Zähnen an seiner Schulter, da schrien die Herumstehenden auf, am lautesten Judith; Christian aber stieß einen kurzen, scharfen Pfiff durch die Zähne, seine Arme sanken, sein Blick hielt zwei, drei der Tiere fest, und alle hörten plötzlich auf zu lärmen, nur die vordersten gaben ein demütiges Gewinsel von sich.
Frau Wahnschaffe trat blassen Gesichts zu ihrem Sohn und fragte, ob er verletzt sei. Er war nicht verletzt; die Joppe zeigte einen langen Riß, das war alles.
»Er muß irgendwie gefeit sein,« sagte am Abend nach dem Souper Frau Wahnschaffe zu Crammon, mit dem sie sich in eine stille Ecke zurückgezogen hatte; »das ist mein einziger Trost, denn seine Tollkühnheit macht mir manchmal Angst. Sie nehmen ja Interesse an ihm, ich habe es mit Vergnügen bemerkt, Herr von Crammon. Lenken Sie ihn doch ein wenig in die Bahn der Vernunft.«
Sie sprach mit hohler Stimme und unbeweglichem Gesicht; ihre Augen blickten starr an den Menschen vorüber. Sie kannte keine Sorgen, hatte sie nie kennengelernt; vielleicht hatte sie auch über die Sorgen andrer niemals nachgedacht; trotzdem hatte noch kein Mensch diese Frau lächeln gesehen; die vollständige Regungslosigkeit, die in ihrem Dasein herrschte, hatte die Bewegungen der Seele auf einen toten Punkt gebracht. Nur in dem Gedanken an Christian bekam ihr Wesen einen Hauch von Wärme; nur wenn sie von ihm sprechen konnte, wurde sie beredt.
Crammon antwortete: »Gnädigste Frau, einen Burschen wie Ihren Christian überläßt man am besten seinem Stern, da ist er in sicherer Hut.«
Frau Wahnschaffe nickte, obwohl ihr das Saloppe an Crammons Ausdrucksweise mißfiel. Sie erzählte, daß Christian, als er noch ein Knabe gewesen, einst zu den Holzfällern in den Forst gegangen sei. Eine mächtige Tanne sei angehauen worden, die Knechte liefen zurück zum Ende des Seils, und wie der Baum schon wankte, gewahrten sie den Knaben. Sie schrien ihm entsetzt zu, sie versuchten dem Fall des Baumes eine andre Richtung zu geben, es war jedoch zu spät, und während einige aus Leibeskräften am Strick zerrten und in ihrem Schreck wie von Sinnen waren, rannten ein paar mit aufgehobenen und deutenden Armen in den Kreis der Gefahr, ihnen voran der Aufseher. Ruhig stand der Knabe da, ahnungslos sah er in die Höhe; den Aufseher traf der stürzende Stamm und zerschmetterte ihn; um Christian hingegen legten sich sanft die Zweige, wie wenn sie ihn nur streicheln wollten, und als die Tanne auf der Erde lag, stand er inmitten der Krone, als hätte er sich hineingestellt, unberührt und ohne Staunen. Die es mitangesehen, sagten, es sei um eines Haares Breite gegangen.
Crammon wurde aber das Bild nicht los, dessen Zeuge er selbst gewesen: den übermütigen Peitschenschwinger unter der entfesselten Hundemeute. Mich dünkt, überlegte er, den Finger an der Nase, ich kann es mir schenken, die jungen Eseltreiber in Cordova lachen zu sehen.
Es gab eine Weinstube im Schloß zu Waldleiningen, worin sich gemütlich kneipen ließ. Dort tranken Crammon und Christian eines Abends Bruderschaft. Und als sie die Flasche Liebfrauenmilch geleert hatten, sagte Crammon, es sei eine schöne Nacht, man könnte noch ein wenig im Park spazierengehen. Christian wars zufrieden.
Sie gingen im Mondschein über die Kieswege; Busch und Baum schwammen in silbrigem Duft.
»Nebelglanz und Herbstesfäden, alles, wie's im Buch steht,« sagte Crammon.
»In welchem Buch?« erkundigte sich Christian.
»Na, im Gedichtbuch, mein ich.«
»Liest du denn Gedichte?« fragte Christian neugierig.
»Hin und wieder mal,« antwortete Crammon, »wenn mirs in der Prosa nicht mehr gefällt. Da zahl ich dann dem Weltgeist meine Schulden ab.«
Sie setzten sich auf eine Bank unter eine mächtige Platane. Christian schaute eine Weile schweigend vor sich hin, dann richtete er unvermittelt die Frage an Crammon: »Sag mal, Bernhard, was ist das eigentlich, wovon die meisten Leute so viel Aufhebens machen: der Ernst des Lebens –?«
Crammon lachte leise vor sich hin. »Nur Geduld, mein Lieber, nur Geduld,« antwortete er, »das wirst du schon erfahren.«
Er lachte wieder und faltete behäbig die Hände über dem Bauch; dennoch bekam die schöne Nacht, die schöne Landschaft einen Schleier von Schwermut.
Christian wünschte, daß Crammon mit ihm und Alfred Meerholz, dem Sohn des Generals, zum Wintersport nach St. Moritz fahre; aber Crammon mußte zu Konrad von Westernachs Hochzeit nach Wien. So verabredeten sie ein Zusammentreffen in Wiesbaden, wohin im Frühjahr auch Frau Wahnschaffe und Judith gingen.
Frau Richberta verbrachte den Januar und Februar gewöhnlich in dem Würzburger Stammhaus der Familie; sie hatte viele Gäste dort, und die Langeweile der Provinzstadt war nicht fühlbar. Wolfgang hatte bis jetzt in Würzburg die Staatswissenschaften studiert; aber mit Abschluß des Semesters sollte er nach Berlin, um das Examen zu machen und dann ins Auswärtige Amt einzutreten. Judith sagte spöttisch zu ihm: »Du bist der geborene Diplomat der neuen Schule; wenn du das Zimmer betrittst, wagt niemand mehr zu scherzen. Höchste Zeit, daß du deinen Wirkungskreis vergrößerst.« Er antwortete: »Gewiß; ich werde einem Würdigeren Platz machen, der es besser versteht, euch zu amüsieren.« Und Judith darauf: »Du bist bitter, aber du sprichst wahr.«
Als Christian im April nach Wiesbaden kam, stellte ihn seine Mutter der Gräfin Brainitz und ihrer Nichte Lätizia von Febronius vor. Die Gräfin befand sich zur Kur in Wiesbaden; manche Leute sagten aber, ihr eigentlicher Zweck sei, für Lätizia eine passende Partie unter den reichen jungen Männern des Landes zu suchen. Sie hatte es verstanden, die schwer zugängliche und mißtrauische Frau Richberta für sich einzunehmen; Judith war von Lätizias Anmut ganz bezaubert.
Christian begleitete die jungen Damen auf ihren Promenaden und Spazierritten; die Gräfin sagte zu Lätizia: »In den Mann würde ich mich verlieben an deiner Stelle.« Worauf Lätizia mit ihrem innigsten Augenaufschlag erwiderte: »Ich an Ihrer Stelle, Tante, würde davor die größte Angst haben.«
Crammon kam in übler Laune an. Wenn einer seiner Freunde sich so weit vergaß, zu heiraten, wurde er von einer schleichenden Misanthropie erfaßt, die sein Gemüt wochenlang verdüsterte.
Er wunderte sich, als ihm Christian von den neuen Bekannten erzählte, er wunderte sich über die Fügung, die ihn selbst so unerwartet in Lätizias Lebenskreis führte. Es war ihm nicht recht geheuer zumute.
Über die Gräfin Brainitz zeigte er sich wenig entzückt. Vertraut mit der Genealogie und der Geschichte der toten und lebenden Mitglieder aller adligen Familien des Kontinents und der Inseln, wußte er auch über sie genauen Bescheid. »Sie ist in ihrer Jugend Schauspielerin gewesen,« berichtete er, »eine jener beliebten Naiven, die durch hervorstechende Blondheit und rührend-verlegenes Zupfen am Schürzensaum die Gemüter poesievoll stimmen. Damit hat sie seinerzeit auch den Grafen Brainitz erobert, einen geistesschwachen Podagristen. Sie hatte ihn für reich gehalten, später erwies es sich, daß er gänzlich verschuldet war und vom Chef des gräflichen Hauses ein Jahresgehalt bezog, das nach seinem Tode auf die Witwe übergegangen ist.«
Jetzt war sie nicht mehr blond, sondern hatte weiße Haare, strähnig und metallisch schimmernd wie gesponnenes Glas; früh weiß allerdings, denn sie war kaum älter als fünfzig. Sie war wohlbeleibt; ihr Körper hatte eine besondere Art von gedrechselter Rundheit; auch ihr Apfelgesicht war vollkommen rund und glatt; es leuchtete von einer gesunden Röte, und jeder einzelne Teil darin, die Nase, der Mund, das Kinn, die Stirn, zeichnete sich durch eine gewisse Zierlichkeit und Harmlosigkeit aus.
Von der ersten Sekunde an lag sie mit Crammon im Streit. Über alles, was er sagte, schlug sie entsetzt die Hände zusammen, alles, was er tat, erboste sie. Mit weiblichem Instinkt witterte sie in ihm den Widersacher ihrer listigen Projekte, und er sah in ihr die Erzfeindin, die das Netz knüpfte, in welchem wieder einmal ein Freund gefangen werden sollte.
Sie hatte ihn zu Tisch gebeten; Lätizia hatte es gewünscht. Sie sagte: »Wenn Sie ihn auch sonst nicht leiden mögen, Tantchen, als Tischgenosse wird er sicher Ihren Beifall finden, denn da hat er manche Ähnlichkeit mit Ihnen.« Aber die Abneigung Crammons gegen die Gräfin beraubte ihn sogar der Eßlust, was wieder die Gräfin nicht eben versöhnlich stimmte. Sie selbst aß drei Eier in Mayonnaise, eine halbe Ente, ein gewaltiges Stück Lendenbraten, vier Portionen Schaumtorte, einen Teller Kirschen und verschiedene Kleinigkeiten als Zeitvertreib und Füllsel. Crammon war bestürzt.
Nach jedem einzelnen Gang wusch sie sich mit großer Sorgsamkeit die Hände, und als das Mahl zu Ende war, zog sie sogleich wieder die schneeweißen Handschuhe über ihre runden Händchen.
»Alle Menschen sind Schweine,« sagte sie »alles was von Menschen kommt, ist schmutzig; ich schütze mich, wie ich kann.«
Lätizia saß mit dem ihr eigenen zartschelmischen Lächeln dabei, und ihre bloße Gegenwart verlieh dem Gewöhnlichen um sie her einen Hauch von Romantik.
Klein-Deussen war unter den Hammer gekommen, und Frau von Febronius hatte sich, völlig mittellos, zu einer jüngeren Schwester begeben, die in Stargard in Pommern lebte. Ihrer Tochter Lätizia hatte sie das Schauspiel des letzten Zusammenbruchs ersparen wollen, darum hatte sie sie zur Gräfin nach Weimar geschickt.
Alle drei Schwestern waren Witwen; die in Stargard hatte den Amtsrichter Stojenthin zum Mann gehabt. Sie lebte von der staatlichen Pension und den Zinsen des kleinen Vermögens, das sie in die Ehe gebracht. Sie hatte zwei Söhne, die sich zigeunerhaft in der Welt herumtrieben, ihre Arbeitsscheu mit Philosophie verbrämten und immer, wenn ihnen das Wasser an den Hals stieg, sich an die Gräfin-Tante wandten.
Die Gräfin-Tante ließ sich jedesmal erbitten; sie handhabten den Briefstil, der auf sie wirkte, mit großer Geschicklichkeit. »Sie werden sich schon die Hörner abstoßen,« sagte die Gräfin; darauf wartete sie nun seit Jahren mit heiterer Zuversicht und schickte ihnen bisweilen Nahrungsmittel und kleine Geldsummen.
Lätizia war auf so einfache Weise nicht zu helfen. Als sie ankam, besaß sie drei Kleider, denen sie entwachsen war, und an Wäsche nur das Notdürftige. Die Gräfin bestellte Toiletten aus Wien und stattete sie aus wie eine reiche Erbin.
Lätizia hielt still und ließ sich schmücken. Aus den Augen der Menschen erfuhr sie, daß sie reizend war. Die Gräfin-Tante sagte: »Du bist zu etwas Großem bestimmt, mein Engel,« nahm ihren Kopf zwischen ihre behandschuhten Hände und küßte sie knallend auf die porzellanklare Stirn.
Sie begnügte sich nicht mit dem, was sie getan. Sie wollte Fundamente schaffen, dem anmutigen Geschöpf mit Erheblichem dienen. Da fiel ihr der Wald von Heiligenkreuz ein.
Am Nordhange des Rhöngebirges lag ein Forstareal von zehn bis zwölf Quadratkilometer Fläche, um welches der verstorbene Graf länger als zwei Jahrzehnte mit seinem Vetter, dem Majoratsherrn, prozessiert hatte. Der Prozeß lief noch immer, er hatte Unsummen verschlungen, und die Aussicht, daß ihn die Gräfin gewann, war gering. Trotzdem fühlte sie sich als künftige Eigentümerin des Waldes und hielt ihren Besitztitel im voraus für so sicher, daß sie sich entschloß, den Wald als Mitgift und Morgengabe Lätizia zu schenken und die Schenkung urkundlich festzulegen.
Eines Abends trat sie mit einem beschriebenen Bogen Papier in der Hand in Lätizias Schlafzimmer. Über einem Spitzennachtkleid trug sie einen schweren Zobelpelz und auf dem Kopf eine helmähnliche Gummihaube, welche sie vor den Bazillen schützen sollte, die nach ihrer Ansicht, nicht anders als Fledermäuse, in der Dunkelheit herum schwirrten.
»Nimm dies, mein Kind, und lies es,« sagte sie bewegt und reichte Lätizia das Schriftstück, kraft dessen der Wald von Heiligenkreuz nach Beendigung des schwebenden Rechtsstreites dem Fräulein von Febronius gehören sollte.
Lätizia kannte die Umstände; sie wußte, was von dem Stück Papier zu halten sei; sie wußte aber auch, daß die Gräfin sie nicht zu täuschen beabsichtigte, sondern daß sie überzeugt war, etwas Wichtiges für sie zu tun, und so besaß sie Geist und Takt genug, eine herzliche Freude zu zeigen. Die Wange an den mächtigen Busen der Gräfin lehnend, flüsterte sie mit ihrer rührenden Stimme: »Sie sind unaussprechlich gütig, Tante. Überhaupt muß ich Ihnen ein Geständnis machen.«
»Was denn, Liebchen?«
»Ich finde das Leben wunderbar schön.«
»Siehst du, das ist recht, Liebchen,« sagte die Gräfin, »wenn man jung ist, muß jeder Tag wie ein frischer Veilchenstrauß sein. Bei mir wenigstens war es so.«
Lätizia antwortete: »Ich glaube, bei mir wird es immer so bleiben.«
In der Nähe von Königstein im Taunus besaßen Wahnschaffes ein kleines Schloß, das Frau Richberta Christiansruh genannt hatte und das eigentlich Christians Besitz war. Christian hatte sich gegen die Bezeichnung gewehrt; er war damals noch ein Knabe gewesen. »Für mich ist keine Ruhe not,« hatte er gesagt. Seine Mutter hatte erwidert: »Einmal vielleicht wird dir Ruhe not sein.«
Frau Richberta lud die Gräfin ein, den Mai auf Christiansruh zu verbringen. Es war eine liebliche Gegend; das Entzücken der Gräfin äußerte sich lärmend.
Crammon kam natürlich auch. Mit Argusaugen beobachtete er die Gräfin, und daß er Christian und Lätizia häufig im Gespräch sah, erregte sein Mißbehagen.
Er saß am Fischteich, die kurze englische Pfeife im Mund, und sagte: »Wir müssen nach Paris; du weißt, so war die Abrede. Ich habe dir Eva Sorel versprochen. Wenn du nicht schnellere Beine hast als ihr Ruhm, wirst du das Nachsehen haben.«
»Es hat Zeit,« entgegnete Christian lachend, indem er eine Reuse aus dem Wasser hob.
»Nur die Faulenzer haben Zeit,« fuhr Crammon brummig fort; »und Faulenzerei ist es, einem achtzehnjährigen Gänschen den Kopf zu verdrehen und sich am Ende noch von ihr hereinlegen zu lassen. Diese jungen Mädchen von Stande sind zu nichts nutz auf der Welt, außer, wenn sie Geld haben, für arme Schlucker, die nach dem Kirchgang ihren Gläubigern das Maul stopfen wollen; ihre Manipulationen sind nicht so harmlos, wie es den Anschein hat, besonders wenn sie in Begleitung von Patronessen auftreten, die mit Kupplerinnen eine so verdammte Ähnlichkeit haben wie meine Westenknöpfe mit meinen Hosenknöpfen.«
»Gib dich zufrieden, Bernhard,« beschwichtigte Christian den Erzürnten, »es ist nichts zu fürchten.«
Er ließ sich im Moos nieder und dachte an Adda Castillo, die schöne Löwenbändigerin, die er in Frankfurt kennengelernt. Sie hatte ihm gesagt, sie werde im Juni in Paris sein, und bis dahin wollte er warten. Sie gefiel ihm, sie war so wild und kalt.
Aber auch Lätizia gefiel ihm; sie war so feucht und zart. Feucht nannte er das Tauige an ihr, den Glanz ihrer Augen, das Entschlüpfende ihres Wesens. Täglich in der Frühe hörte er sie von seinem Turmzimmer aus trillern wie eine Lerche.
Er sagte: »Morgen fahren wir mit dem Auto hinüber, Bernhard, um Adda Castillo mit ihren Löwen zu sehen.«
»Ausgezeichnet,« antwortete Crammon, »Löwen, das ist eine Sache für meines Vaters Sohn.« Und er schlug Christian kameradschaftlich derb auf den Schenkel.
Judith fuhr mit Lätizia nach Homburg, und sie gingen in die Modeläden. Die Reiche kaufte, was ihr nur irgend Lust erregte, und von Zeit zu Zeit wandte sie sich an die Freundin mit den Worten: »Willst du das? Würde dich das freuen? Probier's doch mal an! Steht dir reizend!« Auf einmal sah sich Lätizia mit Geschenken überhäuft, und wenn sie sich nur mit einer Miene sträubte, war Judith gekränkt.
Dann gingen sie über den Markt; Lätizia war nach Kirschen genäschig; als sie zu der Obstlerin trat, kam ihr Judith zuvor, begann mit dem Weibe zu feilschen, weil ihr die Kirschen zu teuer erschienen, und da das Weib auf dem Preis beharrte, zog Judith die Freundin herrschsüchtig mit sich fort.
Sie fragte Lätizia: »Wie findest du meinen Bruder Christian? Ist er nett mit dir?« Sie ermunterte die Offenherzige, gab ihr Ratschläge und wußte von den vielen Abenteuern zu erzählen, die Christian mit Frauen gehabt. Die Freunde Christians hatten sie oft mit Berichten darüber unterhalten.
Als aber Lätizia, durch so unverstellten Anteil in Sicherheit gewiegt, ihr Gefühl für Christian errötend bekannte, stumm und dankbar, mit niedergeschlagenen Augen, mit süßen halben Worten, verzog Judith spöttisch den Mund, warf den Kopf in den Nacken, und ihre Miene zeigte den ganzen Hochmut einer Familie, die sich ein Geschlecht von Königen dünkte.
Lätizia spürte, daß sie sich hatte fangen lassen. Sie nahm sich nun besser in acht, und es hätte der Warnungen Crammons nicht bedurft.
Crammon gab ihr weise Lehren. Er suchte ihr einen heilsamen Schrecken vor den Frischlingen einzuflößen, um sie für die älteren Jahrgänge empfänglich zu stimmen, die allein einem Weibe Schirm und Verlaß böten. Er war durchaus nicht so fein und so listig, wie er es zu sein glaubte.
Bei all seiner jesuitischen Zwecksucht fühlte er, daß ihm an diesem Geschöpf ein Etwas naheging, wogegen keine Verstellung half. Unbequemes Spiel der Gedanken! Sollten Ammenmärchen von der Blutmahnung wahr werden? Dann fort aus dem verhexten Kreis!
Lätizia lachte ihn aus. Sie sagte: »Ich lache bloß, weil ich lachen will, Crammon, und weil heute der Himmel so blau ist, verstehen Sie?«
»O Nymphe,« seufzte Crammon; »ich bin ein armer Sünder.« Und er schlich von dannen.
Frau Richberta hatte beschlossen, ein Frühlingsfest zu veranstalten. Es sollte aller Prunk dabei aufgeboten werden, der bei solchen Gelegenheiten im Hause Wahnschaffe herkömmlich war, und Beratungen fanden statt, an denen der Majordom, die Wirtschaftsdame, die Gesellschafterin und die Gräfin teilnahmen. Frau Richberta leitete die Sitzungen mit der Miene eines Femrichters; die Gräfin interessierte sich hauptsächlich für das, was es zu essen und zu trinken geben würde.
»Ach, Herzensengel,« sagte sie zu Lätizia, »es sind fünfundsiebzig Hummern bestellt worden, und aus den Kellern haben sie zweihundert Flaschen Sekt heraufgebracht. Ich bin ganz bouleversiert, Liebchen, ich glaube, seit meiner Hochzeit war ich nicht so bouleversiert.«
Lätizia stand schlank da und lächelte. Für sie waren sogar diese Worte der Gräfin Musik. Sie hätte die Tage beflügeln mögen, die sie noch vom Fest trennten; sie zitterte, wenn eine Wolke über das Firmament zog.
Oft wußte sie nicht, wie sie den Jubel in ihrem Innern dämpfen sollte. Wie herrlich, dachte sie, daß man fühlt, was man fühlt, und daß das, was ist, auch wirklich ist. Kein Gedicht eines Dichters, kein Bild eines Malers konnte mit den Eingebungen ihrer Phantasie wetteifern, die jedes Geschehen vergoldete und keiner Enttäuschung zugänglich war. Alles war Reichtum, alles Geschenk.
Sie machte keinen Unterschied zwischen Traum und wirklichem Erlebnis. Sie bereitete sich vor, zu träumen, wie andre Menschen sich zu einem Spaziergang anschicken, und das Unbestimmte und Gesetzlose in den Traumbegebenheiten erschien ihr durchaus natürlich.
Eines Tages erzählte sie von einem Buch, das sie gelesen. »Es ist überirdisch schön,« sagte sie. Sie schilderte die Menschen, den Schauplatz, die ergreifenden Vorgänge mit solcher Eindringlichst und Begeisterung, daß alle, die es hörten, begierig wurden, das Buch kennenzulernen. Aber sie wußte weder den Titel noch den Verfasser anzugeben. Sie besann sich und grübelte; man fragte: »Wo ist das Buch? Woher hast du es? Wann hast du es gelesen?« »Gestern,« antwortete sie; »es muß da sein,« sagte sie stockend. »So bring es doch,« wurde sie aufgefordert. Und als sie nun wieder sich besann und ratlos vor sich hinschaute, sagte Judith zu ihr: »Vielleicht hast dus nur geträumt.« Da schlug sie langsam die Augen nieder, kreuzte mit einer unnachahmlichen Gebärde die Arme über der Brust und antwortete wie eine Schuldige: »Ja, mir scheint, ich habs nur geträumt.«
Christian fragte Crammon: »Glaubst du, daß es Komödie ist?«
»Keine Komödie, aber doch ein Weibertrick,« antwortete Crammon; »der liebe Gott hat dieses Geschlecht mit mancherlei Blendwerk ausgerüstet, womit sie uns aus dem Gleichgewicht bringen.«
Lätizia bekam zum Fest ein Kleid aus weißer Seide, ein Tanzkleidchen mit vielen feinen Fältchen im Rock und einer dunkelblauen Schärpe um die Hüften. Sie sah aus darin, als ginge sie in Milchschaum. Wenn sie in den Spiegel schaute, lächelte sie erregt, als könne sie dem Bild nicht trauen. Die Gräfin lief hinter ihr her und sagte: »Liebchen, gib nur acht auf dich;« aber Lätizia wußte nicht, was sie meinte.
Ein wenig trunken sprach sie mit Männern, Frauen und Mädchen. Sie hatte die Menschen immer geliebt, doch heute erschienen ihr alle unwiderstehlich. Als sie Judith vor dem lichtübergossenen Pavillon traf, drückte sie ihr die Hände und flüsterte: »Kann es schöner sein? Ich fürchte mich, daß die Nacht zu Ende geht.«
Auf der Wiese vor dem künstlichen Wasserfall spielte Christian mit einigen jungen Mädchen ein Fangspiel nach Art der Kinder. Sie lachten unaufhörlich, Jünglinge standen im Kreis herum und sahen halb spöttisch, halb belustigt zu.
Im Laub der Bäume hingen elektrische Birnen aus grünem Glas; sie waren so gut versteckt, daß der Rasen durch seine eigne Farbe beleuchtet schien.
Christian gab sich dem Spiel mit einer Lässigkeit hin, die seine Partnerinnen reizte. Sie wollten es wichtiger genommen haben und ärgerten sich, daß er sie trotzdem so mühelos erhaschte. Die junge Meerholz war dabei, Sidonie von Groben, das schöne Fräulein von Einsiedel.
Da kam auch Lätizia hinzu. Sie stellte sich in die Mitte des Platzes, ließ Christian ganz nahe kommen und entwischte flinker, als er berechnet hatte. Er wandte sich zu den andern, doch immer wieder flatterte Lätizia vor ihm her. Glaubte er sie zu fassen, so war sie schon wieder sprungweit weg. Einmal hatte er sie an die Taxushecke getrieben, da schlüpfte sie ins Laub und war verschwunden. Ihre Bewegungen, ihr Laufen, ihr Umkehren, ihre fröhliche Leidenschaft hatten etwas Fesselndes; sie lockte mit kleinen, lachenden Rufen aus dem Busch wie ein Vogel. Nun lauerte er ihr auf, und die Zuschauer wurden neugierig.
Als sie wieder zum Vorschein kam, tat er, wie wenn er ihrer nicht achte, aber plötzlich lief er mit wunderbarer Schnelligkeit zum Rand des Wasserbeckens, wo sie stand. Sie aber war noch schneller, und da die andern Fluchtwege versperrt waren, sprang sie auf den Felsen, sprang jauchzend von Stein zu Stein, ohne sich umzusehen und ohne mit den Händen nachzuhelfen. Ihr Kleid mit den feinen Falten und offenen Ärmeln flog, und als Christian sie verfolgte, klatschten sie unten Beifall.
Es war dunkel hier oben, Lätizias Schuhe wurden vom Wasser benetzt, ihr Fuß stockte, aber bevor Christian sie erreicht hatte, schwang sie sich noch auf einen mächtigen Block zwischen zwei Tannen, wie um sich dort zu verteidigen oder noch weiter zu klettern. Doch auf dem schlüpfrigen Moos glitt sie aus; sie schrie leise, denn sie wußte, jetzt hatte er sie gefangen.
Er hatte sie gefangen, aufgefangen und hielt sie in seinen Armen. Sie blieb ganz still, bemüht, den erregten Atem zur Ruhe zu bringen. Auch Christians Atem ging heftig, und es wunderte ihn nur, daß das Mädchen so still blieb. Er fühlte ihre schöne Gestalt und zog sie ein wenig näher zu sich, mit jenem unterdrückten Lachen, das kalt und übermütig klang. Mondlicht fiel durchs Gezweig und machte sein Gesicht außerordentlich schön. Lätizia sah seine großen weißen Zähne glitzern, sie machte sich von ihm los und schlang den linken Arm um den Stamm der Tanne.
Da war nun alles, wonach sie sich gesehnt hatte. Da war Gefahr und Begehrtsein, Mondnacht und Wildnis, ferne Musik und heimliches Beisammensein. Aber ihr Blut war ruhig, sie war noch ein Kind.
Wie Christian das an den Baum geschmiegte Mädchen anschaute, mit ihren verwirrten Haaren, den brennenden Wangen, den feuchten Augen und feuchten Lippen, maß er die Linie ihres Körpers, schmeckte er schon die Kühle ihrer Haut, roch er ihren unschuldigen Atem. Er zögerte nicht mehr, sich der Beute zu bemächtigen. Da gab es kein Bedenken.
Er griff nach ihrer Hand; plötzlich gewahrte er eine Kröte, die mit ekelhafter Langsamkeit über Lätizias weißes Kleid kroch, erst über den unteren Saum, dann gegen die Hüfte empor. Er erblaßte und kehrte sich ab. »Die andern warten vielleicht, wir müssen zurück,« sagte er und fing an über die Felsen hinunterzugehen.
Mit starren Augen sah ihm Lätizia nach. Das feurige Gefühl von sich selbst als einem Märchenwesen, Diana oder Melusine, wurde zum Schmerz, und sie brach in Tränen aus. Sie wußte das Geschehene auf keine Weise zu deuten, und ihr Kummer hielt so lange an, bis sie sich durch irgendeine reizvolle Verknüpfung das Unverständliche doppelt unverständlich, aber für ihr Gemüt tröstlich gemacht hatte. Da trocknete sie ihr Gesicht ab und lächelte wieder.
Die Kröte hüpfte lautlos ins Moos, als Lätizia sich erhob.
Am Nachmittag vor Crammons und Christians Abreise wütete ein schweres Gewitter. Beide gingen im oberen Korridor des Schlosses auf und ab und sprachen über ihre Pläne. In einer Pause zwischen zwei Donnerschlägen sagte Crammon aufhorchend: »Was für ein sonderbares Geräusch? Hörst du's nicht?«
»Ja, ich höre,« entgegnete Christian, und sie folgten dem Laut.
Am Ende des Flurs lag der Spiegelsaal, dessen Tür bloß abgelehnt war. Crammon öffnete den Spalt ein wenig weiter, spähte hinein und lachte gurrend. Auch Christian spähte hinein, über Crammons Kopf hinweg, auch er lachte.
Auf dem blankgewichsten Parkett des Saales, der von Möbeln nur einige an die Wand gelehnte Sessel und Polsterbänke enthielt, stand Lätizia mit blauen Pantöffelchen an den Füßen und einem blaßblauen Gewand bekleidet und spielte mit einem Ball. Ihr Gesicht hatte den Ausdruck von Entrücktheit; die ununterbrochenen Blitze, die alle Spiegel gelb flammen machten, verliehen dem Spiel etwas Geisterhaftes.
Bald warf sie den Ball senkrecht in die Luft, bald an die Wand zwischen die Spiegel und fing ihn wieder, lächelnd. Bisweilen ließ sie ihn auf den Boden fallen und breitete, bis er wieder in Brusthöhe sprang, die Arme aus oder klatschte leise in die Hände. Sie drehte sich, beugte sich, warf den Kopf zurück, trat einen Schritt vor, flüsterte etwas, immer lächelnd, ganz hingegeben. Nachdem die beiden einige Zeit heimlich zugeschaut, zog Crammon Christian von der Tür fort, denn die Blitze machten ihn nervös. Er haßte Gewitter und hatte deshalb den Korridor zum Aufenthalt gewählt, wo man weniger davon sah. Nun zündete er seine kurze Pfeife an und fragte mürrisch: »Begreifst du diese Jungfrau?«
Christian blieb die Antwort schuldig. Etwas lockte ihn zurück an die Schwelle des Saals, in dem Lätizia einsam Ball spielte, aber da erinnerte er sich der Kröte auf ihrem weißen Kleid, und ein Widerwille regte sich in ihm.
Er liebte nicht die Erinnerung an unangenehme Vorfälle.
Er liebte es auch nicht, von Vergangenem zu sprechen, gleichviel, ob es angenehm war, davon zu sprechen oder nicht. Er kehrte nicht gern um auf einem Weg, den er ging, und wo Umkehr notwendig war, wurde er bald müde.
Er liebte nicht Menschen, die geistig angestrengte Züge hatten, oder solche, die von Büchern und Wissenschaft redeten. Er liebte nicht bleiche, hektische, krampfhafte Menschen und solche, die viel stritten und ihr Recht behaupteten. Fand er bei jemand eine der seinen entgegengesetzte Meinung, so lächelte er höflich, als ob er auf einmal derselben Meinung wäre. Es war ihm auch peinlich, wenn man ihn um seine Meinung geradezu befragte, und ehe er sich auf ein Wort verpflichtete, schreckte er nicht davor zurück, sich unwissend zu stellen.
War er in großen Städten gezwungen, durch die Proletarierviertel und Armenquartiere zu fahren oder zu reiten, so beschleunigte er die Geschwindigkeit, preßte die Lippen zusammen, sparte den Atem, und vor Unmut bekamen seine Augen einen grünlichen Glanz.
Eines Tages hatte ein bettelnder Krüppel auf der Straße seinen Mantel mit Fingern angefaßt. Als er nach Hause kam, schenkte er den Mantel seinem Diener. Schon als Kind hatte er sich geweigert, an Orten vorüberzugehen, wo zerlumpte Leute saßen, und wenn jemand von Elend und Not erzählte, hatte er das Zimmer verlassen, voll Abneigung gegen den Erzähler.
Er liebte nicht, von Funktionen des Leibes zu sprechen oder zu hören, von Schlaf, Hunger oder Durst. Der Anblick eines schlafenden Menschen war ihm widerwärtig. Er liebte nicht, Abschied zu nehmen oder solche, die lange fortgewesen waren, umständlich zu begrüßen. Er liebte Kirchenglocken nicht, Betende nicht und nichts, was mit Frömmigkeit zu schaffen hatte. Selbst dem gemäßigten Protestantismus seines Vaters stand er ohne Verständnis gegenüber.
Es war keine Forderung, die er auszudrücken wußte, aber instinktiv ertrug er nur die Gesellschaft von gut angezogenen, sorglosen und klar übersehbaren Menschen. Wo er Geheimnisse spürte, verborgene Leiden, ein verdunkeltes Gemüt, Hang zu Grübeleien und äußere oder innere Kämpfe, wurde er frostig unnahbar und mied den Betreffenden. Daher sagte Frau Richberta: »Christian ist ein Sonnenmensch und kann bloß im Sonnenlicht gedeihen.« Sie hatte von früh an einen Kultus daraus gemacht, alles Trübe, Verzerrte und Schmerzliche von ihm fernzuhalten.
Auf ihrem Schreibtisch lag, nach einem Gipsabguß in Marmor gearbeitet, Christians Hand; eine große, nervige, feingegliederte, zu packen fähige, geschonte und ruhige Hand.
Auf der Fahrt zwischen Hanau und Frankfurt ereignete sich das Automobilunglück, dem Alfred Meerholz' junges Leben zum Opfer fiel. Christian, der den Wagen lenkte, blieb, wie damals beim Fällen des Baumes, auf wunderbare Weise unversehrt.
Crammon hatte Christian und Alfred bis Hanau begleitet. Dort wollte er Klementine von Westernach besuchen und am Abend mit der Eisenbahn nach Frankfurt fahren. Den Chauffeur, der Einkäufe machen sollte, hatte Christian schon tags zuvor nach Frankfurt geschickt.
Gleich zu Anfang nahm Christian ein schnelles Tempo, und als die Straße gegen Abend fast menschenleer und ohne Hindernisse dalag, steigerte er die Geschwindigkeit. Alfred Meerholz bestärkte ihn darin; der junge Mensch glühte im Rausch der Bewegung. Christian lächelte, und lächelnd ließ er die Maschine rasen.
Die Alleebäume sahen aus wie springende Tiere auf einer Momentphotographie, das weiße Band der Straße rollte schimmernd heran und wurde vom sausenden Gefährt verschlungen, der gerötete Himmel und die Hügel am Horizont schienen in Kreisen zu schwingen, die Luft siedete in den Ohren, der Körper bebte und verlangte noch wilder hingerissen zu werden über die Erde, die ihre glatte Rundheit lockend offenbarte.
Da tauchte ein schwarzer Punkt im weißen Schimmer der Chaussee auf. Christian gab ein Signal. Der Punkt wurde rasch zur Menschengestalt. Die Sirene gellte. Die Gestalt wich nicht. Christian packte das Lenkrad fester. Alfred Meerholz erhob sich im Sitz und schrie. Die Bremse konnte nicht mehr genügen. Christian riß das Rad herum; es war eine kleine Drehung zuviel: ein Ruck, ein Anprall, ein Krachen; das Geächz eines zusammenbrechenden Baumes, helles Zischen im Kessel, Aufprasseln einer Flamme, Klirren von Eisenteilen, und alles war vorüber.
Einen Augenblick lag Christian betäubt. Dann erhob er sich, fühlte an Arm und Leib herab; er konnte denken, konnte gehen. »All right«, sagte er vor sich hin.
Nun erblickte er den Körper seines Freundes. Mit zerschmetterter Hirnschale lag der junge Mensch unter den Trümmern der Karosserie. Ein kleiner roter Blutbach rann über den weißen Straßenstaub. Ein paar Schritte entfernt stand stumpfsinnig erstaunt der Betrunkene, der nicht ausgewichen war.
Schon eilten von allen Seiten Leute herzu. In der Nähe war ein Hotel. Christian antwortete einsilbig auf die vielen Fragen. Man versicherte sich des Betrunkenen. Ein Arzt kam, der die Leiche des jungen Meerholz untersuchte. Der Körper wurde auf eine Bahre gelegt und in das Hotel getragen. Christian telegraphierte erst an den General Meerholz, dann an Crammon.
Sein Reisekoffer hatte keinen Schaden genommen. Während er sich umkleidete, erschienen Polizeibeamte, die seine Erklärungen protokollierten. Dann ging er in den Speisesaal und bestellte zum Essen eine Flasche Bocksbeutel. Einige Leute an andern Tischen betrachteten ihn neugierig.
Von den Speisen nippte er bloß, die Flasche trank er allmählich leer.
Er sah sich im dunklen Gewächshaus stehen, Lätizia erwartend; und wie sie gekommen war, von ihrer Erregung beseelt. »Christian, mein Herr und mein Gebieter,« hatte sie schmachtend und scherzhaft geflüstert. »Laß eine kleine Kröte aus Gold machen,« hatte er zu ihr gesagt, »und trag sie um den Hals, damit der böse Zauber weicht.«
Ihr Kuß brannte noch auf seinen Lippen.
Um elf Uhr abends kam Crammon, der Getreue. »Ich bitte dich, Lieber, ordne, was zu ordnen ist,« sagte Christian, »ich will die Nacht hier nicht verbringen. Adda Castillo wird schon ungeduldig sein.« Er reichte ihm die Brieftasche.
Die Romantische, dachte Christian, schenkt, ohne zu wissen, was sie schenkt, und wem; weiß nicht, wie lang das Leben ist. Aber ihr Kuß brannte auf seinen Lippen; er konnte es nicht vergessen.
Crammon kehrte zurück. »Erledigt,« sagte er geschäftsmäßig, »das Auto ist in einer Viertelstunde bereit. Nun laß uns noch dem armen Alfred ein Lebewohl sagen.«
Christian folgte ihm. Ein Hausdiener führte sie in eine düster erleuchtete Kofferkammer, wo der Leichnam bis zum Morgen untergebracht war. Ein weißes Tuch war um den Kopf geschlungen. Neben den Füßen kauerte eine Katze mit geflecktem Fell.
Crammon faltete still die Hände. Christian spürte einen kühlen Hauch um die Wangen, innen in seiner Brust bewegte sich nichts. Als sie ins Freie traten, sagte er: »Wir müssen in Frankfurt einen neuen Wagen kaufen. Wenn wir zu Mittag wieder hier sind, ists Zeit genug, früher kann der General nicht kommen.«
Crammon nickte. Ein verwunderter Blick flog zu dem Jüngling hinüber, ein Blick, der zu fragen schien: aus was für einem Stoff bist du gemacht?
Der Feine, Edle, Stolze, Eisesluft war um ihn, die unendliche gläserne Klarheit wie auf Bergen, bevor es dämmert.