Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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Karen Engelschall

1

Crammon kam am festgesetzten Tag zur festgesetzten Stunde. Er hatte sich vorbereitet, zu weilen und Feste zu feiern. Damit war es nichts. Eva war mit den Ihren schon im Aufbruch begriffen. Maidanoff war nach Paris gereist, um dort auf Eva zu warten.

Man hatte Crammon von der neuen Beziehung seines Abgotts unterrichtet. Er war alsbald auf dem laufenden über alles, was vorgefallen war; auch daß zwischen Christian und Eva ein Zerwürfnis stattgefunden haben mußte. Um so mehr wunderte es ihn, als er Christian entschlossen sah, Eva nach Hamburg zu folgen.

Nach wenigen Worten schon, die er mit Christian gewechselt, fiel ihm die Veränderung des Freundes auf. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte teilnehmend: »Hast du mir nichts anzuvertrauen?«

Er verbrachte einen Abend mit Wiguniewski. »Es ist nicht möglich, ihr müßt euch irren,« sagte er, »oder die Welt ist auf den Kopf gestellt, und ich weiß nicht mehr, was ein Mann und was ein Weib ist.«

»Ich hatte von Anfang an keine besondere Vorliebe für Wahnschaffe,« bekannte Wiguniewski. »Er war und ist mir zu undurchsichtig, zu versteckt, zu verwöhnt, zu kühl, zu kalt, zu deutsch, wenn Sie wollen. Trotzdem habe ich von Anfang an gewußt: der ist für Eva Sorel wie geschaffen. Wenn man die beiden Menschen beieinander sah, empfand man eine spirituelle Freude; dasselbe Vergnügen, das eine schöne Komposition erregt, überhaupt alles Sinnvolle und Harmonische.«

Crammon nickte. »Er hat ja eine merkwürdige Gewalt über die Weiber,« sagte er; »ich habe jetzt wieder ein Beispiel davon erlebt, das um so verblüffender ist, als es sich bloß um sein Bild handelt. Ich lernte da bei Ashburnhams in Yorkshire, wo ich zu Gast war, eine junge Wienerin kennen, Bankierstöchterchen, recht häßlich, wenn ich aufrichtig sein soll, aber mit einem besondern Tick, einem besondern Charme, einem besondern Witz; auch das Gestaltchen nicht übel, obschon dürftig, ausnehmend dürftig. Sie heißt Johanna Schöntag, aber der Name tut ja nichts zur Sache; ich nannte sie bloß Rumpelstilzchen, das paßte zu ihr. Der Teufel mag wissen, wie sie in die Gesellschaft dort geraten war; ich glaube, ihre Schwester, ein rothaariges Frauenzimmer, wie aus einem Rubens entsprungen, hat einen kleinen Attache bei einer kleinen Gesandtschaft geheiratet, Rumänien oder Bulgarien oder so was. Das Großkapital sucht Mäntelchen für seine Töchter. Na, gleichviel, dieses Rumpelstilzchen und ich, wir verbündeten uns in der nebligen Langeweile von Lord und Lady Ashburnhams Heim zu gegenseitiger Aufheiterung. Eines Tages zeig ich dem Mädel Christians Bild. Ich besitze eine Miniature von ihm, die ich in Paris von Maitre Gaston Villiers habe machen lassen. Sie sieht das Bild an; ihr lustiges Gesicht wird ernst; sie versinkt, sie schweigt, sie gibt es mir stumm zurück. Ein paar Tage später verlangt sie es noch einmal zu sehen; derselbe Effekt. Sie befragt mich über den Menschen, ich, nicht faul, erzähle das Blaue vom Himmel herunter, unter anderm auch, daß ich Christian hier treffen würde, und da erklärt sie, sie wolle ihn kennenlernen, ich müsse ihr dazu verhelfen. Es ist sonst ein sprödes Geschöpf, schwer einzufädeln, schlau und argwöhnisch, was Hunderten gefällt, darüber rümpft sie die Nase, die übrigens das Häßlichste an ihr ist. Die Bitte war mir unerwartet und, offen gestanden, auch nicht ganz bequem. Man muß aufpassen, daß man nicht die falschen Menschen zueinander bringt, das gibt bloß Scherereien. Ich spreche: davor schütze mich der Allgütige und Allweise; ich ermahne sie sanft, sich eines Bessern zu besinnen; ich male ihr die Gefahr in den schwärzesten Farben, aber sie will nicht hören, sie lacht mich aus, sie heißt mich einen Quäker und entwickelt mir sofort einen listigen Feldzugsplan. Um Zeit sei sie nicht verlegen, zu Hause müsse sie erst im November sein, sie habe also sieben Wochen vor sich und werde sich auf die niederländischen Galerien ausreden, was ja eine gebildete Sache sei; über eine Gardedame oder Reisebegleiterin verfüge sie ohnehin, die Schwester werde sie nötigenfalls ins Komplott ziehen, die sei in solchen Dingen großherzig. Das alles legte sie mir mit einer Pfiffigkeit dar, daß ich schwach wurde und mich zu ihrem Mitverschworenen machte. Nun, seit gestern ist sie hier, sitzt im Hotel de la Plage, ein bißchen ängstlich wie ein aus dem Nest gefallener Vogel, ist unzufrieden mit sich, hat moralische Anwandlungen, und ich meinerseits weiß nicht, was ich mit ihr beginnen soll. Auf derlei Scherze geht mir der Christian jetzt nicht ein, das hab ich mir zu spät überlegt, und ich muß es dem Mädel klarmachen. Aber alles das nur nebenbei, Fürst. Eine Randglosse. Ich will Sie nicht aus dem Konzept gebracht haben.«

Wiguniewski hatte die Erzählung mit geringer Teilnahme angehört. Er begann wieder: »Die verflossenen Monate gaben uns allen, wie gesagt, ein unvergeßliches Erlebnis. Wir sahen ein freies Paar, das eine höhere Legitimität schuf als jede vorhandene. Auf einmal wird das schöne Schauspiel zur abgegriffenen Boulevardkomödie. Durch seine Schuld. Ein solches Verhältnis hat seinen organischen und natürlichen Abschluß; ein Mensch von Witterung weiß es und handelt danach. Statt dessen läßt er es zu peinlichen Szenen kommen; er sucht Begegnungen, die ihn demütigen und lächerlich machen. Er wartet, wenn sie nicht zu Hause ist, in ihren Zimmern, bis sie zurückkehrt und erträgt es, daß sie mit einem Kopfnicken an ihm vorübergeht, ohne sich um ihn zu kümmern. So saß er einmal die ganze Nacht und starrte in ein Buch. Er läßt es sich gefallen, daß die Rappard von oben herab mit ihm redet; er setzt sich darüber hinweg, daß man die Blumen und Früchte, die er täglich schickt, täglich refüsiert. Was ist das? Was bedeutet das?«

»Kummer bedeutet es, großen Kummer für mich,« seufzte Crammon, »unbegreiflich ist es.«

»Vorgestern hatte sie Gäste,« fuhr Wiguniewski fort; »wie zum Hohn wurde ihm ein Platz am untersten Ende der Tafel angewiesen; ich kannte seine Tischnachbarn nicht einmal. Es scheint sie bis zur Grausamkeit zu erbittern, daß er sich diesen Demütigungen nicht entzieht; und ihn seinerseits scheint etwas Unerklärliches daran zu reizen. Er nahm den Platz ein und saß die ganze Zeit schweigend. Nachher kam es dann zu einem eigentümlichen Auftritt. Man stand oder saß in Gruppen beisammen; er hielt sich wenige Schritte von Eva entfernt und ließ kein Auge von ihr. Sein Gesicht hatte einen grüblerischen Ausdruck, wie er sie so unablässig beobachtete. Sie trug an dem Abend den Ignifer, sein Geschenk, und sah aus wie Diana mit einem brennenden Stern auf dem Haupt.«

»Das haben Sie gut gesagt, Fürst,« warf Crammon ein, »exzellent.«

»Das Gespräch berührte in zehn Wendungen zwanzig Gegenstände, ohne flach zu werden; Sie wissen ja, wie meisterhaft sie es versteht, die Konversation in Zucht zu halten. Zuletzt spricht man von flämischer Literatur, jemand nennt den Namen Verhaeren, und sie zitiert einige Zeilen aus einem Gedicht, das ›Die Freude‹ heißt. Die Worte lauten ungefähr: ›Mein Dasein ist in allem, was ringsum lebt; Wiesen, Wege und Bäume, Quellen und Schatten, ihr werdet ich, seit ich euch ganz gefühlt.‹ Man murmelt beifällig, sie geht zu einem Büchergestell und nimmt ein Buch heraus; es waren eben die Gedichte Verhaerens. Sie blättert, schlägt die Seite mit den betreffenden Versen auf, wendet sich plötzlich zu Wahnschaffe, reicht ihm das Buch und bittet oder befiehlt, er solle das Gedicht vorlesen. Er zögert einen Augenblick, dann gehorcht er. Dieses Lesen wirkte auf alle zugleich lächerlich und quälend. Er las wie ein Schüler, mit halblauter Stimme, stotternd, eintönig und als sei der Inhalt über seinen Begriff. Es war für ihn selbst lächerlich und quälend, denn während die verzückten Strophen in seinem Mund den Charakter einer langweiligen Zeitungsnotiz annahmen, wurde er abwechselnd blaß und rot, und als er fertig war, legte er das Buch hin und verließ, ohne einen von uns anzuschauen, das Zimmer. Eva aber sagte, zu uns gewendet, wie wenn nichts geschehen wäre: es sind wundervolle Verse, nicht wahr? Dabei zitterten ihre Lippen vor Zorn. Was wollte sie mit alldem? Wollte sie uns beweisen, daß er unfähig ist, so schön und zart Empfundenes mitzuempfinden? Wollte sie ihn beschämen, ihn für einen Mangel seiner Natur strafen und öffentlich bloßstellen, oder war es nur eine ungeduldige Laune, der Ärger über sein stummes Dasein, seine stummen, forschenden Blicke? Fräulein Vanleer sagte mir später: er hätte lesen müssen wie ein Gott, dann hätte sie ihm verziehen. Was verziehen? fragte ich. Sie lächelte und gab mir zur Antwort: ihre eigne Treulosigkeit. Darin ist vielleicht etwas Richtiges. Sie sollten ihn aus diesem schlimmen Zirkel reißen, Herr von Crammon.«

»Ich werde tun, was in meinen Kräften steht,« sagte Crammon mit einer gramvollen Mundfalte. Er wischte sich die Stirn. »Ich weiß freilich nicht, wie weit mein Einfluß noch reicht. Es wäre Prahlerei, wollte ich mich verbürgen. Es ist mir auch hinterbracht worden, er verkehre in allerlei verrufenen Lokalen, gehe mit gemeinem Volk um, wahrhaftig, ich könnte heulen, wenn ich daran denke. Diese Blüte der Gentlemanschaft, dieser Stolz meiner fortgeschrittenen Jahre, dieser aus Tausenden Gesiebte! Leider Gottes hatte er bereits damals, als ich ihn verließ, gewisse konfuse Anwandlungen, aber ich schrieb sie auf das Schuldkonto jenes verdächtigen Subjekts, jenes Iwan Becker.«

»Sprechen Sie nicht von ihm, sprechen Sie nicht von Becker,« unterbrach Wigumewski scharf, »jedenfalls nicht in dieser Weise, ich bitte ausdrücklich: nicht in dieser Weise.«

Crammon riß die Augen auf, und seine Zungenspitze wurde sichtbar wie eine rote Schnecke, die aus ihrem Gehäuse lugt. Er würgte sein Mißbehagen hinunter und zuckte die Achseln.

Wigumewski sagte: »Sie geben mir immerhin einen Fingerzeig. Ich habe das nie in Betracht gezogen. Ich sehe nun manches in anderm Licht. Im übrigen ist es wahr, daß Wahnschaffe mit bedenklichen Leuten zu tun hat. Der bedenklichste von allen ist dieser Amadeus Voß, dieser Spieler und Heuchler. Wie darf man da an Iwan Becker denken; das hat gar keinen Sinn. Becker mag einen Weg gewiesen haben; es läßt sich annehmen, gewisse Vorgänge werden dadurch verständlich. Wenn etwas Unheilvolles vor sich geht, so kommt es von jenem Voß; vor ihm retten Sie Ihren Freund.«

»Ich habe den Burschen noch nicht zu Gesicht gekriegt,« murmelte Crammon; »was Sie mir da sagen, Fürst, trifft mich nicht ganz unvorbereitet, aber ich danke Ihnen trotzdem. Wehe dem Halunken; ich will nie wieder einen anständigen Tropfen aus einem Glase trinken, wenn er mir straflos entwischt. Ich will nie wieder nach einem verführerischen Busen blinzeln, wenn ich diesen Hundesohn nicht zu einem übelriechenden Brei zermalme. Das walte Gott.«

Wigumewski brach auf und überließ Crammon seinen rachsüchtigen Plänen.

2

Die Sonne des Spätseptembermorgens lag vergoldend über Meer und Land, als Crammon in Christians Zimmer trat. Christian saß an einem rundbogigen Schreibtisch. Die hellblauen Stofftapeten leuchteten; Tische und Stühle waren von hundert Gegenständen bedeckt; alles deutete auf Abreise.

»Laß dich nicht stören, Sweetheart, ich habe Zeit,« sagte Crammon, säuberte einen Sessel, setzte sich und zündete seine Pfeife an.

Aber Christian legte die Feder weg. »Ich weiß nicht, was das ist mit mir,« sagte er ärgerlich, ohne Crammon anzuschauen, »ich bringe nicht zwei vernünftige Sätze aufs Papier. Und wenn ich mirs vorher noch so gut ausdenke, es hilft nichts, es klingt steif und albern. Geht das andern auch so?«

Crammon antwortete: »Es gibt schon welche, die sich darauf verstehen. Vor allem muß man eine gewisse Frechheit haben. Du darfst dich nie fragen: ist das richtig? stimmt das? hat es Hand und Fuß? Sondern einfach los. Je skrupelloser, je zweckmäßiger. Die am besten schreiben, sind oft die dümmsten Kerle. An wen willst du denn schreiben? Eilt es denn so? Briefschreiben kann man immer verschieben.«

»Ja, es eilt. Diesmal eilts,« versetzte Christian. »Stettner hat mir geschrieben. Ich werde nicht klug aus dem, was er schreibt. Er teilt mir mit, daß er den Dienst quittiert und nach Amerika geht, und daß er mich vorher noch einmal sprechen möchte. Am fünfzehnten Oktober schifft er sich in Hamburg ein. Nun trifft sichs ja ganz gut, daß ich um diese Zeit in Hamburg bin, und das will ich ihn wissen lassen.«

»Da seh ich weiter keine Schwierigkeit,« sagte Crammon ernst; »du schreibst: ich bin dann und dann dort und dort und hoffe oder wünsche oder erwarte et cetera. Dein treuer oder ergebener oder dich grüßender et cetera. Er quittiert also? Und aus welchem Grund? Gleich nach Amerika? Da ist was faul.«

»Er hat eine Duellaffäre gehabt. Er hat eine Forderung abgelehnt. Das ist alles, was er als Grund anführt, und daß die Verhältnisse sich so gestaltet hätten, daß er in der neuen Welt eine neue Existenz bauen müsse. Mich berührt das ziemlich nah. Ich hab ihn immer gern gehabt. Ich will ihn sehen.«

»Ich wäre auch neugierig, zu wissen, was da vorgegangen ist,« sagte Crammon. »Der gute Stettner sieht mir nicht aus wie einer, der leichterdings kneift und seine Ehre aufs Spiel setzt. Er war als Offizier exemplarisch. Eine verdrießliche Geschichte, scheint es. Aber sie verschafft dir einen Vorwand für Hamburg, wie ich merke.«

Christian stutzte. »Warum Vorwand?« fragte er ein wenig verlegen, »ich brauche keinen Vorwand.«

Crammon beugte den Kopf weit ins Zimmer hinein und legte das Kinn auf die Elfenbeinkrücke seines Stockes. Die Pfeife saß im Mundwinkel, kunstvoll, und rührte sich nicht bei den Sprechbewegungen der Muskeln. »Du wirst doch nicht behaupten wollen, mein süßer Schatz, daß du es sonst mit reinem Gewissen tätest,« begann er wie ein Beichtvater, der einem ungeständigen Verbrecher mit sorgfältig ausgearbeiteten Argumenten zu Leibe rückt; »du wirst doch deinem alten Spießgesellen und Bruder im Geiste nicht einen blauen Dunst vormachen wollen? Man ist dem Freund einiges schuldig. Man darf nicht vergessen, unter welchen Auspizien und Verheißungen man in die Welt getreten ist und was für Bürgschaften der geleistet hat, stille Bürgschaften, Herzensbürgschaften, der der Urheber und Regisseur eines glänzenden Einzugs war. Sogar Sokrates, dieser Stänkerer und Bösewicht, erinnerte sich seiner Schulden, noch dazu auf dem Totenbett. Es war die Angelegenheit mit dem Hahn, mit irgendeinem Hahn; kann auch sein, daß das Beispiel gar nicht stimmt; nimms nicht so genau, die alten Griechen waren mir immer odios. Was aber unbedingt stimmt, ist, daß du mir mißfällst und allen andern, die dich lieben, mißfällst. Es zerreißt mir das Herz, dich am Pranger und Leute, die einen Zuchthengst nicht von einer Schindmähre unterscheiden können, über dich die Achseln zucken zu sehen. Ich halt es nicht aus. Laß uns lieber einen Streit anfangen und uns bei fünf Schritt Distanz und zehnmaligem Kugelwechsel schießen. Wie geht denn das zu mit dir? Was ist denn geschehen? Hast du aufgehört, Skalpe zu sammeln und läßt dich selber skalpieren? Die Hasen, die gejagt werden, und die Hunde, die jagen, das ist zweierlei Kreatur. Ich begreife alle Menschlichkeiten, aber nichts, was gegen die göttliche Ordnung geht. Es geht gegen die göttliche Ordnung, daß du auf dem Stuhl, den man dir vor die Tür gestellt, sitzen bleibst. Früher warst dus, der ihnen zeigen mußte, wo der Zimmermann das Loch gemacht hat, früher warst dus, hinter dem sie gewinselt und geächzt haben, und so soll es auch sein. Ich hatte einen Onkel, einen philosophischen Kopf, der pflegte zu sagen: einem Frauenzimmer, einem Advokaten und einem Ofen muß man den Rücken kehren, wenn sie am hitzigsten sind. So hab ichs immer gehalten und habe dadurch meine Gemütsruhe und mein Renommee bewahrt. Freilich, du hast einen Milderungsgrund; ich fühle es nach; ein solches Weib gibt es nur einmal in einem Jahrhundert, und wem sie zufällt, der verliert wahrscheinlich ein bißchen den Verstand; aber das gilt nicht für dich, mein lieber Christian; für dich ist die Fülle; die Gnaden hast du auszuteilen; auf deiner Tafel muß der Honig jeden Morgen frisch sein. Und jetzt sage mir, was du zu tun gedenkst.«

Christian hatte die langatmige, wenn auch weise und gehaltvolle Rede mit großer Geduld angehört. Manchmal blitzte es zornig oder spöttisch in seinen Augen, dann senkte er sie wieder und schien verlegen. Manchmal erfaßte er den Sinn, manchmal dachte er an ganz andre Dinge. Es kostete ihm Mühe, sich klarzumachen, kraft welchen Rechtes sich dieser ihm fremd vorkommende Mensch in sein Leben mischte und seine Beschlüsse zu beeinflussen versuchte; dann empfand er wieder eine gewisse Zärtlichkeit für Crammon, und er erinnerte sich an gemeinsame Erlebnisse und Gespräche. Aber alles war so fern und so anders als die Gegenwart.

Er schaute zum Fenster hinaus, das den Blick bis an den Horizont freigab, wo Meer und Himmel sich berührten. Weit draußen schwamm eine kleine Wolke wie ein weißes, rundes Kissen. Dieselbe Zärtlichkeit, die er für Crammon gespürt, fühlte er jetzt für die kleine weiße Wolke.

Wie nun Crammon vor ihm saß und auf eine Antwort wartete, fiel ihm die Geschichte mit dem Ring ein, die ihm Amadeus Voß erzählt hatte, und er begann: »Ein armer Seminarist, der bei den Kindern eines Bankdirektors als Hofmeister angestellt war, geriet eines Tages in den Verdacht, einen kostbaren Ring gestohlen zu haben. Der Betreffende hat es mir selbst berichtet, und aus seinen Worten ging deutlich hervor, daß der Ring, als er ihn an der Hand der Frau gesehen, der er gehörte, seine Begehrlichkeit gereizt hatte. Außerdem liebte er diese Frau und hätte wahrscheinlich gern ein Andenken an sie gehabt. Aber an dem Verschwinden des Ringes war er unschuldig, und einige Zeit, nachdem er das Haus verlassen hatte, wurde ihm seine Unschuld auch eklatant bestätigt; die Frau schickte ihm nämlich den Ring, er sollte ihn als Geschenk behalten. Es hätte für ihn in seiner Armut viel bedeutet; aber er ging hin und warf den Ring in einen Brunnen, in einen offenen Ziehbrunnen. Das Kostbarste, was er je in seinem Leben besessen, warf er ohne Zögern und Überlegung in einen Brunnen, dieser Mensch.«

»Na ja, ganz gut, obzwar . . . ich weiß nicht recht, was deine Fabel soll,« sagte Crammon unzufrieden und schob die Pfeife aus dem rechten Mundwinkel in den linken; »was hat denn nun der dumme Teufel von dem Ring gehabt? Was für eine Verrücktheit, eine Sache, die einem auf so zarte und diskrete Manier zukommt, in einen Brunnen zu schmeißen? Warum denn gleich in einen Brunnen? Hätte nicht eine Truhe oder Schublade denselben Dienst geleistet, wo man ihn gelegentlich hätte wiederfinden können? Es ist läppisch.«

In der Art, wie Crammon dasaß, die Beine übereinanderschlug und die grauen Seidenstrümpfe zeigte, war etwas so Sicheres und Sattes, es gemahnte so sehr an ein Tier, das in der Sonne liegt und verdaut, daß Christians Widerwille gegen seine Worte schwand und er nur noch jene leichte, fast mitleidige Zärtlichkeit fühlte. Er sagte: »Es ist so schwer zu verzichten. Man kann davon sprechen und es sich vorstellen; man kann es wollen und kann glauben, man sei dazu befähigt, aber wenn dann der Augenblick da ist, wo verzichtet werden soll, ist es schwer, ja fast unmöglich, auch nur auf das Geringste zu verzichten.«

»Ja, warum willst du denn verzichten?« murmelte Crammon ungehalten. »Was heißt denn das: verzichten? Wozu soll es denn führen?«

Christian sagte vor sich hin: »Ich glaube, man muß den Ring in den Brunnen werfen.«

»Wenn du damit meinst, daß du dir die wunderbare Queen Mab aus dem Sinn schlagen willst, dann kann ich nur sagen: der Herr segne deinen Vorsatz,« antwortete Crammon.

»Man hält sich fest und klammert sich an, weil man sich vor dem Schritt ins Unbekannte fürchtet,« sprach Christian vor sich hin.

Crammon schwieg einige Minuten mit hochgefalteter Stirn. Dann räusperte er sich und fragte: »Hast du mal was von Homöopathie gehört? Ich will dir erklären, was man darunter versteht. Homöopathie ist Heilung durch Gleichartiges. Wenn du dir z. B. den Magen verdorben hast, und ich verabreiche dir eine Mixtur, durch die deine Eingeweide noch heftiger turbuliert werden, so daß man gleichsam den Teufel mit Beelzebub austreibt: das ist eine homöopathische Kur. Capito?«

»Du willst mich also kurieren? Und wovon? Womit?« fragte Christian lächelnd.

Crammon rückte seinen Stuhl näher zu Christian, legte ihm die Hände auf die Knie, und flüsterte listig: »Ich habe was für dich, mein Engel. Ich habe einen exquisiten Fund gemacht. Es steht dir eine weibliche Person ins Haus, wie die Kartenschlägerinnen sagen. Jemand sehnt sich nach dir. Jemand ist ganz weg von dir. Jemand stirbt vor Ungeduld, dich kennenzulernen. Mal was ganz andres; ein neuer Typ, was Prickelndes, Komisches, Zwittriges, Empfindliches, Sichmauserndes, Eckiges, Kleines, Häßliches, aber merkwürdig Reizvolles. Aus der Bürgerwelt, wo sie am fettesten ist, zappelt aber mit Händen und Füßen gegen das Los, die Perle im Schweinekoben zu sein. Da hast du Beschäftigung, da gibt es Dressur, Ablenkung, Auffrischung. Nicht für lange, ein Ferienvergnügen, schätz ich, aber lehrreich und im Sinne der Homöopathie unfehlbar wirksam. Sieh mal: Ariel, das ist das Wunder, das ist der Stern, das ist die Himmelsspeise; damit leben kann man nicht, tägliches Brot ist es nicht. Steig herunter, mein Sohn, von der Warte, wo du nach dem miraculum coeli haschst, das dir einmal am Busen flammte; vergiß es, steig herunter und nimm wieder mit den Sterblichen vorlieb. Heute abend um sieben im Speisesaal des Hotel de la Plage, wenn ich bitten darf. Abgemacht?«

Christian lachte und erhob sich. Auf dem Tisch stand in einer Vase ein Strauß weißer Nelken. Er zog eine Blüte heraus und steckte sie Crammon lachend ins Knopfloch.

»Abgemacht oder nicht?« fragte Crammon streng.

»Nein, mein Lieber, daraus wird nichts,« antwortete Christian, noch mehr lachend, »behalt nur deinen Fund für dich.«

Crammons Stirnadern schwollen. »Ich hab dich aber versprochen, und du darfst mich nicht im Stich lassen,« erboste er sich. »Eine solche Behandlung verdien ich nicht nach all den Fußtritten, mit denen du mich ohnehin seit langem regaliert hast. Einem hergelaufenen Kerl räumst du Vorrechte ein, über die alle Welt den Kopf schüttelt, und den erprobten Freund stößt du herzlos zurück; das erbittert, das kränkt, da regt sich die Galle, da bin ich mit meinem Einmaleins am Ende.«

»Beruhige dich, Bernhard,« sagte Christian und bückte sich, um ein paar Nelken vom Boden aufzuklauben, die aus dem Strauß gefallen waren. Und während er die Blumen in die Vase steckte, sah er Amadeus Voßens weißes, von innen verblutetes, durch Gier und Entbehrung gelähmtes Gesicht, hingekehrt zu der nackten, fetten, mürrischen Wallonin. »Ich begreife deine Hartnäckigkeit nicht,« fuhr er fort; »gib dich doch zufrieden. Weißt du nicht, daß ich Unglück über die bringe, die mich lieben?«

Crammon stutzte. Trotz Christians zweideutigem Lächeln hatte er eine Anwandlung abergläubischer Furcht. »Blödsinn,« brummte er. Er stand auf, griff nach seinem Hut und wollte, unbelehrbar, eine Zusage für das Zusammensein am Abend erpressen, da pochte es an der Tür, und Amadeus Voß trat ein.

»Verzeihung,« stotterte er und warf einen scheuen Blick auf Crammon, der sich in feindselige Positur setzte, »ich möchte dich nur fragen, Christian, wann wir reisen. Soll gepackt werden oder nicht? Man muß doch wissen, woran man ist.«

Wie der Lümmel sich zu reden erfrecht, dachte Crammon wütend, und konnte sich kaum zu einer Grimasse der Höflichkeit entschließen, als Christian, ziemlich verlegen, sie einander vorstellte.

Amadeus verbeugte sich wie ein Schulamtskandidat. Die Augen hinter der Brille waren wie Saugringe einer Luftpumpe auf Crammon geheftet, der ihm von der ersten Sekunde an widerwärtig war. Aber er hielt es für ratsam, es nicht nur zu verbergen, sondern er spielte auch den Unterwürfigen. Sein Haß war so augenblicklich und heftig, daß er Angst hatte, ihn zu früh zu zeigen und sich damit der Mittel zu seiner Befriedigung zu entblößen.

Crammon suchte Angriffspunkte; er behandelte Voß über die Achsel, sah ihn an wie ein Bündel Kleider, das an der Wand hängt, antwortete nicht und hörte nicht, wenn er sprach, zog seinen Besuch absichtlich in die Länge und kümmerte sich nicht um Christians Nervosität. Voß berief sich auf den Schulamtskandidaten, nickte, stimmte überein, scheuerte mit der Sohle des einen Stiefels die Spitze des andern, hob den Stock auf, den Crammon fallen ließ, und da er entschlossen schien, Crammon das Feld nicht zu überlassen, hatte dieser endlich Mitleid mit der stumm verwunderten und gequälten Miene Christians; er winkte ihm mit der behandschuhten Linken einen Gruß zu und entfernte sich, von Grimm aufgeschwollen wie ein Frosch. Sachte mein lieber B. v. C., sprach er zu sich selbst, bewahre deine Würde, tritt nicht in den Schmutz, getröste dich des Herrn, denn sein ist die Rache. Und er versetzte einem kleinen Hund, der ihm in den Weg lief, mit dem Fuß einen Nasenstüber, daß das Tier heulend in einen Kellerschacht floh.

Christian und Voß standen eine Weile stumm einander gegenüber, der Tisch war zwischen ihnen. Voß zog Nelken aus der Vase und zerkrümelte die Kelche mit seinen dünnen Fingern. »Das also war Herr von Crammon,« murmelte er; »ich weiß nicht, warum mich so lächert; aber ich kann mir nicht helfen, mich lächert in einem fort.« Er feixte in sich hinein.

»Wir fahren morgen,« sagte Christian, hielt das Taschentuch vor den Mund und atmete das zarte Parfüm ein, das eine Fülle zarter und halbverblaßter Erinnerungsbilder in ihm erzeugte.

Voß nahm eine Blüte, riß sie mitten durch, blickte gespannt auf die Teile und sagte: »Faser bei Faser, Körnchen an Körnchen. Ich hab das Schlaraffen- und Schmarotzerdasein satt. Ich will Menschenkörper aufschneiden, Leichen sezieren. Man lernt vielleicht dabei, wo die Schwäche und die Gemeinheit ihren Sitz haben. Das Leben an seiner Mündung suchen, den Tod an seiner Wurzel. Es steckt sicher das Talent zu einem Anatomen in mir. Einst wollt ich ein großer Prediger werden, ein Savonarola. Aber es ist ein waghalsiges Unternehmen heutzutage. Besser, sich an die Leiber zu machen; die Geister bringen einen zur Verzweiflung.«

»Ich glaube, man muß arbeiten,« antwortete Christian leise; »gleichviel was immer, man muß arbeiten.« Er wandte sich zum Fenster. Die weiße, runde Wolke war verschwunden, das silberne Meer hatte sie aufgesogen.

»Bist du nun so weit?« höhnte Voß; »ich weiß es längst. Der Weg zur Hölle ist mit Arbeit gepflastert. Bloß in der Hölle kannst du reingebrannt werden. Gut, daß du endlich so weit bist.«

3

Crammon und Johanna Schöntag saßen in der Halle des Hotels. Sie hatten soupiert. Johannas Gesellschafterin, Fräulein Grabmeier, hatte sich bereits zurückgezogen.

»Sie müssen sich gedulden, Rumpelstilzchen,« sagte Crammon; »er hat leider noch nicht angebissen, der Köder schwimmt noch.«

»Ich werde mich gedulden, gnädiger Herr,« erwiderte Johanna mit brüchiger Knabenstimme, und ein lustiges Blitzen flog über ihr kleines Gesicht, in dem sich Anmut und Häßlichkeit seltsam vereinigten; »es fällt mir auch gar nicht schwer, denn schließlich geht bei mir alles schief. Erfüllt sich unerwarteterweise einmal etwas, worauf ich mich gefreut habe, so bin ich sterbensunglücklich, weil es doch ganz anders ist, als ich mirs vorgestellt hab. Es kann mir daher nichts Besseres widerfahren, als daß meine Wünsche unerfüllt bleiben.«

»Ein problematisches Menschenkind,« sagte Crammon verwundert.

Johanna seufzte komisch. »Ich rate Ihnen, mein lieber Gönner, sich meiner postwendend zu entledigen,« fuhr sie fort und reckte das magere Hälschen mit absichtlich bizarrer Eckigkeit aller Bewegungen; »ich bin ein Verkehrshindernis, ich bin das personifizierte böse Omen. Bei meiner Geburt ist eine Dame namens Kassandra erschienen, und was für unerquickliche Sachen von der erzählt werden, weiß ja jeder Gebildete. Erinnern Sie sich, wie wir in Ashburnhill nach der Scheibe geschossen haben und ich ins Schwarze traf? Alle waren starr, Sie auch, am meisten ich selber. Es war nämlich der frechste Zufall, den man sich denken kann. Das Gewehr war losgegangen, eh ich gezielt hatte. Durch solche kleine und wertlose Geschenke will sich das Schicksal bei mir beliebt machen und mich einschläfern. Aber mich schläfert man nicht ein. Ha, eine Nonne, eine Nonne,« unterbrach sie sich bestürzt und sah mit weitaufgerissenen Augen in den Garten, wo eine Ursulinerin vorüberging; sie schlug die Arme kreuzweis übereinander und zählte mit erstaunlicher Zungengeläufigkeit: Sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins.« Dann lachte sie und zeigte zwei Reihen wunderbarer Zähne.

»Ist das der Brauch, wenn eine Nonne erscheint?« erkundigte sich Crammon fachmännisch angeregt.

»Die rituelle Vorschrift, jawohl. Aber sie war verschwunden, bevor ich bei eins war, und das bedeutet nichts Gutes. Übrigens, Herr Baron, Ihre sportliche Terminologie ist mir suspekt. Was heißt das: er hat nicht angebissen, der Köder schwimmt noch? Ich bitte sich zu menagieren. Ich bin eine schutzlose Reisende und auf Ihre delikateste Ritterlichkeit angewiesen. Wenn Sie mein ohnehin trübes Selbstbewußtsein durch Reminiszenzen an die Forellenfischerei erschüttern, telephonier ich an die Schlafwagengesellschaft um zwei Betten nach Wien. Für mich und Fräulein Grabmeier natürlich.«

Sie liebte gewagte Anspielungen, denen sie dann unbefangen entschlüpfen konnte. Crammon brach in verspätetes Gelächter aus, und diese Verspätung seiner Heiterkeit erregte wieder Johannas Heiterkeit.

Sie war wachsam, nichts entging ihrem aufmerkenden Blick; Wesen und Treiben der Menschen interessierte sie brennend. Sie beugte sich zu Crammon, sie tuschelten, er mußte erzählen, wenn ein Gesicht oder eine Figur aus andern hervortrat. Die Chronik internationaler Lebensläufe und Begebenheiten, die er magistral beherrschte, war unerschöpflich; ließ ihn das Gedächtnis einmal im Stich, so erfand und dichtete er ein bißchen. Erbstreitigkeiten, Familienzwiste, illegitime Herkunft, Ehebrüche, Verschwägerungen, alles war ihm geläufig. Johanna hörte lächelnd zu. Sie lugte nach allen Tischen, hielt jede ungewöhnliche Erscheinung fest; eine Glosse, ein spitzbübisches Verziehen des Mundes, und irgendeine Albernheit oder Seltsamkeit eines dieser unbewußten Schauspieler und Schauspielerinnen der großen Welt und der Halbwelt war aufgespießt wie ein Käfer auf einem Pappendeckel.

Plötzlich wurden die beweglichen Pupillen ihrer graublauen Augen größer, die Lippen bildeten einen Bogen kindlichen Entzückens. »Wer ist das?« flüsterte sie und wies mit dem Kinn gegen ein Portal, dem Crammon den Rücken zukehrte. Im selben Moment wußte sie, wer es war, hätte es auch ohne das allgemeine Köpfeheben und Dämpfen der Gespräche gewußt.

Crammon wandte sich um und gewahrte Eva in einer Gruppe von Herren und Damen. Er erhob sich, wartete bis ihr Blick die Richtung zu ihm einschlug und verbeugte sich tief. Eva stutzte; sie hatte ihn seit den Tagen Sir Denis Lays nicht gesehen; sie besann sich, nickte fremd, erkannte ihn dann, stieß mit einer unvergleichlichen Bewegung des Fußes die Rockschleppe zurück und ging, sprechend ehe sie noch sprach, lebhaft auf ihn zu.

Auch Johanna hatte sich erhoben. Das Gestaltchen fiel Eva auf; sie gab Crammon zu verstehen, daß er Pflichten habe und daß sie eine Annäherung der Unbekannten nicht ablehnen würde, auf deren Gesicht Begeisterung und Verehrung so deutlich und rührend zu lesen waren. Crammon stellte Johanna vor, durchaus zeremoniös; Johanna knixte erblassend und errötend; sie erschien sich so nebensächlich, daß sie in Scham ertrank; da riß sie die drei gelben Rosen, die in ihrem Gürtel steckten, heraus und reichte sie Eva mit schüchtern und jäh hingedehntem Arm, und dieser Elan gefiel Eva; sie spürte seine Einmaligkeit und Wahrheit und wußte also auch, was er wert war.

4

Christian und Amadeus Voß gingen in Antwerpen über den Quai Kockerill.

Ein großer Amerikadampfer lag, stumm und leer noch, am Molo. Die Zwischendeckspassagiere warteten an seinen Flanken auf die Stunde, wo sie Einlaß finden würden. Es waren polnische Bauern, russische Juden, Männer, Weiber, Greise, Greisinnen, Säuglinge, Kinder; hingekauert auf die Steinfliesen, auf ihre schmutzigen Bündel gekauert; schmutzig selber, verwahrlost, müde, teilnahmslos brütend, ein trauriger Wirrwarr von Leibern und Fetzen. Man hörte reden, schreien, lachen, singen, fluchen, ein trauriger Wirrwarr von menschlichen Lauten.

Der gewaltige Sonnenball rollte blutrot und zitternd auf dem Wasser.

Christian und Amadeus blieben stehen. Nach einer Weile gingen sie weiter, doch Christian wollte zurückkehren, und sie kehrten zurück. Bei einem Straßenübergang vor dem Lager der Auswanderer sperrten zehn oder zwölf von Eseln gezogene Karren den Weg. Die Karren sahen aus wie halbierte Fässer auf Rädern und waren beladen mit geräucherten Makrelen.

»Kauft Makrelen,« riefen die Karrenführer, »kauft Makrelen!« Und sie knallten mit den Peitschen.

Einige Auswanderer kamen herüber, glotzten hungrig, berieten sich mit andern, die schon nach Münzen in ihren Taschen suchten, bis endlich Entschlossene sich zum Kauf anschickten.

Da sagte Christian zu Voß: »Wir wollen die Fische kaufen und sie austeilen. Was meinst du?«

Amadeus Voß erwiderte verdrossen: »Tu nach deinem Belieben. Große Herren müssen ihren Spaß haben.« Es war ihm unbehaglich in der entstehenden Menschenansammlung.

Christian wandte sich an einen der Händler. Er hatte Mühe, sich mit seinem korrekten Französisch verständlich zu machen. Nach und nach gelang es; der Mann rief die andern Händler herzu; aufgeregtes Schwatzen und Gestikulieren erfolgte; Summen wurden genannt, erwogen, verworfen. Es war für Christian zu langweilig und zeitraubend; er schlug den höchsten Preis, der beraten wurde, noch um ein Erhebliches auf, nahm die Brieftasche und reichte sie Amadeus, damit er die Leute bezahle. Dann sagte er zu der um ihn anwachsenden Schar der Auswanderer auf deutsch: »Die Fische gehören euch.«

Ein paar unter ihnen faßten seine Worte und erklärten sie den übrigen. Zaghaft wagten sie sich vor. Ein leberkrankes Weib, zitronengelb im Gesicht, war die erste, die zupackte. Bald kamen Hunderte, von allen Seiten kamen sie mit Körben, Töpfen, Netzen, Säcken. Das Gedränge wurde von mehreren Alten in Ordnung gewandelt. Einer, im Kaftan, mit wallendem weißen Bart, bückte sich vor Christian dreimal fast bis zur Erde.

Zum Zweck gerechter Verteilung tätig einzugreifen trieb es Christian in einer Anwandlung von Übermut. Er streifte die Ärmel auf und warf mit seinen verwöhnten Händen die fetten und stark riechenden Fische in die Gefäße. Lachend beschmutzte er sich mit den Fischen. Auch die Händler lachten, und müßige Zuschauer lachten. Sie hielten ihn für einen verrückten jungen Engländer, der sich darin gefiel, die Straße zu ergötzen. Plötzlich ekelte ihm vor dem Geruch der Fische und mehr noch vor dem Geruch der Menschen. Er roch die Kleider und den Atem, ihn widerten ihre Zähne und ihre Finger, ihr Haar und ihre Schuhe; er dachte sich in Zwangsangst ihre Körper ohne die Gewänder und schauderte vor ihrem Fleisch. Da ließ er es sein und ging im Schutz der Dämmerung davon.

Seine Hände rochen nach geräucherten Fischen. Als er durch die Straßen ging, die von dem Geschehenen nichts wußten, war der Abend leer.

Amadeus Voß hatte sich aus dem Staub gemacht. Er wartete vor dem Hotel. Dort hatte sich das Automobilgeschwader eingefunden, das Eva auf der Reise nach Deutschland folgte. Auch Crammon und Johanna Schöntag waren dabei.

5

Im Oktober begann es heiß zu werden am Rio de la Plata. Man konnte tagsüber das Zimmer nicht verlassen; wenn die Fenster geöffnet wurden, wälzte sich Feuer herein. Einmal wurde Lätizia ohnmächtig, als sie der gepreßten Luft Zufuhr verschaffen wollte und einen der Holzläden aufstieß.

Der einzige Ort, wo gegen Abend Schattenkühle herrschte, war die Palmenallee am Strom. Während der kurzdauernden Dämmerung stahl sich Lätizia bisweilen mit ihrer jungen Schwägerin Esmeralda heimlich hinüber. Der Weg führte an den Ranchos vorbei, den armseligen Erdlöchern, in denen die eingeborenen Arbeiter hausten.

Einst sah Lätizia, daß die Rancholeute in Festtagsgewändern lustig zechten. Auf ihre Frage nach dem Grund erfuhr sie, ein Kind sei gestorben. »Sie feiern immer ein Freudenfest, wenn jemand stirbt,« sagte Esmeralda. Lätizia antwortete: »Wie traurig muß ihr Leben sein, wenn sie den Tod so lieben.«

Die Palmenallee war verbotenes Gebiet; lichtscheues Volk trieb sich dort herum, und mit der Dunkelheit wurden die Büsche lebendig. Vor kurzem hatte die berittene Polizei einen spanischen Matrosen dingfest gemacht, der in Galveston gemordet hatte. Lätizia träumte von ihm. In ihrem Traum war er ein Verbrecher aus Eifersucht und von schöner Tragik umwittert.

Eines Abends war sie in der Allee einem jungen Marineoffizier begegnet, der auf einer Nachbarestanzia zu Gast war. Lätizia tauschte Blicke mit ihm, und er suchte von da an Wege zu ihr. Aber man war eine Gefangene, bewacht wie eine Türkin im Harem. Lätizia faßte den Vorsatz, ihre Wächter zu betrügen; sie verliebte sich in den jungen Offizier, machte ihn zu einer Heldengestalt und begann sich nach ihm zu sehnen.

Die Hitze nahm zu. Lätizia konnte nachts nicht schlafen. Moskitos schwirrten süßlich, und sie wimmerte vor sich hin wie ein kleines Kind. Bei Tag schloß sie sich in ihrem Zimmer ein, warf alle Kleider von sich und legte sich auf die steinernen Fliesen.

Einst lag sie so, bäuchlings und mit wagrecht ausgestreckten Armen. Ich bin verwunschen, dachte sie, ich bin eine verwunschene Prinzessin in einem verwunschenen Schloß.

Da pochte es an der Tür, und Stephans Stimme rief sie an. Sie erhob faul den Kopf und spähte zwischen den schwergewordenen Lidern an ihrem nackten Körper herab. Wie langweilig er ist, dachte sie; es ist so langweilig, immer nur mit einem zu sein, ich will auch andre haben. Sie antwortete nicht, ließ den Kopf wieder sinken und rieb die glühende Wange an der heißen Haut des Oberarms.

Es gefiel dem Haremswächter draußen, um Einlaß zu betteln. Aber Lätizia machte nicht auf.

Nach einiger Zeit hörte sie Lärm im Hof, Gelächter, Peitschenknallen, Detonation von Geschossen und gellendes Geschrei von Tieren. Erschrocken sprang sie auf, schlüpfte in den Seidenschlafrock, öffnete die Altantür und spähte hinunter.

Stephan hatte mittels einer Zündschnur zwei Katzen an den Schwänzen zusammengebunden. Leicht explodierende Feuerwerkskörper hingen an der Fessel. Als die aufzischenden Raketen ihr Fell versengten und die weiterglimmende Schnur ihnen Wunden ins Fleisch brannte, überschlugen sich die Tiere vor Schmerz und quiekten kläglich. Stephan hetzte und verfolgte sie, die Brüder, über das Altangelände gebeugt, wieherten vor Wonne, und als stumme und ernste Zuschauer standen zwei Indianer am Tor.

Daß die neugierige Lätizia ihre Tür öffnen würde, hatte Stephan berechnet und erwartet; ein halb Dutzend Sätze und er war oben. Esmeralda, mit ihm im Verständnis, stellte sich der flüchtenden Lätizia tückisch entgegen und hinderte sie am Schließen der Tür. Weiß vor Zorn stürmte er mit erhobener Faust über die Schwelle. Sie brach in die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Warum schlägst du mich?« wimmerte sie entsetzt staunend. Er hatte sie gar nicht geschlagen.

Der Wüterich knirschte: »Damit du gehorchen lernst.«

Sie schluchzte. »Hüte dich; du tust zweien was zuleide.«

»Gift und Verdammnis, was sprichst du?« Er stierte bestürzt auf die kauernd Weinende.

»Du tust zweien was zuleide.« Lätizia freute sich, daß sie ihn foppen konnte und weinte, nur noch aus Mitleid mit sich.

»Weib, ist das wahr?« fragte er. Lätizia lugte verstohlen zwischen ihren Fingern durch und dachte spöttisch: große Oper, letzter Akt, gleich wird der Gouverneur erscheinen. Sie nickte schmerzlich und beschloß, ihn mit dem Schiffsoffizier zu betrügen.

Stephan stieß ein Triumphgebrüll aus, tanzte um sie herum, warf sich zu ihr nieder, küßte ihre Arme, ihre Schultern, ihren Nacken. An den Fenstern und Türen erschienen Donna Barbara, Esmeralda, die Brüder, das Gesinde. Er hob Lätizia auf seine starken Schultern und trug sie über den Rundaltan. Man solle ein Festmahl richten, schrie er, einen Ochsen schlachten und Sekt aufs Eis stellen.

Lätizia hatte keine Gewissensbisse. Sie freute sich, daß sie ihn gefoppt hatte.

Als der alte Gunderam die Ursache des häuslichen Jubels erfuhr, kicherte er und sprach zu sich selbst: »Angeschmiert, mein schlauer Rechtsgelehrter; den Escurial kriegst du doch nicht, trotz deinem Schwarzaufweiß, noch lange nicht, und wenn sie Drillinge wirft.« Er striegelte seinen eisengrauen Bart mit einem unappetitlichen Kämmchen, dem die Hälfte der Zähne ausgebrochen war, und goß zur Kühlung Kölnisches Wasser auf seinen Kopf, bis die Haare trieften, die ihm noch reichlich wuchsen.

Es erwies sich aber, daß die Notlüge, deren sich Lätizia bedient hatte, ohne ihr Wissen eine Wahrheit war. Einige Tage später wußte sie es. Sie wunderte sich still und heimlich. Jeden Morgen trat sie vor den Spiegel und betrachtete sich respektvoll und mit einem leisen Grauen. Sie fand sich unverändert, grübelte eine Weile elegisch und warf sich eine Kußhand zu.

Da man sich scheute, ihr einen Wunsch zu versagen, durfte sie einen Ball besuchen, den Sennor und Sennora Küchelbäcker veranstalteten. Dort lernte sie den Schiffsleutnant Friedrich Pestel kennen.


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