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Johanna erzählte Eva, der vergötterten Freundin, von ihrem Leben. Für Eva war es unerwarteter Ausblick in die graue Niederung der Bourgeoisie. Abstoßend klang der Bericht, doch war es Reiz, der Verschmachtenden, der Fliehenden Asyl zu gewähren.
Auch sie selbst erschien sich bisweilen wie eine Fliehende. Aber sie hatte ihre Bollwerke. Die Zeit wehte sie kalt an, und wenn ihr vor den geschäftigen Marionetten graute, deren Drähte sie zog, fühlte sie sich härter werden. Sie betrachtete es wie eine Ruhepause im Rasen ihres Schicksals, als sie dem ergebenen Mädchen Freundschaft schenkte.
Sie duzten einander. Susanne Rappard murrte. Sie machte die Augen auf, und Eifersucht entwickelte Gaben einer Spionin. Sie begann zu merken, was zwischen Christian und Johanna im Werke war.
Bei der Mittagstafel hatte es lustiges Gelächter gegeben. Johanna hatte eine Anzahl wollener Zipfelmützen gekauft, hatte sie sorgfältig in weißes Papier gepackt, hatte witzige Verschen darauf geschrieben und jedem von Evas Trabanten ein solches Päckchen zum Besteck gelegt. Niemand war der Urheberin gram. Bei aller Spottsucht und Querköpfigkeit war ihr etwas Liebliches eigen, das rasch versöhnte.
»Wie übermütig du heute bist, Rumpelstilzchen,« sagte Eva. Auch sie bediente sich des Necknamens. Das Wort, nicht ganz leicht bezwungen, klang entzückend aus ihrem Mund.
»Übermut kommt vor den Tränen,« antwortete Johanna, sich abergläubischer Befürchtung so ungehemmt überlassend wie bisher dem Scherz.
Ein reicher Schiffsreeder hatte Eva eingeladen, seine Gemäldesammlung zu besichtigen. Er wohnte vor der Stadt. Sie fuhr im Auto mit Johanna hin.
Arm in Arm standen sie vor den Bildern. Da war etwas Geläutertes um beide. Johanna liebte dies ebensosehr, wie wenn sie Gedichte miteinander lasen, Wange an Wange fast. In entselbsteter Anbetung ausgelöscht, vergaß sie, was hinter ihr lag, das ängstliche, klebende, streberische Dasein der Börsianerfamilie; was vor ihr lag, Druck und Zwang, gewiesener, unfroher Weg.
Jede Bewegung offenbarte Schmelz des Gefühls und Zärtlichkeit.
Auf der Rückfahrt war sie blaß. »Dir ist kalt,« sagte Eva und umhüllte sie mit einem Schal.
Johanna ergriff dankbar Evas Hand. »So ists gut, so sollte es immer sein. Ich brauche jemand, der mirs sagt, wenn mir warm oder kalt ist.«
Dieser melancholische Witz berührte Eva tief. »Was duckst du dich so?« rief sie, »warum verkriechst du dich? warum wendest du die Augen von dir und wagst nicht, dich zu freuen?«
Johanna antwortete: »Weißt du nicht, daß ich eine Jüdin bin?«
»Nun?« gab Eva verwundert zurück; »außerordentliche Menschen, die ich kenne, sind Juden. Die stolzesten, feurigsten, weisesten.«
Johanna schüttelte den Kopf. Sie sagte: »Im Mittelalter mußten die Juden gelbe Flecke auf den Kleidern tragen. Ich trage den gelben Fleck in der Seele.«
Eva kleidete sich für die Teestunde um, und Susanne Rappard half ihr. »Was gibt es Neues bei uns, Susanne?« fragte Eva und löste die Spangen aus ihrem Haar.
Susanne Rappard antwortete: »Das Gute ist nicht neu, das Neue nicht gut. Dein häßliches Hofnärrchen hat ein Liebesverständnis mit Monsieur Wahnschaffe. Sie treiben es ziemlich geheim, aber man tuschelt bereits. Ich begreife nur ihn nicht. Er ist schnell genügsam geworden. Ich habs ja immer gesagt, es fehlt ihm an Geist, es fehlt ihm an Herz; nun sieht man, daß ihm auch die Augen fehlen.«
Eva war dunkel errötet. Jetzt wurde sie bleich. »Das ist Lüge,« sagte sie.
Trocken versetzte Susanne: »Es ist die Wahrheit. Frag sie selbst. Ich glaube nicht, daß sie leugnen wird.«
Kurz darauf schlüpfte Johanna ins Zimmer. Sie trug ein einfaches, schwarzes Samtkleid, das ihre Gestalt reizend machte. Eva saß noch vor dem Spiegel. Susanne frisierte sie; sie hatte ein Buch in der Hand, las darin und schaute nicht empor.
Auf einem Sessel neben dem Toilettentisch lag eine geöffnete Schmuckkassette. Johanna stand davor, blickte lächelnd hinein und entnahm ihr zaghaft eine schön geschnittene Kamee, die sie sich spielend an die Brust steckte; dann ein Edelsteindiadem, das sie entzückt betrachtete und auf ihrem Haar befestigte; dann ein paar Ringe, die sie einen um den andern über ihre Finger schob; dann ein goldenes, mit Perlen besetztes Armband, das sie auf dem Ärmel anbrachte. So geschmückt, trat sie, halb mutlos, halb selbstverspottend lächelnd, vor Eva hin.
Eva kehrte langsam die Augen vom Buch ab, sah Johanna an und fragte: »Ist es wahr?« Und nach einigen Sekunden leiser, mit größer aufgeschlagenen Augen noch einmal: »Ist es wahr?«
Johanna stutzte, verlor die Farbe aus den Wangen, ahnte, wußte, begann zu zittern.
Da erhob sich Eva, ging dicht zu ihr hin, löste die Agraffe von des Mädchens Brust, das Diadem aus dem Haar, zog die Ringe von den Fingern, das Armband vom Arm und legte alles in die Kassette zurück. Danach setzte sie sich wieder hin, nahm das Buch wieder zur Hand und sagte: »Mach fertig, Susanne, ich will noch ein wenig ruhen.«
Johanna stockte der Atem. Sie sah aus wie eine Geschlagene. Eine zarte Blüte des Herzens war für immer geknickt; ihr Hinwelken hauchte Miasmen aus. Fast ohnmächtig verließ sie das Zimmer.
Wie zur Besiegelung eines beendeten Lebensabschnitts und Drohung schwereren Unheils empfing sie zwei Stunden später eine Depesche ihrer Mutter, die sie in dringlichster Form, mit dem Hinweis auf eine geschehene Katastrophe, nach Hause rief. Fräulein Grabmeier packte sogleich die Koffer. Der Zug ging um fünf Uhr morgens.
Von Mitternacht an saß Johanna in Christians Zimmer und wartete auf ihn. Sie hatte das Licht nicht angezündet und saß in der Dunkelheit am Tisch, den Kopf auf die Hand gestützt, regungslos und mit starrem Blick.
In ihren Gesprächen waren Christian und Crammon immer tiefer in die Gassen des Hafenviertels gelangt. »Laß uns umkehren und einen Ausweg suchen,« riet Crammon, »hier ist nicht gut sein. Es ist eine verdammte Gegend, will mich dünken.«
Er sah sich spähend um, auch Christian sah sich um. Als sie ein paar Schritte weitergegangen waren, sahen sie einen Mann bäuchlings auf dem Pflaster liegen. Er machte krampfhafte Bewegungen, krächzte lästerliche Flüche und ballte die Faust gegen eine rotverhängte, beleuchtete Glastür, zu welcher von der Gasse ein paar Stufen hinunterführten.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und ein zweiter Mensch flog heraus; eine Schachtel, ein Regenschirm und ein steifer Hut wurden ihm nachgeworfen. Er stolperte mit um sich greifenden Armen über die Stufen herauf, stürzte neben den ersten hin und blieb mit stieren Augen sitzen.
Christian und Crammon schauten durch die offene Tür in die Kaschemme. In dunstigem Halblicht hockten zwanzig bis dreißig Menschen beieinander. Das eintönige Greinen eines Weibes war hörbar, bald in schrillen, bald in dumpfen Tönen.
Die Glastür wurde zugeknallt.
»Ich will mal sehen, was da vorgeht,« sagte Christian und stieg die Stufen hinunter. Crammon konnte nur noch einen erschrockenen Warnruf ausstoßen; nach kurzem Zögern folgte er. Eine Fuselwolke schlug ihm entgegen, als er hinter Christian in den unterirdischen Raum trat.
An Tischen und auf dem Boden kauerten Männer und Weiber; in jeder Ecke lagen einige im Knäuel, schlafend oder betrunken. Die auf die Ankömmlinge gerichteten Augen blinkten gläsern. Die Gesichter hatten Ähnlichkeit mit Lehmklumpen. Der Raum mit den schmutzigen Tischen, Gläsern, Flaschen hatte ein Kolorit von Scharlach und Gelb. Zwei handfeste Kerle standen am Ausschank.
Das Weib, dessen Greinen bis auf die Straße gedrungen war, saß mit blutüberströmtem Gesicht auf einer Wandbank und gab immerfort die flennenden, viehisch monotonen Laute von sich. Vor ihr stand mit gegrätschten Beinen, anders konnte er sich nicht aufrecht halten, der riesige Mensch, den Christian beim Leichenbegängnis der Dirne gesehen hatte, der mit den zusammengewachsenen Brauen und dem Karneol am Zeigefinger. »Et jibt wat aus der Armenkasse, wart nur,« schrie er heiser, im plattesten Berliner Jargon, »dir wer'k uf'n Drab bringen. Krist eens ufs Hauptjebäude. Denn kannste dein Kopp in Mond suchen.«
Auf der Schwelle einer offenen Tür im Hintergrund stand ein beleibter Mann mit zahllosen Anhängseln auf der karierten Weste. Eine dicke Zigarre starrte ihm aus gelben Zähnen; er schaute dem Vorgang mit überlegener Ruhe zu. Es war der Besitzer des Lokals. Als er die beiden Fremden erblickte, zog er die Stirn in die Höhe. Er hielt sie zuerst für Detektivs und eilte auf sie zu. Dann sah er, daß er sich getäuscht hatte, und wunderte sich. »Kommen Sie in mein Bureau, meine Herren,« sagte er mit einer feisten Stimme und ohne die Zigarre aus dem Munde zu tun, »kommen Sie nach hinten, ich setze Ihnen einen guten Tropfen vor.« Er zog Christian am Arm nach sich. Ein Weib mit einem gelben Kopftuch richtete sich vom Boden auf, streckte Christian die Hände flehend hin und bat um einen Groschen. Christian fuhr zurück wie vor Gewürm.
Ein Alter wollte den mit dem Karneol verhindern, das blutüberströmte Frauenzimmer weiter zu mißhandeln. Er nannte ihn Meseckekarl, schmeichelnd und furchtsam. Aber Meseckekarl hieb ihm die Faust unters Kinn, daß er röchelnd wankte. Da murrten einige, doch keiner wagte sich gegen den Goliath. »Er will Pinke von ihr,« raunte der Besitzer Christian zu, »sie soll noch mal auf die Gasse und Lemlem bringen. Man kann da vorläufig nichts machen.«
Er packte mit der andern Hand auch Crammon am Ärmel und zog beide durch die Tür in einen finstern Flur. »Die Herren wollen sich wohl in meinem Lokal interessieren?« forschte er unruhig. Er klinkte eine Tür auf und zwang sie einzutreten. Der Raum, in den sie kamen, zeigte einen geschmacklosen Luxus von Plüschmöbeln, Sofas, Sesseln, goldgerahmten Bildern und Portieren. Er hatte etwa fünf Meter im Geviert; alles stand dicht beieinander wie in einem Magazin; gekreuzte Schwerter hingen über einem Bukett aus Pfauenfedern, darüber eine violette Studentenmütze. Zwischen zwei Fenstern stand ein Schreibtisch mit geneigten Pulten, von Geschäftsbüchern bedeckt; an einem Pult schrieb ein schattenhaft magerer Mensch, wachsgelb im Gesicht. Er erschrak, als der Wirt ins Zimmer trat und beugte sich eifriger über seine Arbeit.
»Ich muß die Herren in Verwahrsam halten,« sagte der Wirt, »es könnte sonst 'n Malheur passieren. Wenn sich die Kanallje draußen beruhigt hat, können Sie ja unser Museum genauer in Augenschein nehmen. Sind wohl zugereist, die Herren?« Er langte auf ein Regal und holte eine Flasche herunter. »Dreiundneunziger Kognak,« fistelte er, »edelste Marke; die Herren müssen kosten. Ich liefere per Flasche und im Dutzend. 'n ochsig guter Tropfen. Kosten die Herren doch.«
Crammon schaute Christian an, dessen Gesicht ohne Regung von Unruhe war. Er ging mit düsterer Stirn an den Tisch und nippte geistesabwesend von dem Kognakglas, das der Wirt eingeschenkt hatte. Kognak war immerhin eine Zuflucht.
Indessen drang von draußen entsetzlicher Lärm herein. »Mir scheint, es gibt Senge,« sagte der Wirt, lauschte einen Moment und verschwand dann. Der Lärm schwoll an, aber plötzlich wurde es wieder still. Da sagte der Schreiber, ohne sein wachsgelbes Gesicht vom Pult zu heben: »Kein Mensch kann das aushalten. So ist es Nacht für Nacht. Und in den Büchern hier steht, was dabei verdient wird. Hunderttausende. Er ist ein Millionär, der Mann; Hillebohm rafft Millionen zusammen, ohne Erbarmen, ohne Erbarmen. Kein Mensch kann das mitansehen.«
Es klang wie die Worte eines Wahnsinnigen.
»Sollen wir uns hier einsperren lassen?« fragte Crammon entrüstet; »was ist das für eine Unverschämtheit?«
Christian öffnete die Tür, Crammon zog aus seiner hinteren Beinkleidtasche den Browning, den er stets bei sich trug. Sie schritten über den Flur zurück und blieben am Eingang zur Kaschemme stehen. Meseckekarl war verschwunden; man hatte ihn mit vereinten Kräften ins Freie befördert. Das Frauenzimmer, von dem er Geld erpressen gewollt, wusch sich mit einem nassen Tuch das Gesicht ab. »Sei nur stille, Karen,« tröstete sie jener Alte, der vorhin geschlagen worden war, »sei nur stille, 's wird schon wieder werden.« Sie hörte nicht auf ihn und sah tückisch und böse aus.
Auf ihrem Kopf loderte ein Gewirr von gelben Haaren, hoch wie ein Helm, verstrickt wie Tabaksfäden. Während sie geblutet, hatte sie mit dem Handrücken häufig über die Augen gewischt und dabei die Haare mit Blut besudelt.
»Jetzt geh mal nach Hause,« gebot ihr der Wirt. »Wasch dir deine Vorderflossen ab und geh und grüß Gott, wenn du 'n siehst. Mach nich so lang, sonst kommt er wieder, dein Bräutigam, und es setzt neue Bimse.«
Sie rührte sich nicht. »Nu, mach schon, Karen,« keifte ein Weib, »mach schon. Willst dir denn noch mal vertobacken lassen?«
Sie rührte sich nicht. Schwer atmend schaute sie jäh zu Christian auf.
»Kommen Sie mit uns,« sagte Christian unerwartet. Von der Schank herüber schmetterte ein Gelächter. Crammon legte Christian in verzweifelter Mahnung die Hand auf die Schulter.
»Kommen Sie mit uns,« wiederholte Christian ruhig, »wir werden Sie nach Hause führen.«
Dutzende von verglasten Augen stierten höhnisch. »Dübel, Dübel, Dübel, so wat Feines,« meckerte eine Stimme. Eine zweite fiel ein im Tonfall, wie man Verse skandiert: »Wenn det nich jut for die Wanzen is, denn weeß ich nich, was besser is. Besinn dir nich, Karen Engelschall; flink auf die Beene, Droomtute.«
Karen erhob sich. Sie hatte den scheuen und finstern Blick noch nicht von Christian gewandt. Seine Schönheit machte einen verblüffenden Eindruck auf sie. Ein schiefes, zynisches Lächeln, das furchtsam wurde, glitt über ihre vollen Lippen.
Sie war ziemlich groß. Sie hatte üppige Schultern und eine starke Brust; sie war schwanger, vielleicht in der Mitte der Zeit; man sah es deutlich, als sie stand. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid mit grünschillernden Knöpfen und unter dem Hals eine grellrote Seidenschleife, auf der eine Brosche befestigt war, ein venetianischer Gondelkopf aus Silber mit eingelegten Granatsteinen und der Inschrift: Ricordo di Venezia. Ihre Schuhe waren plump und kotig. Der Hut, ein Lacklederhut mit einem Büschel roter Gummikirschen, lag neben ihr auf der Bank. Sie griff danach. Es war ein sonderbarer Raubtiergriff.
Christian sah die Seidenschleife mit der silbernen Brosche an, auf der Ricordo di Venezia stand.
Crammon suchte Rückendeckung, denn es kamen neue Gäste, Individuen mit verdächtigen Gesichtern. Er hatte begonnen, sich ins Unvermeidliche, Unbegreifliche zu fügen, und war entschlossen, seinen Mann zu stellen. Innerlich knirschte er über die Abwesenheit obrigkeitlicher Organe. No my dear, redete er vor sich hin, aus dieser Hölle kommen wir lebendig nicht mehr heraus. Und er dachte an sein Hotelbett, an sein köstliches Bad mit wohlriechenden Essenzen, an das leckere Frühstück, an eine Schachtel mit Lindt-Schokolade, die auf seinem Nachttisch auf ihn wartete; er dachte an junge Mädchen, die nach frischer Wäsche rochen, überhaupt an angenehme Gerüche, an Ariels Lächeln, an Rumpelstilzchens Heiterkeit, an den Expreßzug, der ihn nach Wien bringen sollte; an alles das dachte er, wie wenn seine letzte Stunde gekommen wäre.
Zwei Matrosen schleppten zwischen sich ein Mädchen die Treppe herunter, das vor Betrunkenheit fahl und steif war. Als sie unten waren, schmissen sie es roh auf die Erde. Das Geschöpf röchelte und hatte einen geisterhaft wollüstigen, ja lasziven Ausdruck im Gesicht. Sie blieb steif wie eine Latte liegen. Die Matrosen fragten herausfordernd nach dem Meseckekarl. Es schien, daß sie ihn draußen getroffen und von ihm aufgestachelt worden waren. Sie wollten den Wirt provozieren. Der eine hatte eine breite Schramme auf der Stirn; des andern Arme waren nackt und bis zu den Schultern hinauf über und über blau tätowiert. Man sah als Zeichnung eine Schlange, ein beflügeltes Rad, einen Anker, einen Totenschädel, einen Phallus, eine Wage, einen Fisch und noch vieles.
Beide maßen Christian und Crammon frech blickend. Der Tätowierte deutete auf den Revolver, den Crammon in der gesenkten Hand hielt und sagte: »Steck nur die Pixtaule wieder ein, sonst sollste mit Vergißmeinnicht handeln.«
Der andre stellte sich so dicht vor Christian hin, daß dieser erbleichte. Gemeinheit hatte ihn noch niemals angetastet, Schimpf und Unflat nie bespritzt. Vor Verachtung und Ekel überlief es ihn heiß. Dies konnte zur Umkehr nötigen. Es war schlimmer als die Vision des Bösen im Hause Szilaghins.
Das Gemeine konnte zur Umkehr zwingen.
Wie er aber dem Menschen in die Augen sah, merkte er, daß diese seinen Blick nicht ertrugen. Sie zuckten, flatterten, entflohen. Die Wahrnehmung verlieh ihm Mut und das Gefühl einer innern Kraft, deren Tragweite noch unbestimmt war.
»Ruhe im Glied,« fuhr der Wirt die beiden Matrosen an, »nu soll Ruhe sein. Ihr wollt mir woll die Pollezei uf 'n Hals hetzen; det fehlte mir noch. Ruhig, Ede; hast woll 'n kleenen Lütiti. Die Deern mag mit die Kavaliers fortgehn, die Herren zahlen ihre Zeche: zwee Glas sin Schampanje; eene Mark un fumfzig und damit Gott befohlen.«
Crammon legte ein Zweimarkstück auf den Tisch. Karen Engelschall hatte den Hut auf das Haar gesteckt und wandte sich zur Treppe. Christian und Crammon folgten, der Wirt begleitete sie mit sarkastischen Verbeugungen, die beiden Athleten vom Schanktisch bildeten obendrein Schutzgarde. Ein paar Halbbetrunkene sangen in der Melodie des Torgauer Marsches: »Fritze Weber / Hat'n Kleber / An de Zunge / An de Lunge / An de Leber.«
Die Gasse war menschenleer. Karen spähte hinauf, hinunter und schien unschlüssig, wohin sie ihre Schritte lenken sollte. Crammon fragte sie, wo sie wohne. Ohne ihn anzuschauen erwiderte sie barsch, sie wolle nicht nach Haus. »Wohin dürfen wir Sie sonst bringen?« fragte Crammon weiter, sich zu Geduld und Rücksicht überwindend. Sie zuckte die Achseln. »Ist mir ganz egal,« sagte sie; dann nach einer Weile, mit Trotze »Ich brauch Sie ja gar nicht.«
Sie gingen in der Richtung gegen den Hafen, Karen zwischen Christian und Crammon. Einen Augenblick blieb sie stehen und murmelte mit schaudernder Angst: »Daß ich bloß nicht ihm in die Hände laufe; bloß das nicht.«
»Machen Sie uns also einen Vorschlag,« redete ihr Crammon zu. Er wäre am liebsten auf und davon gegangen, aber um Christians willen, um Christian mit heiler Haut aus dem schlimmen Abenteuer zu ziehen, tat er sich Gewalt an und spielte den Menschenfreundlichen.
Karen Engelschall antwortete nicht und ging rascher, da sie unter einer Laterne eine Gestalt gewahrte. Bis sie aus deren Blickbereich war, flog ihr Atem in rasender Furcht. Man hörte es.
»Sollen wir Ihnen Geld geben?« fuhr Crammon zu fragen fort.
Sie entgegnete zornig: »Ich brauche nicht Ihr Geld. Will kein Geld.« Sie schielte verstohlen zu Christian hinüber, und ihr Gesicht wurde tückisch und verschlossen.
Crammon verließ den Platz an ihrer Seite, ging zu Christian und sagte französisch: »Es ist am besten, wir führen sie in irgendein Hafengasthaus, wo sie ein Zimmer und ein Bett bekommt. Wir können ja eine Summe für sie erlegen, damit man sie eine Zeitlang behält. Dann mag sie sich selber helfen.«
»Ganz recht, das wird am besten sein,« antwortete Christian, und als habe er nicht die Sprache für sie, fügte er hinzu: »Sag es ihr.«
Karen war stehengeblieben; sie zog wie frierend die Schultern hinauf und sagte mit einer vom Trinken heiseren Stimme: »Laßt mich doch in Frieden. Was schwatzt ihr da? Ich geh nicht einen Schritt mehr. Bin zu müd. Kümmert euch nicht um mich.« Sie lehnte sich an die Mauer eines Hauses, wobei sich der Lacklederhut mit den Gummikirschen in die Stirn schob. Reizloseres, Verwüsteteres als der Anblick, den sie darbot, war kaum zu denken.
»Hängt dort nicht ein Gasthausschild?« fragte Crammon und wies auf eine beleuchtete Tafel am Ende der Straße.
Christian, der ungemein scharfe Augen hatte, sah hin und antwortete: »Ja. König von Griechenland steht darauf. Geh, bitte, hin und erkundige dich.«
»Liebliche Gegend,« murrte Crammon, »liebliches Geschäft. Ich büße meine Sünden.« Er ging.
Christian blieb schweigend bei der Dirne stehen. Karen schaute stumm und verdrossen zur Erde. Ihre Finger nestelten an der Seidenschleife. Christian lauschte auf den Schlag von Turmuhren. Es schlug zwei. Endlich zeigte sich Crammon wieder auf der Straße. Er winkte von weitem und rief: »Ready.«
Jetzt sprach Christian das Mädchen zum erstenmal an. »Es ist eine Unterkunft für Sie gefunden,« sagte er ein wenig näselnd und blinzelte stark, was er sonst niemals tat. Seine eigne Stimme klang ihm außerordentlich unsympathisch. »Sie können dort einige Tage bleiben.«
Sie sah ihn mit haßvoll funkelnden Augen an; eine unsägliche Neugier, keine Neugier guter Art, brannte in dem Blick, dann senkte sie die Augen wieder. Christian fuhr gezwungen fort: »Ich denke, Sie werden da in Sicherheit sein vor dem Menschen. Ruhen Sie sich aus. Vielleicht sind Sie krank. Man kann ja einen Arzt benachrichtigen.«
Sie lachte leise und höhnisch. Ihr Atem roch nach Schnaps.
Crammon rief abermals: »Ready!«
»Nun, so kommen Sie,« sagte Christian, seinen Widerwillen nur mit Mühe beherrschend.
Seine Stimme und seine Worte machten denselben verblüffenden Eindruck auf Karen wie vorher seine Schönheit. Sie schickte sich in einer Weise zum Gehen an, als würde sie von hinten geschoben.
Ein verschlafener Pförtner in Pantoffeln stand an der Tür des Gasthauses. Seine demütige Höflichkeit bewies, daß Crammon verstanden hatte, ihn zu behandeln. »Nummer vierzehn im zweiten Stock ist frei,« sagte er.
»Schicken Sie morgen jemand in Ihr Logis und lassen Sie Ihre Sachen holen,« riet Crammon dem Mädchen.
Sie schien nicht zu hören. Ohne Gruß, ohne Blick, ohne Dank stieg sie, von dem Pförtner geführt, die mit einem schmutzigroten Teppich belegte Treppe hinauf. Die Gummikirschen auf dem Hut klapperten leise gegen das Leder. Die plumpe Gestalt verlor sich in der Schwärze.
Crammon atmete auf. »Jetzt um jeden Preis vier Räder!« ächzte er. An einer Straßenecke fanden sie einen Wagen.
Als Christian sein Zimmer betrat und das elektrische Licht aufflammte, wunderte er sich, Johanna am Tisch sitzen zu sehen. Sie schützte die geblendeten Augen mit der Hand. Er blieb an der Türe stehen. Die gerunzelte Stirn glättete sich wieder, als er die unsägliche Blässe in Johannas Gesicht bemerkte.
»Ich muß reisen,« hauchte Johanna, »ich habe ein Telegramm bekommen, ich muß sofort nach Wien.«
»Auch ich reise ab,« antwortete Christian.
Eine Weile herrschte Schweigen. Dann begann Johanna: »Seh ich dich wieder? Kann ich dich wieder sehn? Darf ichs?« In den bescheidenen Fragen verriet sich die Zerrissenheit ihres Innern. Sie lächelte geduldig und verzichtend.
»Ich werde in Berlin sein,« erwiderte Christian. »Willst du wissen, wo, ich selbst weiß es noch nicht, so wendest du dich am besten an Crammon. Crammon ist leicht erreichbar. Seine Damen in Wien schicken ihm alle Briefe.«
»Wenn du wünschest, kann ich nach Berlin kommen,« sagte Johanna mit demselben geduldigen und verzichtenden Lächeln. »Ich habe dort Verwandte. Aber ich glaube, du wünschst es nicht.« Dann, nach einer Pause, während der sich der Blick ihrer sanften Augen ziellos verlor: »Soll also Schluß sein?« Sie hielt den Atem an und war gespannt wie die Sehne am Bogen.
Christian trat an den Tisch und stützte den Zeigefinger einer Hand auf die Platte. Mit gesenktem Kopf sagte er langsam: »Fordere jetzt nicht Entscheidungen von mir. Ich kann sie nicht geben. Ich möchte dir nicht weh tun. Ich möchte nicht, daß sich etwas wiederholt, was schon so oft dagewesen ist in meinem Leben. Treibt es dich, so komm, und achte nicht auf mich dabei. Denke nicht, daß ich vorhabe, dich im Stich zu lassen; es ist nur momentan eine kritische Zeit. Mehr kann ich dir nicht sagen.«
Aus diesen Worten konnte Johanna nichts für sich entnehmen als Hoffnungsloses. Dennoch tönte etwas hinter ihnen, das ihren egoistischen Schmerz linderte. Mit der ihr eignen schlanken Bewegung streckte sie Christian den Arm hin, und in damenhaft starrer Haltung, matt lächelnd, sagte sie: »Also, auf Wiedersehn – vielleicht.«
Als das junge Mädchen fortgegangen war, legte sich Christian auf die Ottomane, verschränkte die Hände hinter dem Kopf, und so lag er, bis der Morgen anbrach. Das Licht hatte er nicht verlöscht. Die Augen fielen ihm nicht zu.
Er sah die ausgetretenen Treppen, die zur Kaschemme führten, und den von vielen Füßen beschmutzten Teppich auf der Treppe des kleinen Hafengasthofs; er sah die Laterne in der verödeten Gasse und die bunt karierte Weste des Wirtes mit den klappernden Anhängseln; er sah die Kognakflasche auf dem Regal und das grüne Umhangtuch eines der betrunkenen Weiber, er sah die tätowierten Zeichen auf den nackten Armen des Matrosen: den Anker, das beflügelte Rad, den Phallus, den Fisch, die Schlange; er sah die Gummikirschen auf dem Lacklederhut der Prostituierten, die silberne Brosche mit den eingelegten Granatsteinen und der albernen Devise: Ricordo di Venezia.
Je länger er lag und an diese Dinge dachte, ein je gewisseres Gefühl von Befreiung und Freiheit weckten sie in ihm, je mehr schienen sie ihm geeignet, ihn von andern Dingen zu erlösen, die er bisher geliebt hatte, den seltenen und kostbaren Dingen, die er ausschließlich und ergebnislos geliebt hatte; auch von den Menschen, zu denen sie alle in Beziehung standen, und mit denen er zu keinem Ergebnis gelangt war.
Wie er so lag und schaute, lebte er in den armseligen und gemeinen Dingen drin; alle ergebnislosen Beschäftigungen und Beziehungen verloren ihre Wichtigkeit in seinen Augen, und der Gedanke an Eva hörte auf, ihn zu quälen und zu ergebnisloser Erniedrigung zu verführen.
Das strahlende und königliche Wesen lockte ihn nicht mehr, wenn er an das blutüberströmte Gesicht der Dirne dachte, denn diesem gegenüber empfand er eine Art von Neugier, die mehr und mehr sein ganzes Inneres ausfüllte, so daß nichts daneben Platz hatte.
Als der Tag graute, schlief er ein, aber nach einer Stunde erwachte er wieder, erhob sich, wusch das Gesicht mit kaltem Wasser, dann verließ er das Hotel, nahm einen Wagen und ließ sich in das Hafengasthaus zum König von Griechenland fahren.
Der Nachtportier war noch auf seinem Posten. Er erkannte den frühen Gast wieder und geleitete ihn mit unangenehmem Eifer über zwei Stiegen bis an das Zimmer von Karen Engelschall.
Christian pochte; es blieb drinnen still. »Gehen Sie nur hinein, mein Herr,« sagte der Portier; »Schlüssel ist keiner da, und der Riegel funktioniert nicht. Es passiert so allerlei, und da ist es besser für uns, wenn die Türen unverschlossen bleiben müssen.«
Christian trat ein. Es war ein Raum mit häßlichen braunen Möbeln, einem dunkelroten Plüschsofa, einem runden Toilettespiegel mit einem Sprung in der Mitte, einer elektrischen Birne mit weißem Sturz an einem Messingstab und einem Öldruckbild des Kaisers an der Wand. Alles war voll Staub, abgegriffen, abgetreten, abgesessen, armselig und gemein.
Karen Engelschall lag im Bett und schlief. Sie lag auf dem Rücken; das verwilderte Haargestrüpp glich einem Bündel Stroh; das Gesicht war blaß und etwas gedunsen. Auf der Stirn und der rechten Wange waren frische Narben. Die volle, aber schlaffe Brust quoll über der Decke heraus.
Der alte heftige Widerwille gegen schlafende Menschen regte sich in Christian; er wurde dessen Herr und betrachtete das Gesicht. Er sann darüber nach, aus welchem Stande sie hervorgegangen sein mochte, ob sie eine Fischers- oder Schifferstochter war, eine Kleinbürgerin, eine Proletarierin, eine Bäuerin. Dies beschäftigte seine Neugier eine Weile, dann fiel ihm die unsägliche Zerstörung der Züge auf. Es war ein Gesicht ohne Böses, ohne Gutes, wie es da schlafend lag, aber zerrissen wie von unerhört quälenden Träumen. Da dachte Christian an den Karneol an der Hand des Menschen, der sie geschlagen; der widerlichrote Stein, der an ein Insekt oder an ein Stück rohes Fleisch erinnerte, wurde ihm außerordentlich gegenwärtig.
Er machte eine Bewegung und stieß an einen Stuhl; von dem Geräusch erwachte Karen Engelschall. Sie schlug die Lider auf, und Furcht und Entsetzen brannten in ihren Augen, als sie die Gestalt im Zimmer gewahrte; die Züge verzerrten sich furienhaft, der Mund öffnete sich hohl zu einem Schrei. Dann sah sie, wer der Eindringling war; sie hatte sich halb aufgerichtet; sie fiel in die Kissen zurück und seufzte erleichtert. Ihr Blick bekam wieder das Störrische, ihr Gesicht den Ausdruck erzwungener Fügsamkeit. Sie lauerte; sie wußte sich den Besuch nicht zu deuten; sie schien sich zu wundern und überlegte. Sie zog die Decke bis ans Kinn und lächelte halb geschmeichelt, halb schal.
Unwillkürlich forschten Christians Blicke nach der grellroten Schleife und der silbernen Brosche. Die Kleider des Mädchens waren unordentlich über einen Stuhl geworfen. Der Hut mit den Gummikirschen lag auf dem Tisch.
»Warum stehen Sie?« fragte Karen Engelschall mit heiserer Stimme, »setzen Sie sich doch.« Wieder wie in der Nacht war sie von seiner Schönheit und Vornehmheit verblüfft. Er ist ein Baron oder ein Graf, überlegte sie und lächelte das schale Lächeln. Sie war ausgeschlafen und fühlte sich ziemlich wohl.
»Sie können nicht lang in diesem Haus bleiben,« begann Christian mit höflichem Ton; »ich habe darüber nachgedacht, was man für Sie tun könnte. Ihr Zustand fordert eine gewisse Schonung. Sie dürfen sich den Mißhandlungen jenes Menschen nicht mehr aussetzen. Es wäre am besten, wenn Sie die Stadt verließen.«
Karen Engelschall lachte kurz. »Die Stadt verlassen? Wie soll ich denn das machen? Unsereins muß bleiben, wo es hingestellt wird.«
»Hat er irgendein Anrecht auf Sie?« fragte Christian.
»Anrecht? Wieso? Wie meinen Sie das? Ach so. Nein, nein. Es ist nur so, wie es eben bei unserm Geschäft ist. Man hat den zum Schutz, dem man das Geld gibt, und vor dem nehmen sich die andern in acht. Wenn er stark ist und viele Freunde hat, geschieht einem nichts. Schlechte Kerle sind sie alle, aber man darf nicht groß wählen, sie sitzen einem ganz eklig auf der Pfanne. Man hat Tag und Nacht keine Ruh; das Fleisch wird müd, sag ich Ihnen.«
»Das kann ich mir denken,« erwiderte Christian und blickte eine Sekunde lang in Karens runde, unschimmernde Augen; »deswegen wollte ich mich Ihnen zur Verfügung stellen. Ich reise heute oder morgen von hier ab und bleibe wahrscheinlich einige Monate in Berlin. Ich bin bereit, Sie mit mir zu nehmen. Sie dürften aber Ihren Entschluß nicht verzögern, denn ich habe vorläufig keine Adresse dort, das heißt, ich weiß noch nicht, wo ich wohnen werde, und wenn man ein solches Vorhaben verschiebt, wird es meistens nie ausgeführt. Momentan sind Sie für Ihren Verfolger so gut wie verschwunden, und diese Gelegenheit scheint mir günstig. Sie brauchen Ihre Sachen nicht zu holen; ich werde Ihnen, was Sie nötig haben, dort verschaffen.«
Diese mit Freundlichkeit gesprochenen Worte übten nicht die Wirkung, die Christian erwartet hatte. Karen Engelschall faßte das Einfache und Offene darin nicht. Höhnischer Verdacht stieg in ihr auf; sie wußte von Sittenaposteln und Heilspredigern, die in der Welt der Dirnen im allgemeinen so gefürchtet waren, wie die Sendlinge der Polizei; aber bei schärferem Hinsehen verriet ihr ein Instinkt, daß sie mit solchem Argwohn fehlging. Schwerfällig tastend, verirrte sie sich in andre Vermutungen, romanhaftere, dachte an ein Komplott, an Verschleppung, an ein Schicksal, das noch unerträglicher sein konnte als das unter der Botmäßigkeit ihres bisherigen Peinigers. Darüber grübelte sie in Hast und Groll mit verdüsterten Mienen, verkrampfter Faust, aus Furcht in Hoffnung, aus Hoffnung in Mißtrauen gerissen, dabei, wie schon gestern, von etwas bezwungen, dem man sich nicht entziehen konnte, so viel man sich auch sträubte, dem man unter allen Umständen gehorchen mußte.
»Was wollen Sie denn eigentlich von mir?« fragte sie und heftete einen durchdringenden Blick auf ihn.
Christian besann sich, um jedes Wort zu erwägen und entgegnete: »Nichts anderes, als was ich Ihnen gesagt habe.«
Sie schwieg und starrte auf ihre Hände. »Meine Mutter lebt in Berlin,« murmelte sie. »Soll ich am Ende zu der gehen? Ich möchte nicht.«
»Sie sollen zu mir gehen,« sagte Christian fest, beinahe hart. Seine Brust füllte sich mit Atem und leerte sich wie ein Blasebalg über Schmiedefeuer. Das Wort war gesprochen.
Karen schaute ihn abermals an. Jetzt war ihr Blick ernst und nüchtern. »Was soll ich bei Ihnen denn?« fragte sie.
Christian antwortete zögernd: »Darüber bin ich noch nicht schlüssig geworden. Ich muß es erst überlegen.«
Karen faltete die Hände. »Aber wer Sie sind, muß ich doch wissen.«
Er nannte seinen Namen.
»Ich bin ein schwangeres Weib,« fuhr sie mit finsterm Gesicht fort, und zum erstenmal zitterte ihre Stimme; »ein Straßenmädchen, das schwanger ist. Wissen Sie das? Das Miserabelste und Ludrigste, was es in der Welt gibt; wissen Sie das?«
»Ich weiß es,« sagte Christian und schlug die Augen nieder.
»Was wollen Sie also mit mir anfangen, so ein feiner Herr, wie Sie sind? Warum interessieren Sie sich für so eine?« drängte sie.
»Ich kann Ihnen das jetzt nicht erklären,« erwiderte Christian befangen.
»Was soll ich also tun? Mit Ihnen gehen, sagen Sie? Gleich?«
»Wenn es Ihnen recht ist, werde ich Sie um zwei Uhr mittags abholen, und wir fahren zum Bahnhof.«
»Und Sie genieren sich mit mir gar nicht?«
»Nein, ich geniere mich nicht.«
»In meinem Aufzug? Und wenn die Leute mit Fingern auf das Mensch weisen, das mit dem eleganten Herrn geht?«
»Es ist gleichgültig, was die Leute tun.«
»Schön; so will ich warten.« Sie kreuzte die Arme über der Brust, starrte zur Decke des Zimmers empor und rührte sich nicht mehr. Christian erhob sich, nickte und ging. Auch als er fort war, blieb Karen unbeweglich. Eine tiefe Falte grub sich in ihre Stirn; die frischen Narben leuchteten auf der fahlen Haut wie Brandmale; ein dumpfes, animalisches Staunen machte die Augen leichenhaft glanzlos.
Als Christian durch die Halle des Hotels schritt, erblickte er Crammon, der traurig in einem Sessel saß. Christian blieb stehen und reichte ihm lächelnd die Hand. »Hast du gut geschlafen, Bernhard?« fragte er.
»Ach, wenns vom Schlafen abhinge,« versetzte Crammon; »der Schlaf läßt nie was zu wünschen übrig. Das Wachen ists, worans hapert. Man wird alt. Die Vergnügungen halten nicht mehr recht vor. Die Freuden werden fadenscheinig. Man rechnet auf Dank und Liebe und hat nur Kummer und Enttäuschung. Ich glaube, ein Kloster wär für mich wirklich das Passendste. Demnächst werde ich das Projekt in die Nähe rücken.«
»Nein, Bernhard,« gab Christian lachend zur Antwort, »im Kloster würdest du eine üble Figur machen. Fort mit den schwarzen Gedanken; laß uns lieber frühstücken.«
»All right, laß uns frühstücken.« Crammon erhob sich. »Hast du eine Ahnung, weshalb das Rumpelstilzchen plötzlich bei Nacht und Nebel abgedampft ist? Ich höre, sie hat eine unangenehme Nachricht vom Hause erhalten; aber das ist doch noch kein Grund, ohne ein Sterbenswort auf und davon zu gehen. Jedenfalls ist es schnöde gehandelt. In wenigen Stunden wird uns auch Ariel verloren sein. Die Gemächer oben starren von Koffern und Schachteln, Monsieur Chinard vergeht vor Wichtigkeit. Nur schwarzes Gewölk grinst einen noch an, der bunte Regenbogen ist dahin. Exzellent, dieser Kaviar übrigens. Ich werde mich in die Heimlichkeiten des Privatlebens zurückziehen. Vielleicht miete ich mir einen Sekretär oder eine appetitliche und diskrete Sekretärin und fange an, meine Memoiren zu diktieren. Du, mein Lieber, scheinst guter Laune; du blickst so fröhlich, wie schon lange nicht.«
»Ja, mir geht es ausgezeichnet,« sagte Christian und zeigte beim Lächeln seine großen, blendendweißen Zähne; »ausgezeichnet,« wiederholte er und streckte dem überraschten Freund abermals die Hand entgegen.
»Hast du dich also endlich damit abgefunden?« forschte Crammon augenzwinkernd und deutete mit dem Daumen ausdrucksvoll nach oben.
Christian erriet. »Vollkommen,« sagte er heiter, »die Krankheit ist überstanden.«
»Bravo, bravo.« Und Crammon, behaglich schmausend, philosophierte: »Wär es anders, so wärs betrüblich. Ich muß es immer wieder betonen: Ariel gehört nun einmal zu den Sternen. Es gibt segensvolle Sterne und gibt verhängnisvolle Sterne. Einige sind von guten Geistern bewohnt, einige von Dämonen. Das wissen wir seit urältesten Zeiten. Sie sollen ihre Affären untereinander schlichten. Kommt es zu Kollisionen und Katastrophen, so ist es eben eine kosmische Angelegenheit, die uns Sterbliche nicht weiter zu kümmern hat. Schließlich bist du ja auch nur ein Sterblicher, wenn auch ein auserwählter; hast sogar eine Reise in die seligen Jagdgründe tun dürfen. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Die Konkurrenz mit moskowitischen Autokraten kannst du nicht aufnehmen. Den Drachen vermag Siegfried am Ende noch zu besiegen; wenn Luzifer selber auf hohem Roß feuerschnaubend dahersprengt, trägt er nur seine schöne Haut zu Markte. Erfreulich und weise, daß du die Finger davon läßt. Auf eine genußreiche Zukunft, mein Engel!«
Christian ging ans Büfett, wo herrliches Obst zum Verkauf lag. Er wußte, ein wie entzückter Liebhaber seltener Früchte Crammon war. Er nahm einen geflochtenen Korb und legte in die Mitte eine Ananas, die er aufschnitt, so daß ihr goldnes Fleisch feuchtschimmernd lockte; darum im Kreis vier Kalvilleäpfel von reinster Oberfläche, gelblich leuchtende, sechs große französische Pfirsiche, flaumig und von elastischer Weichheit wie Muskulatur, und sieben enorme Dolden kalifornischer Trauben. Nachdem er die Früchte sachverständig angeordnet, trug er den Korb zu Crammon und überreichte ihn dem Beglückten mit scherzender Feierlichkeit.
Sie trennten sich dann, aber als Crammon am späten Nachmittag ins Hotel zurückkehrte, erfuhr er zu seiner Bestürzung, daß Christian abgereist sei.
Er konnte sich nicht fassen. Er erschien sich als das Opfer einer unheimlichen Kabale. »Sie lassen mich alle im Stich,« murmelte er zornig vor sich hin; »sie wollen sich über mich lustig machen. Es ist eine wahre Epidemie. Du hast abgewirtschaftet, Bernhard Gervasius, du bist ihnen im Wege, es ist aus mit dir, geh in deine Klause und betraure dein Leben.«
Er befahl seinem Diener zu packen und Plätze für den Zug nach Wien zu besorgen. Dann stellte er das Körbchen mit den Früchten auf den Tisch und pflückte betrübt sinnend Beere um Beere von den Trauben.
An dem stillen kleinen Haus mit den Möbeln aus der Maria-Theresia-Zeit vergaß er das Erlittene wieder. Ein Idyll hob an.
Er begleitete seine beiden frommen Damen in die Kirche, und aus Rücksicht und Gefälligkeit für sie betete er manchmal selbst. Herr, vergib meinen Feinden und führe mich nicht in Versuchung, war sein Hauptgebet. An sonnigen Nachmittagen kam der Fiaker, um die drei zur Fahrt in den Prater abzuholen. Am Abend wurde der Speisezettel für den folgenden Tag festgesetzt, wobei die nationalen und altüberkommenen Gerichte bevorzugt wurden. Dann las er Fräulein Aglaia und Fräulein Constantine, die lautlos andächtig zuhörten, klassische Gedichte vor, einen Gesang aus Klopstocks Messias, oder den Spaziergang von Schiller, oder Rückerts Makamen; noch immer ahmte er Stimme und Tonfall Edgar Lorms täuschend nach. Auch erzählte er unverfängliche Anekdoten aus seiner Vergangenheit, die er ausschmückte und veredelte, so daß sie jedem Töchteralbum Ehre gemacht hätten.
Erst wenn sich die beiden Damen zur Ruhe begeben hatten, zündete er die englische Pfeife an, schenkte ein Glas Kognak ein, hielt ruhige Rückschau und Selbstschau oder vertiefte sich in den Genuß der Schätze seines kleinen Museums, der in vielen Jahren zusammengetragenen Kostbarkeiten.
Kurz vor dem verabredeten Stelldichein mit Franz Lothar von Westernach erhielt er einen Alarmbrief von Christians Mutter.
Frau Richberta teilte ihm mit, daß Christian Weisung gegeben habe, seine sämtlichen Liegenschaften zu verkaufen, Christiansruh, Waldleiningen, das Jagdhaus, die Pferde, die Hunde, die Automobile, die Sammlungen, sogar die kostbare Ringsammlung. Das Unfaßliche sei bereits im Wege, und man habe nicht die geringste Andeutung eines Grundes. Sie befinde sich in ratloser Verzweiflung und bitte Crammon um Aufschluß, bitte ihn, nach Wahnschaffeburg zu kommen. Ob er über Christians Schritt, über Christians Tun unterrichtet sei, was sich denn um Gottes willen mit ihm ereignet habe? Man könne keine Nachricht erhalten, seit Wochen sei er wie verschollen, man tappe im Finstern. Die Familie wünsche natürlich nicht, daß der Besitz in fremde Hände überginge, und werde alles an sich bringen, obschon es sich widrig anlasse, den frechen Überbietungen, Advokaten- und Agentenmanövern, die der von Christian beauftragte Verwalter ins Werk gesetzt, wirksam zu begegnen. Aber allem voran stehe die Sorge um Christian; sie erwarte, daß Crammon ihr in ihrer Not beistehen und die hohe Meinung rechtfertigen werde, die sie von seiner Freundschaft für Christian und Anhänglichkeit an das Haus gefaßt.
Crammon las die Zeilen noch einmal, die vom Verkauf von Christiansruh und der Sammlungen handelten. Er schüttelte lange den Kopf, drückte das Kinn in die Hand, und zwei dicke Tränen rollten über seine Backen.