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Amadeus Voß wohnte in Zehlendorf in der Alsenstraße, bei der Radrennbahn, im Giebelzimmer eines Neubaus. Man blickte auf Wiesenland, das von Kieferngehölz begrenzt war; aus der grünen Fläche erhob sich eine riesige Reklametafel, auf der mit riesigen Lettern stand: Zehlendorf-Grunewald-Aktiengesellschaft.
»Das haben sie in den letzten acht Tagen hier aufgerichtet, damit ich nicht über die Stränge schlage,« sprach Voß; »es ist ein ausgezeichnetes Memento übrigens; ich höre, diese Aktiengesellschaft will eine Kirche auf ihrem Terrain bauen. Ausgezeichnet. Eine Glockengießerei haben wir auch in unmittelbarer Nachbarschaft.«
Johanna saß an der andern Seite des Fensters, durch welches die Sonne hereinschien, die sie suchte. Ihr kleines Gesicht war abgemagert; der schön geschwungene Mund, um den eine süße Traurigkeit lag, verlor an Reiz durch die häßlich vorhängende Nase. »Du könntest dich ja als Laienpriester verdingen,« sagte sie frech und baumelte mit den Beinen wie ein Schulmädchen; »oder glaubst du, daß sie das Geschäft protestantisch führen werden? Natürlich, hier ist man ja protestantisch. Warum bekehrst du sie nicht, die Ungläubigen? Deine besten Talente läßt du verkümmern.«
Voß machte eine Grimasse. Mit seinen ziehenden Schritten ging er in dem atelierartig großen Raum umher. »Der Freigeisterei wird jeder Glaube zum Schachergut, das ist klar,« bemerkte er bitter. »Was spottest du? Spottest deiner selbst. Siehe nun wohl zu, daß nicht das Licht, das in dir ist, Finsternis sei, heißt es im Evangelium. Aber was gilt dir das: Evangelium? Eine gebildete Phrase. Schachergut.«
Johanna, den Kopf in die Hand gestützt, flüsterte unhörbar vor sich hin: »Wie gut, wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß.« Laut sagte sie: »Schlechte Zensuren bekomm ich. Strafarbeit. Setzen Sie sich, Schülerin Johanna; Ihre Faulheit riecht bis an mein Katheder«
»Hast du nie geglaubt?« fragte Amadeus, vor ihr stehenbleibend; »hat es dich nie angerührt, das namenlose Wesen? Haben dich die Schauer vor ihm nie erbeben gemacht? Kennst du die Ehrfurcht nicht? Aus was für einer Welt mußt du sein!«
Johannas Gesicht zuckte von Sarkasmus. »Wir sind den ganzen Tag damit beschäftigt, ums goldne Kalb zu tanzen,« antwortete sie; »Urahne, Ahne, Mutter und Kind. Stell dir das einmal vor. Schwindelerregend.«
Unempfindlich gegen ihren Hohn, in welchem die gebrechliche und geistreiche Anmut ihrer Natur zum Ausdruck kam, heftete Voß seinen Blick voll düsterer Leidenschaft auf sie. »Glaubst du wenigstens an mich?« fragte er und umschlang ihre Schultern.
Sie bäumte sich, sträubte sich, drückte die Hände wider seine Brust und bog den Kopf zurück. »An nichts glaube ich, an nichts,« sagte sie bebend, »an mich nicht, an dich nicht, an Gott nicht, an nichts. Du hast recht, an nichts.« Ihre Brauen verzogen sich schmerzlich, doch wie jedesmal, wenn er sie nahm und packte, erlag sie der Glut. Es war das Letzte der Erde und des Lebens; die letzte Betäubung; Schwäche, die Vernichtung will. Die spröde Lippe wurde weich und erschloß sich, die Lider fielen zu.
Amadeus, mit der Kraft des Verwilderten, hob sie ganz auf seine Arme. »An dich nicht, an mich nicht, an Gott nicht,« murmelte er, »aber an ihn? An ihn auch nicht? Sprich, an ihn auch nicht?«
Sie schlug die Augen wieder auf. »An wen?« fragte sie erstaunt.
»An ihn!« Er preßte die zwei Worte gequält hervor. Sie begriff. Mit der glatten Bewegung einer Schlange löste sie sich aus seinen Armen.
»Was willst du?« fragte sie und ordnete mit nervösen Gebärden ihr reiches, braunes Haar.
Und er: »Ich will wissen. Ich will endlich wissen. So ist das nicht länger auszuhalten. Was ist geschehen? Wie kamst du zu dem Du in jenem Briefe? Was bedeuteten die Intimitäten: hast du mich schon vergessen? Darf ich noch darnach fragen? Ihr habt das gewisse Spiel miteinander getrieben, selbstverständlich, das geile, gefährliche Spiel der Motten um die Lampe; so dumm bin ich nicht, daß ich das nicht erraten hätte; aber wie weit habt ihr euch vorgewagt? Bis zum Zylinder oder bis zum Docht? Und als er dich stehen ließ, was hattest du für Forderungen an ihn? Was war er dir? Was ist er dir?«
Es war zum erstenmal, daß Voß davon redete. Es hatte ihn gewürgt; er hatte lauernde Fangfragen gestellt, Johannas Mienen erforscht, ihr Ablenken beargwöhnt, ihre zarte Scheu respektiert, und alles hatte die Ungeduld und den Verdacht gesteigert. Die Finger einer Hand um das Kinn verkrampft, hager und wunderlich schwankend stand er da.
Johanna schwieg. Ein Lächeln, halb spöttisch, halb leidend, irrte um ihre Lippen. Sie wünschte sich weit weg.
Voß fuhr knirschend fort: »Denke nicht, daß es Eifersucht ist. Und wenn es Eifersucht ist, vielleicht gibts kein andres Wort dafür, gehört sie nicht zu den Begriffen, in denen du aufgewachsen bist wie in einem vergifteten Ziergarten. Warum warst du nicht offen? Bin ich nicht wert, daß du mit mir offen bist? Hast du mein stummes Betteln nicht gespürt? Um was es geht, brauch ich dir nicht auseinanderzusetzen; ahntest dus nicht, so hättest du keine Angst davor. Ein Mensch wie ich, den äußerer Dienst und innerer Gehorsam von frühe an ein Ideal von Keuschheit gelehrt, das erhabene und heilige des Glaubens, den nur die Verzweiflung über die unerreichbare Himmelsferne dieses Bildes in die Sündenkloake getrieben hat, der muß ein andres Gewicht auf Unschuld und Unberührtheit legen als eure Herrchen, eure eleganten Bezwinger, eure gedrillten Löwen. Die Sünde, da steht sie, da vor dir steht sie, voll Unrat und voll Jammer; du könntest Erlösung bringen, also rede. Die Beichte, da drin ist sie, da drin in meiner Brust schreit sie. War ich zu sparsam damit? Bekommt sie nicht geradezu eine schamlose Fratze neben deiner hoffärtigen Verschlossenheit? Kann ich denn bloß deine Sinne aufreizen, du heidnisches Menschlein, nicht auch deine Eingeweide und dein Herz? Beichte, oder ich reiß es mit Zangen aus dir heraus! Soll ich deswegen geharrt und entbehrt haben, daß man mich mit dem abspeist, was ein andrer übriggelassen hat, weil er satt war? Hast du mit ihm geschlafen? Rede. Hast du mich um deine Jungfrauschaft betrogen? Mit ihm betrogen, der mich ohnehin um alles betrogen hat? Rede!«
Johanna, flammend entrüstet, griff nach Hut und Mantel und ging. Er ließ sie gehen, starr. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, und er vernahm ihre sich entfernenden Schritte, so jagte er ihr nach, kehrte wieder um, holte seine Mütze und stürzte zur Treppe. Als sie das Haus verließ, war er schon an ihrer Seite. »Hör mich an,« stammelte er, »verurteile mich nicht.« Sie ging rascher, ihm zu entfliehen; er wich nicht. »Das Gesagte mag schroff klingen, Johanna, brutal sogar; dahinter ist die demütigste Liebe.« Sie schlug die Straße zum Bahnhof ein; er vertrat ihr den Weg. Wenn sie fahre, werde er Gewalt anwenden, drohte er. Passanten wurden aufmerksam; um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, mußte sie umkehren. Sie bat: »Erlaß mir wenigstens das Haus; ich kann nicht mehr im Zimmer bleiben; sprechen wir im Gehen; aber nicht so nah, die Leute lachen ja.«
»Die Leute, die Leute; die Welt ist voller Leute; sie wissen von uns nicht mehr als wir von ihnen. Sag, daß du vergibst, und ich will so gleichmütig sein, als käm ich von einer Skatpartie.« Er war bleich bis in die Stirn.
Sie gingen in nasser Schneeluft, auf nasser Erde. Die Straße endete in einen Feldweg. Über der untergehenden Sonne stand ein zerfetzter Wolkenhimmel in Rot, Gelb, Grün und Blau. Ein Schnellzug donnerte hart an ihnen vorbei. Elektrische Signale bimmelten. Es war ermüdend, über das schlüpfrige Laub zu gehen, doch der feuchte Wind kühlte das Gesicht.
Amadeus brachte Erklärungen vor. In der Selbstverteidigung fand er über sich, den Verstoßenen und Getretenen, das letzte, gepeinigte Glied einer Kaste und Geschlechterfolge von Verstoßenen und Getretenen, die unerhörten Worte, die Johanna niederbeugten und ihre Willenskraft knickten. Er sprach von seiner Liebe zu ihr, diesem schrecklichen Sturm im Blut, von dem er Reinigung, Bindung, Befreiung erhofft und der ihn statt dessen verwüste und zerstücke. Das sei wie Zweifel an Gott. Wenn man als sehr junger Mensch an Gott zweifle, breche die Welt in Trümmer, alles Leben sinke in die Agonie. So ergehe es ihm. Diese Nächte, wo man um Stillung lechze und das Dunkel zum Abgrund werde, aus dem tausend purpurne Zungen spritzten!
Ein Geblendeter, der sich im Kreis bewegt, fing er wieder an, zu fragen, vorsichtig und schlau zuerst; dringlich und inbrünstig dann; wies auf belastende Umstände, auf Zusammenhänge, die die Phantasie beunruhigten, appellierte an das Mitleid, an die Redlichkeit, an einen verschütteten Funken von Frömmigkeit, schilderte abermals seinen Seelenzustand, bettelte mit aufgehobenen Händen, verstummte, sah finster vor sich hin, verstört und hilflos.
In Johanna hatte anfangs das Erstaunen darüber vorgeherrscht, daß ihre Beziehung zu Christian, die für sie in der Vergangenheit lag wie in goldenem Schimmer, ihm nicht etwas Sonnenklares war. Hätte er es so aufgefaßt und das Geschehene als selbstverständlich vorausgesetzt, so hätte sie sich vielleicht harmlos dazu bekannt. Aber seine Wildheit und Gier reizten sie zum Trotz, erregten ihr Furcht, immer mehr; jeder neue Angriff machte sie unzugänglicher; plötzlich hatte sie ein Geheimnis vor ihm zu schützen; plötzlich war es Geheimnis, tiefes, stolzes; es preiszugeben konnten sie keine Beteuerungen und Verfolgungen mehr zwingen; die guten Schicksalsgeister sprachen ihr Veto dagegen; es war ein Besitz, den sie sich nicht rauben lassen durfte, von ihm nicht, der Schuld und Schimpf darin erblickte, dem sie ohne Segnung verfallen war. Und sie errichtete Dämme, war bereit, zu kämpfen, zu lügen, das Häßliche und Widrigste zu dulden, Bezichtigung und Erniedrigung.
So kam es auch. Seine Besessenheit sammelte sich in dem einen Punkt. Jeder Blick forschte greulich, jedes Wort sondierte, hinter jeder Zärtlichkeit und Berührung war die eine Frage. Sie wich aus; er wurde rasend. Sie wollte ihn besänftigen; er warf sich hin und küßte ihre Füße. Sie erbarmte sich und täuschte ihn für die Dauer einiger trunkener Stunden mit den frei erfundenen Einzelheiten einer platonischen Schwärmerei. Er schien zu glauben, warb um Verzeihung, verhieß Besserung, Schweigen, Schonung. Aber es verstrich kein Tag, und das Unwesen begann von neuem. Sein Auge war vom Mißtrauen geätzt; Christian Wahnschaffe war der Feind, der Dieb, der Widersacher. Was war zu der und der Zeit? Was hast du ihm da und da gesagt? Was hat er geantwortet? Woher kam er? Wohin ging er? Hat er das Letzte von dir verlangt? Hast du ihn geküßt? Einmal? Viele Male? Hast du gewünscht, daß er dich küsse? Wo warst du allein mit ihm? Wie sah das Zimmer aus? Was für ein Kleid trugst du? Rettungslos; eine Schraube, die sich einbohrt. Johanna stieß ihn von sich. Sie höhnte; sie seufzte; sie schlug die Hände vors Gesicht; sie weinte; sie lachte; und sie wich nicht um Haares Breite.
Ermattung stellte sich ein. Oft war sie so erschöpft, daß sie vom Morgen bis zum Abend auf einem Sofa lag, blaß und still. Sie ließ sich von ihren Verwandten in Gesellschaften schleppen, in Theater, Konzerte, Galerien; mit erloschenen Blicken und frierender Gleichgültigkeit fühlte sie sich als Beute lästiger Forderungen. Die Sympathie, die ihr die Menschen entgegenbrachten, war lästig; was gab das noch, wenn man sich so grimmig verachtete? Diese selbstmörderische Verachtung war die schneidende Waffe, die sie gegen ihre Brust kehrte, der ritzende Stachel ihres Witzes. Ihre Aussprüche wurden verbreitet, ergötzten ganze Zirkel; einmal schilderte sie, wie sie an einem See gebadet und wie ein jäher Windstoß die Badehütte samt Dach und Tür über ihren Kopf davongetragen; »und,« schloß sie, »ich stand nackt da, wie mich Gott in seinem Zorn erschaffen hat.«
Ihr Abscheu vor dem, der ihr Geliebter war, stieg zu einem Grade, daß es sie wie Frost schüttelte, an ihn zu denken, daß sie heimlich seine Gebärde äffte, seinen Tonfall, seine pastoralen Floskeln, seinen heißhungrigen Blick. Sie hielt Verabredungen nicht ein, fuhr nicht hinaus zu ihm, wenn sie es versprochen hatte. Da schickte er Telegramme, Rohrpostbriefe, Boten, stand Wache vor dem Tor, redete die Dienstleute an, bis sie, außer sich, zu ihm ging und in ihrer Empörung unbesonnene Worte sagte, die eiskalt klangen. Er wurde Schulamtskandidat, spielte den Reuigen, war es auch, und die Angst, sie zu verlieren, riß ihn zu Worten hin, in denen sich Wahnsinn mit Teuflischem mischte.
Sie verfiel; sie schlief und aß kaum noch. Wieder und wieder beschloß sie, allem ein Ende zu machen und abzureisen. Aber da war ein andres. Da waren sinnliche Lockungen von perverser Art. Ihr feiner, verfeinerter Körper, ihre zarte, überzärtelte Seele, diese verletzliche Haut, diese inneren Membrane, sie bogen sich in kränklich süßer Sehnsucht Grausamem zu, einer mysteriösen Wollust, die in Sklaverei und Schändung enthalten war, dem Äußersten, Verruchtesten, was leiden machte, dem Verbotensten, was berauschte und betäubte.
Es war ein Abend, da kauerte sie halbentkleidet auf einem Schemel, mit offenen Haaren, die üppig über die schmalen Schultern flossen, das Haupt zwischen flachen Händen, mit dem Ausdruck eines trostlosen Harlekins, bleich und still. Amadeus Voß saß am Tisch, hatte die Arme verschränkt und blickte ins Lampenlicht. Dies Alleinsein zu zweien, ohne Welt, ohne Würde, ohne Glück, es hatte für Johanna etwas Unerbittliches, Existenz von Sträflingen, die an eine Kette geschmiedet sind. Plötzlich erhob sie sich, raffte ihr Haar, und während sie es graziös aufsteckte, sagte sie in ihrer skurrilen Trockenheit: »Treten Sie ein, meine Herrschaften, hier ist zu sehen großer Maskenscherz. Das Neueste und Modernste. Garantierte Sensation. Geht unter kolossaler Spannung vor sich. Enthüllung der Geheimnisse männlicher und weiblicher Psyche. Überraschender Schlußeffekt. Nur immer hereinspaziert!«
Sie trat vor den Spiegel, schaute ihr Bild an, als kenne sie es nicht, und machte eine komische Verbeugung.
Amadeus Voß senkte den Kopf und schwieg
Der Halbidiot sagte, es wispere ihm etwas in den Ohren. Dabei zitterte er wie Espenlaub und war grün im Gesicht.
Niels Heinrich versetzte ihm einen Fußtritt unter dem Tisch.
Wenn die Tür aufgerissen wurde, knallte das Gelächter und das Weibergekreisch in den Nebel hinaus. Man sah dann die Baustellen, an deren Rand die fliegende Destille, eine Blockhütte, errichtet war. Ein Stadtviertel sprang aus dem Boden. Balken, Gerüste und Krane bildeten ein Gewirr, ähnlich einem Wald, in dem ein Orkan gewütet hat. Grundmauern, Erdlöcher, Bretterhäuser, Mörtelgruben, Laufbrücken, Traversen, Gebirge von Ziegeln, Sandhaufen, Karren, alles war trüb beleuchtet von den Bogenlampen, die wie in grauer Baumwolle staken. Da und dort glühten Trockenöfen in ihrer Vergitterung.
Dann fiel die Tür wieder zu, und man war in einer Höhle.
Es wispere ihm etwas in den Ohren, behauptete Joachim Heinzen. Er lauschte verständnislos den Zoten, mit denen ein alter Maurer die Tischgesellschaft zum Brüllen brachte. Niels Heinrich warf einen finstern Seitenblick auf den Idioten und verbot dem Wirt, sein Glas von neuem zu füllen; es blase bei dem ohnehin schon vom Turm.
Allmählich leerte sich der Raum. Es ging auf eins. Drei Dauersäufer saßen noch beim Ausschank. Der Nachtwächter kam auf der Runde vorüber, ließ sich einen Kümmel geben, verschwand wieder. Der Wirt warf mißbilligende Blicke auf die Spätlinge, setzte sich in den Verschlag und nickte ein.
Fünf Taler gebe er ihm, sagte Niels Heinrich leise zu dem Idioten, dann solle er sich dünne machen. »Vaziehste dir man nich, so lichste im Wurschtkessel, Junge,« sagte er. Der rote Geißbart stieg auf und ab. Um den Hals war ein dottergelber Schal so oft geschlungen, daß der Kopf auf einem Polster ruhte. Das Gesicht, fahl, sommersprossig, schien ohne Fleisch.
Joachim zitterte an Armen und Beinen. Draußen gingen Dirnen vorbei; ihr Lachen klang wie Tellergeklapper. »Fünf Daler; is jutt,« sagte der Idiot und grinste. Doch sah man, wie er zitterte. Den ganzen Tag, den vorigen und den vorvorigen war es so gewesen: er zitterte an Armen und Beinen. »Möcht mir ne Schwarzhaarige koofen,« murmelte er.
»Für Jeld kannste den Deibel danzen sehn, du Drehlade,« erwiderte Niels Heinrich.
Jetzt brachen auch die am Ausschank auf. Eine Uhr schnarrte. »Meine Herren, 's ist Polizeistunde,« mahnte der Wirt. Dreimal wurde gemahnt.
»Det Ding wer ick schon machen,« sagte der Idiot. »Möcht eene haben, die soll sind wie 'n Karussell. Immer lustig, immer ringsrum.«
»Allemal, allemal, Junge; laß dir nur nich vom Luftballon überfahren dabei,« höhnte Niels Heinrich und starrte seine Finger an, als hätten die zu ihm geredet; »allemal, allemal.«
»Möcht eene haben, die soll sind wie 'n Papagei,« sagte der Idiot; »jeschmückt und ufklaviert.« Und blöde, mit einer zerbrochenen Stimme trällerte er: »Mädel, putz dich, wasch dich, kämm dich schön, denn du weeßt, wir wolln bei Jräberts jehn.«
Niels Heinrich schwieg verbissen.
»Möcht eene haben, die soll sind wie 'n Fräulein, elejant und hübsch,« fuhr jener fort und trank den Rest aus seinem Glase. »So eene möcht ich haben. Gib her die fünf Daler. Jungeken, gib her.« Plötzlich überflog ihn ein Schauder, seine Augen traten aus den Höhlen, und er gab ein Geräusch von sich, das eine grauenhafte Klangverwandtschaft mit einem Wimmern hatte.
Niels Heinrich erhob sich und riß ihn am Rockkragen empor. Er warf das Geld für die Zeche auf den Tisch und beförderte den Idioten ins Freie. Er packte ihn am Arm und zog den Wankenden, grauenhaft in sich Hineinwimmernden fort. Er sprach nicht. Die blaue Mütze tief in die Stirn geschoben, das Gesicht voll brütender Gedanken, achtete er nicht auf Schnee und Kot.
Der Nebel verschluckte ihre Gestalten.
Der Agent Hofmann hatte von Bremerhaven aus einen Abschiedsgruß an seine Kinder geschrieben. Der Postbote hatte die Karte in die Türfuge gesteckt, und Christian las sie.
Bei ihrem Vater konnte also Ruth nicht sein; das war nun zweifellos; eine Gewißheit, die erschreckte. Wo war sie also? Und wo war Michael?
Er ging zum Hausverwalter und sprach mit ihm über das Verschwinden der beiden. Es wurde die Anzeige bei der Polizei gemacht.
Er wußte die Namen von Familien, wo sie Stunden erteilt hatte. Er ging zu ihnen, aber nirgends vermochte man ihm Aufschluß zu geben. Er ging in die Anstalten, die sie besucht, zu Freunden und Freundinnen, mit denen sie verkehrt hatte; überall traf er Verwunderung, Kopfschütteln, Ratlosigkeit. Man nannte ihm neue Wege, neue Menschen. Der und der, die und die hatte sie da und dort zuletzt gesehen; die Spur verlor sich. Er war von morgens bis abends auf der Suche nach Spuren; sie verloren sich, kaum, daß er sie aufgegriffen. Die Sorge und das bestürzte Fragen zog Kreise.
Die Wache bei Karen hatte er Isolde Schirmacher und der Witwe Spindler überlassen.
Am Abend des fünften Tages kehrte er müde heim. Botho Thüngen und der Student Lamprecht hatten ihm bei den Nachforschungen geholfen. Alles war vergeblich gewesen. War eine Hoffnung entstanden, so hatte sie der nächste Schritt zunichte gemacht.
Und wo war Michael?
Christian stieg die Treppe hinan. Die Gasflamme im Halbstock brodelte. Am Geländerpfeiler hockte quiekend das weiße junge Kätzchen. Christian bückte sich und hob es auf seine Hände. Es begann leidenschaftlich zu schnurren, schmiegte sich dicht an seinen Rock, und er streichelte das seidenweiche Fell, von dem Wohlbehagen auf seine Hand überströmte.
Den Schlüssel, der unter der Strohmatte gelegen, hatte er im Einverständnis mit dem Hausinspektor in Verwahrung genommen. Am andern Morgen sollte er ihn abliefern, da eine behördliche Kommission erwartet wurde.
Er schloß die Tür auf und trat in die finstere Stube. Muffige Luft umfing ihn. Jeder Hauch von Ruth war verweht. Ruth, kleine Ruth, mußte er denken, und in dem Maß, wie er sich innerlich zu einem Gefühl sammelte, hörte die Finsternis auf, unnatürlich und störend zu sein.
Er setzte sich an den Tisch. Das durch den Türspalt fallende Licht ließ ihn die Bücher und die Hefte seiner kleinen Freundin gewahren. Er ging hin und machte die Tür zu. Erst jetzt war er imstande, sich Ruth mit jener Lebhaftigkeit zu vergegenwärtigen wie in der ersten schlaflosen Nacht nach ihrem Verschwinden. Sie trat nicht nur aus der Dunkelheit hervor wie damals, sondern sie sprach auch zu ihm.
Sie heftete ihre munteren, köstlich lachenden Augen auf ihn und sagte in einem Ton, dessen Ernst sich in schroffem Widerspruch zu dem Ausdruck der Augen befand: »Nein, niemals, nimmermehr.«
Was bedeutete dieses Nein, Niemals, Nimmermehr? Worauf bezog es sich?
An die Fensterscheiben drängte sich Nebel. Das Kätzchen schmiegte sich zärtlicher in seinen Arm; das weiße Fell war ein unbestimmt schimmernder Fleck. Die lebendige Kreatur, geformt und atmend, blutwarm und liebend, verhinderte ihn, sich einem immer schwerer hinunterziehenden Schmerz völlig hinzugeben.
Auf einmal gewahrte er, vor sich ausgebreitet, eine Landschaft. Es ist ein Weg mit hohen Pappeln im Herbstlaub, ein breiter Schlammweg, alles schwarzer Morast, rechts Heide bis ins Unendliche, links Heide bis ins Unendliche; die schwarzen, dreieckigen Silhouetten einiger Hütten, durch deren Fenster vom Feuer her ein rotes Licht scheint; da und dort Tümpel schmutzigen, gelblichen Wassers, die die Luft widerspiegeln und in denen Stämme vermodern; das Ganze in der Dämmerung mit einer weißlichen Luft darüber, und von fern eine rauhhaarige Figur, der Hirt; und eine Anzahl eiförmiger Massen halb Wolle, halb Schlamm, die gegeneinander stoßen und einander verdrängen: die Herde. Mit Mühe und Unwillen schreiten sie dahin auf dem schlammigen Weg, bis zum Bauernhof, einigen Moosdächern und Stroh und Torf zwischen den Pappeln. Der Schafstall: dunkel; die Tür weit offen wie der Eingang zu einer dunkeln Spelunke. Durch die Spalten der Planke dringt das Licht der Luft von hinten durch. Die Karawane von Wollklumpen und Schlamm verschwindet in dieser Höhle, und der Hirt und eine Frau mit einer Laterne schließen die Türe.
Wie kam es, daß ihm die sichtbar-unsichtbare Anwesenheit Ruths die Vision dieser Landschaft gab? Er hatte eine solche Landschaft, soweit er sich erinnern konnte, nie gesehen. Wie kam es, daß etwas so Beschwichtigendes und etwas so Aufwühlendes, Sehnsucht und Furcht, von der Landschaft ausging wie kaum von einem Schicksal, einem Antlitz, einer Gestalt? Und wie kam es, daß das Nein, Niemals, Nimmermehr als ein geheimnisvoller Sinn darin enthalten war, eine Mitteilung wie in einem Bilde?
»Ruth, kleine Ruth.«
Die Betrübnis drang Christian in Mark und Bein.
Crammon hatte sich vorgenommen, nur eine Woche lang in der Villa Ophelia zu bleiben, erstens, um das Familienidyll nicht über die anständigerweise gebotene Zeit zu verlängern, zweitens, weil das festgesetzte Programm, von dem abzuweichen ihn sonst nur Elementarereignisse zwingen konnten, ihn nach England rief. Aber aus der einen Woche wurden zwei, aus den zweien drei, und als die dritte Woche vorüber war, vermochte er noch immer keinen Entschluß zu fassen.
Er grollte sich und seiner Umgebung und war launenhaft wie eine Frau. Er richtete unzufriedene Ansprachen an seine eigne Person, beschuldigte sich senilen Wankelmuts und war voll Gift und Nörgelei gegen die Lotterwirtschaft im Hause der Gräfin. Die Küche wurde nach seiner Ansicht zu fett geführt und drohte, seinen empfindlichen Magen zu ruinieren; die Dienstboten ließen es am nötigen Respekt fehlen, weil man oft mit dem Lohn im Rückstand blieb; die Gäste, von denen die Zimmer nie leer wurden, zeichneten sich in der Mehrzahl durch nichts weniger als durch Distinktion aus. Man traf allerhand Krapüle: Musiker, Dichter, Maler, auch Frauenzimmer dieses Kalibers, ferner Aristokraten von zweifelhaftem Ruf, kurz, schmarotzende Existenzen, unergiebige Leute, malheureuses Volk.
Crammon nahm sich unter ihnen aus wie eine Reliquie aus einem erlauchteren Zeitalter.
Eines Tages erschienen auch die beiden Neffen der Gräfin, Ottomar und Reinhold Stojenthin, die sich einen zweimonatlichen Urlaub verschafft hatten. Urlaub wovon? erkundigte sich Crammon mit erstaunten Brauen. Sie wollten mit Lätizia nach München reisen. »Es sind wackere Burschen, Herr von Crammon,« sagte die Gräfin, »nehmen Sie sie ein wenig unter Ihre Fittiche.« Crammon antwortete verdrossen: »Ich habe mich immer davor gefürchtet wie vor der Pest, daß mal wer kommen und meine heimliche Begabung zur Gouvernante entdecken könnte. Dieses Verdienst ist Ihnen vorbehalten geblieben, Gräfin.«
Sehr gespannt war sein Verhältnis zu Puck, dem Löwenhündchen. Unergründlich, was ihn gegen das Tierchen so aufbrachte, daß er einen roten Kopf und runde Augen bekam, wenn er es nur sah. Vielleicht seine hochblonde Behaarung; vielleicht seine fortwährende Schlafsucht; vielleicht ahnte er eine gewisse Bosheit in ihm, die es veranlaßte, sich krank und pflegebedürftig zu stellen, indes es sich auf seidenen Pfühlen rekelte und sich die leckersten Dinge ins Maul schieben ließ.
Die Obsorge, die Lätizia dem Mißgeschöpf widmete, ärgerte ihn. Einmal hatte sich das Hündchen vom Teppich erhoben und war, asthmatisch prustend, durch die offene Tür entwichen. »Wo ist Puck?« fragte Lätizia nach einer Weile, wohlig im Fauteuil zurückgelehnt. Puck war nicht da. »Ach, pfeif ihm doch, Bernhard,« bat sie mit ihrer Flötenstimme. »Das kannst du ja selber besorgen,« weigerte sich Crammon ungalant. Und Lätizia, mit klagender Gelassenheit, in zerstreuter Träumerei: »Nein, tu du es; wenn ich aufgeregt bin, kann ich nicht pfeifen.«
Da pfiff Crammon dem gehaßten Wesen.
Die Dinge mußten sich aber entscheiden. »Gehst du mit nach München, Bernhard?« lockte Lätizia sirenenhaft und lachte über seinen Ärger. Zur Gräfin-Tante sagte sie: »Er tobt vorläufig noch; aber er wird mit uns fahren.«
Es schwebte Crammon eine sittliche Mission vor. Man konnte bessernd auf Lätizia einwirken. Man konnte ihr die Augen öffnen für den abschüssigen Weg, den sie in verwerflicher Heiterkeit ging. Man konnte ihr helfen. Man konnte sie stützen. Man konnte sie rechtzeitig warnen. Man konnte ihre Verschwendungslust zügeln, ihrer Urteilslosigkeit in allen Lebensverhältnissen den Star stechen. Sie war so unerfahren, so leichtfertig. Sie glaubte jedem Lügner, hörte jedem Schwätzer traulich zu, begeisterte sich für jeden Scharlatan, nahm jede Schmeichelei für bare Münze, versah jeden Laffen, der ihr den Hof machte, mit einer Glorie von Weisheit und Schmerz. Man mußte ihr Vernunft beibringen.
Es war ein richtiger Gedanke. Dennoch geschah es, daß ihn ein Lächeln Lätizias verstummen machte. Der triftigsten Maxime, dem unbestreitbarsten Leitsatz der Moral brach sie die Spitze ab, indem sie den Kopf gegen die Schulter neigte, die Augen innig aufschlug und mit einem holden Büßerinnenton sagte: »Schau, Bernhard, ich bin doch nun mal so; warum soll ich denn nicht so bleiben? Warum willst du mich denn anders haben? Wär ich anders, so hätt ich andre Fehler. Laß mich doch so, wie ich bin.« Und sie hing sich an ihn und kribbelte mit den Fingerspitzen sein angehendes Doppelkinn, was ihn bewog, zu seufzen und stillzuhalten.
Folgende Personen traten die Reise nach München an: Lätizia; deren Zofe; die Amme Eleutheria; die Zwillinge; die Gräfin; Fräulein Stöhr; Ottomar und Reinhold; Crammon; der Pole Stanislaus Rehmer. An Tieren: Puck, das Löwenhündchen, ein Zeisig in einem Bauer und ein zahmes Eichhörnchen in einem vergitterten Käfig. Das Gepäck bestand aus vierzehn großen Koffern, sechzehn Handtaschen, sieben Hutschachteln, einem Kinderwagen, drei Proviantkörben und unzähligen in Papier, Leder und Sackleinwand verschnürten kleineren Stücken, von Mänteln, Schirmen, Stöcken, Blumensträußen ganz zu schweigen. Die Gräfin rang die Hände, das Löwenhündchen kläffte ersterbend, Lätizia legte ein umfangreiches Verzeichnis von Dingen an, die sie vergessen hatte, die Zofe zankte mit dem Schaffner, die Zwillinge schrien, Eleutheria entblößte vor einem beleidigten Publikum ihre voluminösen Brüste, Fräulein Stöhr hatte ihre ergebene Miene, mit Blick nach oben, Ottomar und Reinhold stritten über literarische Gegenstände, der Pole ließ kaum die Augen von Lätizia, Crammon saß verdüstert, Bein über Bein, und drehte die Daumen.
Mit Ausnahme der Brüder Stojenthin, die sich in einem geringeren Gasthof einmieteten, bezogen alle im Hotel Continental Quartier. Die Rechnung, die man der Gräfin täglich auf das Zimmer brachte, betrug selten weniger als dreihundert Mark. »Stöhr, wir müssen Hilfsquellen erschließen,« sagte sie zu ihrer Gesellschafterin, »das Kind ist ahnungslos; es würde ihm das Herz brechen, wenn es wüßte, in welchen Geldsorgen ich stecke.« Fräulein Stöhr, mit Tugendmiene, schien hiervon keineswegs überzeugt.
Man betraute einen Advokaten von großem Namen mit der Führung des Prozesses gegen die Familie Gunderam. Der Sachwalter der feindlichen Partei war beauftragt, alle Forderungen abzulehnen. Es gab endlose Besprechungen, bei denen die Gräfin sich edel entrüstete, während Lätizia ein elegisches Erstaunen zeigte, als gingen sie diese Dinge nichts an, als seien sie ihrem Gedächtnis entschwunden. Ihre Angaben über das, was sie gesagt und getan, über Abmachungen und Vorgänge, lauteten jedesmal anders, und wenn man sie auf den Widerspruch aufmerksam machte, sagte sie beschämt, verträumt, erzürnt, alles in einem: »Ihr seid so pedantisch. Wer soll das alles im Kopf behalten! Es wird schon so gewesen sein, wie es in den Akten steht. Wozu sind denn Akten da?«
Auch der alte Rechtsstreit um den Heiligenkreuzer Wald sollte in beschleunigteren Gang gebracht werden. Die Hoffnungen, welche die Gräfin darauf setzte, wurden zwar von keiner Seite bestärkt, desungeachtet fühlte sie sich als reiche Grundherrin und suchte Geldgeber zu gewinnen, die ihr auf ihre langjährigen und verjährten Ansprüche hin ein Kapital vorstrecken sollten. Es schlug fehl, aber ihre Zuversicht wurde nicht beeinträchtigt; sie vermochte es sogar über sich, schmutzige Lokalitäten zu betreten, um mit schmutzigen Persönlichkeiten zu verhandeln. »Sorge dich nicht, mein Engel,« sprach sie zu Lätizia, »es wird alles gut werden. Zu Ostern schwimmen wir in Geld.«
Lätizia sorgte sich keineswegs. Genießend strahlte sie. Jeder Tag war so voll von Glück und Lust, daß an das Morgen zu denken, insofern es nicht wieder mit Glück und Lust zusammenhing, ihr wie Undankbarkeit erschienen wäre. Das Leben schmiegte sich um sie, willig und schmückend wie ein schönes Kleid. Da ihr Inneres ohne Schatten war und ihr alle Menschen entgegenlächelten, glaubte sie, die Welt befände sich überhaupt in einem dauernden Zustand von Zufriedenheit, und was man bisweilen von Mißgeschick und Schmerz vernahm, war wohl da, irgendwo war es da, aber bis es zu ihr gelangte, war es schon verklärt, war es schon eine Fülle, eine Frucht, ein Traum.
So las sie die Bücher ihrer Dichter, so hörte sie Musik, so ging sie auf Bälle, um zu tanzen, so plauderte sie, promenierte sie, so wurde ihr alles zum lieblichsten Spiegel und ungebundenen Spiel. Sie hatte Freiheit, denn sie gab sich selbst Freiheit. Sie hatte immer und für jeden Zeit, denn der Augenblick war ein großer Herr. Deshalb war sie entwaffnend unpünktlich, treulos mit einer Unschuld, daß sie der noch trösten mußte, dem sie treulos war. Ihre Angelegenheiten gingen den schlimmsten Weg; sie wußte nichts davon; sie brachte unter Männern eine Verwirrung ohnegleichen hervor; sie wußte nichts davon; wer ihr von Liebe sprach, bekam Liebe; sie taten ihr leid; warum nicht austeilen, wenn man Überfluß hatte? Sechs bis acht hitzige Bewerber konnten stets zur selben Zeit auf schwerwiegende Gunstbeweise pochen. Traf sie ein Vorwurf, so war sie verwundert und nicht selten den Tränen nahe wie jemand, dessen reine Absichten unbegreiflich erkannt werden.
Eines der Zwillinge erkrankte, und ein Arzt wurde berufen. Da sich sein Erscheinen verzögerte, ließ sie einen andern kommen; am nächsten Morgen hatte sie beide vergessen und alarmierte einen dritten, vielleicht nur, weil ihr sein Name im Telephonverzeichnis gefiel. Die Folge war Verwirrung. Es konnte auch geschehen, daß sie sich in einen der Herren Doktoren für die Dauer einiger Stunden verliebte, wodurch die Verwirrung nicht geringer wurde.
Für die Weihnachtswoche hatte sie drei Einladungen angenommen, nach Meran, nach Salzburg und nach Baireuth. Als es so weit war, erinnerte sie sich an keine mehr und sagte nirgends ab: Verwirrung.
Die Zofe entpuppte sich als Diebin; sie mußte sie wegschicken. Ein Dutzend junger Mädchen stellte sich vor; bei der letzten, die ihr sympathisch war, vergaß sie, daß ihr bereits die erste sympathisch gewesen: Verwirrung.
Man erwartete sie zum Frühstück beim Intendanten. Sie kam zum Tee: Verwirrung. Man hatte eine Summe für die Bezahlung drückender Schulden beschafft. Sie lieh sie Stanislaus Rehmer, der arm wie eine Kirchenmaus war und seine Garderobe erneuern mußte: Verwirrung.
Aber die Verwirrung berührte sie mitnichten. Sie schritt hindurch, in festlich gehobener Laune, mit ihrem ein wenig lässigen Gang, dem zur Seite geneigten Haupt, den sanften rehbraunen Augen, der erwartungsvollen und entzückten Miene, in der auch eine kleine Pfiffigkeit verborgen war.
Unmöglich konnte Crammon dieses Treiben billigen. Hier wurde die Welt auf den Kopf gestellt und die Regel mit Füßen getreten. Mit sehr hübschen, sehr zierlichen Füßen allerdings, aber das Resultat war aufregend. Er murrte wie der Burbero bei Goldoni. Er sagte, es werde ein schlechtes Ende nehmen, er habe es nie anders erlebt, als daß Schlamperei ein schlechtes Ende genommen. Sein Entsetzen hatte Züge des Kleinbürgers, dessen Tugend verhöhnt wird. Fasziniert von dem Schauspiel einer halsbrecherischen Wanderung am Abgrund, das Lätizia ihm gab, verleugnete er die eigne Vergangenheit, wußte nichts mehr von seinen Torheiten und Abenteuern, seinem Freibeutertum, seiner Gefräßigkeit und seinen schlimmen Lüsten und was ihm noch täglich davon aufs Kerbholz zu schneiden war. Er notierte es nicht. Er murrte.
Eines Abends saß er mit der Gräfin allein bei der Tafel; Lätizia war im Konzert. Die Gräfin hatte etwas auf dem Herzen; sein Argwohn wurde wach. Sie war mild und legte ihm die besten Bissen vor. Sie sprach von dem baldigen Domizilwechsel, und daß sie sich mit Lätizia noch nicht habe einigen können, ob man Wiesbaden oder Berlin für die nächsten Monate wählen solle. Sie befragte Crammon um seine Meinung; er erwiderte, da sei Gott vor, daß er sich in solchen Konflikt mische; er habe andre Pläne, und es verlange ihn nicht, Zeuge eines lärmenden Zusammenbruchs zu werden.
Da begann die Gräfin über die Geldbedrängnis zu jammern und wie lästig ihr die Ungeduld der Gläubiger sei; sie habe sich um des Kindes willen entschlossen, ihn, Crammon, um ein größeres Darlehn zu bitten. Sie könne jede gewünschte Sicherheit bieten, falls ihr Name, ihr Ruf, ihre Person nicht Sicherheit genug für ihn sei; das Beschämende des Ansuchens bleibe immerhin; nur der Gedanke, daß sie vor dem leiblichen Vater ihres Liebchens sitze, tröste sie in ihrer Pein.
Wirklich wurden ihre hochroten Pausbacken um eine Schattierung blasser, und in den vergißmeinnichtblauen Augen schimmerten Tränen.
Crammon legte Messer und Gabel auf das Tischtuch. »Sie verkennen mich, Gräfin,« sagte er tartüffisch-betrübt, »Sie verkennen mich schwer. In meinem ganzen Leben habe ich kein Geld ausgeliehen, weder auf Zinsen noch auf Freundschaft, und nichts könnte mich bewegen, es je zu tun. Sie halten mich wahrscheinlich für wohlhabend. Das ist ein Irrtum, ein erstaunlicher Irrtum, Gräfin. Wenn ich diesen Eindruck hervorrufe, dürfen Sie doch daraufhin nicht urteilen. Ich habe zu sparen verstanden, weiter nichts. Ich war vorsichtig in der Wahl meines Umgangs, sowohl was Männer als auch was Frauen betrifft. Wurde ich von zwei Seiten zu Gast gebeten, von einer östlichen begüterten und von einer westlichen, in diesem Punkt zweifelhaften, so entschied ich mich ohne Besinnen für die östliche. Das enthob mich aller Skrupel und aller Reue. Was ich mein eigen nenne, ist ein kleines Gütchen in Mähren, unerheblich an Ertrag: ein bißchen Kornfrucht, ein bißchen Obst; ferner ein altes baufälliges Haus in Wien mit ein paar wurmstichigen Möbeln, die von zwei seltenen Perlen des weiblichen Geschlechtes instand gehalten werden. Niemand, Gräfin, ist je auf den sonderbaren Einfall gekommen, mich um Geld anzugehen, niemand, ich versichere es Ihnen.«
Die Gräfin stützte traurig den Kopf in die Hand.
»Ich würde mir auch im vorliegenden Fall ein Gewissen daraus machen, selbst wenn ich Ihr Begehren erfüllen könnte,« fuhr Crammon düster fort; »ich würde mirs nie verzeihen, den Kassenschrank des Unsinns abgegeben zu haben, der da verübt wird, den Finanzminister dieser kapitalistischen Ausschweifungen. Nein, nein, Gräfin, reden wir von erquicklicheren Sachen.«
Um Mitternacht, er war noch auf, klopfte es an Crammons Zimmertür, und Lätizia trat ein. Sie setzte sich an seine Seite und sagte mit ihrem großen, sanften Blick: »Daß du das Tantchen so schlecht behandelt hast, Bernhard, muß ich dir verübeln. Das lass ich nicht auf dir sitzen und auf mir auch nicht. Bist du denn schäbig? Bernhard, du bist doch um Gottes willen nicht schäbig! Sieh mir in die Augen und behaupte, ob du es sein kannst. Wahrhaftig, ich würde dich verstoßen.«
Sie lachte, sie umschlang seinen Hals, sie zupfte ihn an den Haaren, sie küßte seine Nasenspitze, kurz, sie war so mutwillig und so unwiderstehlich, daß Crammons eherne Prinzipien verhängnisvoll erschüttert wurden. Er widerrief seine Weigerung und versprach, Lätizias Schulden zu bezahlen.
Noch einmal wirkte Frauenhauch und Frauenwort, spät und schmerzlich-süß, doch war man nicht mehr Räuber, sondern Opfer. Man hatte einzustehen, man hatte zu verzichten; man biß nicht mehr in die saftige Birne, man wurde selber als Birne verzehrt.
Lätizia entschloß sich, nach Berlin zu gehen, und Crammon erklärte sich nach einigem vergeblichen Widerspruch bereit, sie zu begleiten.
Johanna saß in ihren Mantel gehüllt, trotzdem es im Zimmer warm war.
Amadeus Voß erzählte: »Ich weiß von einem heiligen Priester, der im siebzehnten Jahrhundert in Frankreich lebte, Louis Gaufridy war sein Name. Damals glaubte das Volk noch an Magie und Hexenkünste, und das war gut, denn es hatte damit ein Gegengift gegen gottlose Begierden. Heute glauben die Erlesenen wieder an die Magie, und sie bannen damit den Götzen, der sich Wissenschaft nennt. Louis Gaufridy galt für den frömmsten Mann seiner Zeit, auch seine Feinde bestritten es nicht. In einem Kloster, wo er die Beichte abnahm, war eine Nonne, Magdalene de la Palud; diese hatte sich in ihrer Phantasie des Heilands wie eines fleischlichen Geschöpfs bemächtigt; mit dem Bild des Heilands hatte sie gebuhlt, sagen die Chroniken. Es stand in ihrem verstörten Auge, und der Priester Gaufridy erkannte es und wollte sie durch die Beichte befreien. Aber die Dämonen verschlossen ihren Mund und vermauerten ihr Herz. Und sie wurde von ihnen besessen, die Teufel Asmodi und Leviathan redeten aus ihr, sie hatte unzüchtige Gesichte, sie, die bisher keusch gelebt hatte, und klagte den Priester an, er habe zauberische Schändlichkeiten an ihr verübt. Gaufridy wurde verhaftet und peinlich verhört und mit Magdalene konfrontiert. Er schwur bei Gott und den Heiligen, daß er falsch angeschuldigt sei, doch die Nonne beteuerte aus ihren Visionen heraus, daß er der Fürst der Zauberer sei und daß er sie in der Beichte mißbraucht und ihre Seele vergiftet habe. Vor den Richtern flehte er Magdalene an, von ihrem Wahn zu lassen und die Wahrheit zu bekennen; aber sie hatte keine Wahrheit mehr; außer sich rief sie ihm entgegen, er habe sich der Hölle mit Blut verschrieben und sie gezwungen, das gleiche zu tun. Daraufhin wurde er nochmals grausam gefoltert und auf dem Dominikanerplatz in Aix lebendig verbrannt.«
Johanna lächelte gequält.
»Das ist die Geschichte von Magdalene de la Palud,« sagte Voß; »die tiefe Geschichte vom himmlischen und irdischen Eros und von der Fata Morgana der Sinne. Wer war schuldig? Magdalene, weil sie sich am Bild des Heilands vergangen und es mit ihren lüsternen Gedanken befleckt, oder Gaufridy, weil er sie in den Zwiespalt mit sich selbst gestürzt hatte und Fleisch vom Geiste lösen wollte? Dafür mußte er leiden, dafür muß jeder leiden. Aber was ich spüre und worauf auch eine Andeutung in einer überlieferten Schrift schließen läßt, ist, daß den frommen Mönch eine geheimnisvolle und furchtbare Liebe zu Magdalene de la Palud ergriff, als sie ihn auf die Folter stieß, und daß diese Liebe sogar den Schmerz des Feuertodes für ihn linderte. In jeder Menschenbrust entsteht nur einmal Liebe und nur zu einem Wesen. Alles andre ist Mißverständnis und fruchtloser Wiederbelebungsversuch. Es führt zur Lüge, es führt zur Folter.«
Johanna lächelte gequält.
»Ich bin gestern mit einer Dirne gegangen,« sagte Voß plötzlich und sah stier in die Luft.
Johanna rührte sich nicht.
»Es ist ein altes Grauen, das mich zu den Dirnen zieht,« fuhr er tonlos fort. »Wenn ich manchmal mutterseelenallein, halb krank vor Sehnsucht, ohne Geld in der Tasche durch die Gassen schlenderte, sah ich ihnen nach und beneidete die Menschen, die mit ihnen gehen konnten. Es ist ein altes Gefühl und sitzt sehr tief. Ich kann nicht davon loskommen, jetzt schon gar nicht, wo ich im Finstern irre und der Boden weicht. Da nun Christus im Fleische gelitten, so wappnet auch ihr euch mit dem nämlichen Sinne, heißt es, denn wer im Fleische leidet, stehet von der Sünde ab.«
»Du sprichst,« sagte Johanna und stand auf. »Hätt ich sprechen gelernt, so könnt ich dir auch sagen, was du tust.«
»Ich leide im Fleische,« antwortete er, und sein Blick brannte auf ihr.
Sie ging ein paarmal durch das Zimmer. Sie haßte ihren Schritt, ihr Sehen, Hören und Denken. Sie hatte ein so hinglühendes Verlangen nach Menschennähe, einer freundlichen Hand, einem menschlichen Wort, daß sie sich, wozu es sie trieb, nicht einmal zu gestehen wagte. Es schwebte ihr nur dunkel vor, daß sie in jenem Hinterzimmer in der Stolpischen Straße saß, um auf Christian zu warten, stundenlang, nächtelang, gleichgültig wie lange, zu warten, nichts andres, und da zu sein, wenn er kam, und außen zu lächeln und inwendig zu weinen, man hatte das ja in der Übung, ohne Zweck, ohne Aussprache, ohne Geständnisse, ohne Klagen, wie es unter erzogenen Leuten Brauch war, die ihre Angelegenheiten in der Stille und mit sich allein abmachten; ohne andern Sinn, als da zu sein und die Gefriertemperatur des Herzens um ein paar Grade zu erhöhen.
Aber es war so verbrecherisch und so dumm: etwas zu wollen, zu planen, zu unternehmen, von irgendwoher etwas zu erhoffen, ein leeres Beginnen, wie das des Vogels, der nach gemalten Körnern pickt.
»Du erwähntest neulich, daß du die Miete nicht zahlen kannst, erlaube, daß ich dir aushelfe,« sagte sie in ihrer kargen, spitzen Art und legte mit einer Gebärde aus der Schulter heraus einige Geldstücke auf den Tisch. »Sprich nicht, ich bitte dich, diesmal sprich nicht.«
Er schaute sie verzehrend an und lachte höhnisch.
Sie blieb stehen wie eine Bildsäule, und er wollte sie küssen. Sie duldete es wie eine, der man ein Messer an die Kehle setzt.
Als sie in die Stolpische Straße kam, war es sieben Uhr abends. Christian war nicht zu Hause, und sie wartete.
Sie zündete die Lampe an, setzte sich an den Tisch und wartete, unbeweglich vor sich hinschauend. Nach einer Weile, da die Kälte des ungeheizten Raums unter den Mantel und die Kleider kroch, erhob sie sich und wanderte auf und ab. Manchmal betastete sie Gegenstände, ein Notizbuch, das verstaubte Tintenfaß, die kalten Ofenkacheln. Sie ließ die Rollgardinen herunter und sah die einfältigen Bildereien an, mit denen sie bedruckt waren.
Wieder wie damals hörte sie das Haus. Es raunte; es umdrängte sie, ein Schicksal.
Da wurde an die Tür gepocht, in raschen, heftigen Schlägen. Sie erschrak, ging hin und machte auf. Ein Knabe stand vor ihr. Der Anblick, den er bot, machte sie schaudern. Seine Kleider waren von oben bis unten mit Kot bespritzt, ja, an einzelnen Stellen, an den Knien und an der Brust, bildete der Kot eine dicke Kruste. Er war ohne Kopfbedeckung; pechschwarze Haare hingen wirr um den Schädel; auch sie starrten von Kot. Das Gesicht war weiß, so vollkommen weiß, wie es Johanna nie gesehen hatte; kein Tropfen Blut schien unter der Haut zu fließen.
Auf dem linken Fuß hinkend trat er an Johanna vorbei ins Zimmer. Seine Bewegungen waren traumhaft mechanisch; der Willensantrieb lag geraume Zeit hinter der Handlung.
»Ich bin Michael Hofmann,« sagte er, und seine Zähne klapperten.
Johanna kannte ihn nicht und wußte nichts von ihm. Sie glaubte es mit einem Irrsinnigen zu tun zu haben. Aus Furcht entfernte sie sich nicht von der Schwelle. Sie war jeden Augenblick gewärtig, daß er sich auf sie stürzen würde, und horchte nach Schritten vom Flur oder vom Hof. Sie wollte flüchten, hatte aber Angst, sich zu bewegen. Als der Knabe in den Lichtkreis der Lampe kam, entschlüpfte ihr ein mit einem Seufzer abbrechender Aufschrei, so gräßlich war der Ausdruck in seinen Augen.
Er stockte. Er schaute sich um. Er suchte offenbar Christian Wahnschaffe. Im Schauen vergaß er das Suchen wieder; der Blick verlor sich. Er griff nach einer Stuhllehne. Erschöpfung schien ihn zu befallen; indem er sich auf den Stuhl setzen wollte, wirbelte es ihn halb um seine Achse, und hätte er nicht die Lehne krampfhaft gepackt, so wäre er niedergebrochen. Nun sah Johanna, daß es kein Irrsinniger war, auch kein Betrunkener. Es war ein Mensch, dem ein unfaßbar entsetzliches Geschehnis die Besinnung, die Kraft, die Sprache und den Blick geraubt hatte. Nicht bloß das Schlottern der Glieder und das steinweiße Gesicht verkündeten es, die Atmosphäre um ihn verriet es.
Sie schloß leise die Tür. Sie näherte sich zaghaft dem Stuhl, auf dem er wie festgekeilt saß. Sie wagte keine Frage. An der Lippe nagend, unterdrückte sie ein heiß aufschießendes Gefühl. Sie fühlte sich zusammenschrumpfen, sie wurde sich ganz dünn und schmal, sie hatte das Recht zu atmen vor sich verwirkt.
Jede Sekunde, die verstrich, vermehrte ihre unsägliche Bestürzung. Die Beine wankten ihr; sie setzte sich abseits. Der Knabe kehrte ihr den Rücken, und sie gewahrte, daß sein Körper zu zucken anfing. Es war an den Rockfalten und den herabhängenden Armen merkbar und dauerte ohne Pause konvulsivisch an. Die Hilflosigkeit, in der sie sich dem unbekannt Schauerlichen gegenüber befand, erregte physischen Schmerz, trieb zur Selbstbeschimpfung und Selbstverhöhnung. Ihre Seele war in Schwärze getaucht, zerfasert und zerstäubt. Während sie so litt, kam eine Begierde über sie, eine trotzige, mit Zweifeln ringende, an einen letzten Halt sich klammernde Begierde: zu erfahren, wie Christian dieses Fürchterliche aufnehmen würde, in das er allem Anschein nach verstrickt war; ob er es abtun würde mit seiner Glätte, ob es zerschellen würde an seiner Undurchdringlichkeit, die sie kannte, an der auch sie zerschellt war mit ihrem Leben und Schicksal; oder ob er der andere war, der Umgewandelte, der Unzweideutige, der das Wunder an sich vollbracht und Menschen damit hingerissen hatte, nur sie nicht, weil sie nicht glaubte, nicht glauben konnte, aus Scham nicht, aus Verzweiflung nicht, aus Verlassenheit nicht, aus Kränkung nicht. Gab es das, war es so, stimmte die Probe aufs Exempel, dann brauchte sie sich ferner nicht zu quälen. Was bedeutete dann einer Johanna Schöntag kleiner Kummer noch? Dann mußte sie sich bescheiden und eines Rufes gewärtig sein. Welchen Rufes, das wußte sie nicht.
Und sie wartete, den schlanken Hals reckend wie ein durstiges Tier.
Das »Nein, Niemals, Nimmermehr« hatte Christian sinnlos umhergetrieben. An diesem Tag vergaß er Karen in ihrer Todeskrankheit.
Als er gegen Abend in die Stolpische Straße kam, regnete es. Trotzdem standen vor den Häusern Leute in Gruppen. Ein ungewöhnliches Ereignis hatte sie aus den Stuben gelockt.
Er war ohne Schirm und naß bis auf die Haut. Auch unterm Tor standen Menschen, Bewohner des Hauses. Sie flüsterten aufgeregt. Ihn gewahrend, schwiegen sie, wichen zur Seite und ließen ihn passieren.
Ihre Gesichter flößten ihm Schrecken ein. Er schaute sie an. Sie schwiegen. Der Schrecken legte sich, ein Stück Eis, auf seine Brust.
Er ging weiter. Er wollte in Karens Wohnung hinauf, besann sich aber vor der Treppe und lenkte seine Schritte zum Hof. Er wünschte in seinem Zimmer eine Weile allein zu sein. Einige Leute folgten ihm, darunter die Frau des Gisevius und deren Sohn, ein junger Mensch mit dem stark ausgeprägten Klassenbewußtsein des organisierten Arbeiters im Wesen.
Christian bemerkte nicht einmal, daß die Fenster seiner Stube erleuchtet waren. Er schob sich an der Mauer hin, naß am Leibe. Die Tür öffnend, sah er Johanna und den Knaben. Er erkannte Michael Hofmann noch nicht, da er abgewandt von ihm saß. Johanna nickte er überrascht zu. Der funkelnd gespannte Blick, den sie auf ihn heftete, machte ihn stutzig. Zum Tisch tretend, erkannte er Michael Hofmann. Er wurde bleich und mußte sich an der Kante festhalten.
Die Tür war noch offen, und im trüben Licht der Flurlampe drängten sich vor der Schwelle die fünf oder sechs Menschen, die ihm gefolgt waren, nicht in aufdringlicher Absicht, sondern weil sie von Gerüchten beunruhigt waren und erwarteten, daß er ihnen Auskunft geben könne.
Christian legte dem Knaben die Hand auf die Schulter. »Wo warst du, Michael?« fragte er; »wo kommst du her?«
Der Knabe verharrte in lautloser Starrheit.
»Wo ist Ruth?« fragte Christian mit einer gewaltsamen Anstrengung.
Da erhob sich Michael. Seine Augen waren unnatürlich weit aufgerissen. Er machte mit beiden Armen eine ausholende, deutende Bewegung. Das Entsetzen schüttelte ihn dermaßen, daß ein gurgelnder Ton, der aus seiner Kehle drang, wie bei Schlingbeschwerden, erstickt wurde. Plötzlich wankte er, taumelte und fiel um wie ein Stück Holz. Er lag auf dem Boden.
Christian kniete nieder. Er umfing ihn. Er hob ihn mit den Armen ein wenig empor; er schloß die kotbedeckte, von Zittern durchschüttelte Gestalt dicht in seine Arme; er beugte das Gesicht herab und erfuhr Unerhörtes aus dem flehend, grausend, durch finstere Tiefen zu ihm herauflangenden Blick. Er preßte den Körper Michaels inbrünstig an den seinen, der naß war und dessen Nässe er nicht mehr spürte; er riß ihn zu sich; er riß ihn in sich hinein, als wäre seine Brust ein Behälter und ein Schutz, und der Knabe umklammerte nun auch ihn mit den Armen, seine kataleptische Erstarrung lockerte sich; ein furchtbares, dem Heulen in einem unterirdischen Rohr ähnliches Schluchzen brach aus dem zu einem Skelett abgemagerten Leibe.
Er mußte wissen. So zerstört werden konnte nur ein Mensch, der Wissen hatte.
Und Christian küßte das steinbleiche, schmutzige, tränenüberströmte Gesicht.
Johanna sah es; auch die schüchtern vor der Tür stehenden Leute sahen es.