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Ob er wohl kommt? dachte Christian. In leicht umdüsterter Spannung verflossen ihm zwei Tage.
Er hatte nach Waldleiningen gewollt, um nach seinen Pferden zu sehen. Manchmal waren ihm ihre feurigen und frommen Augen gegenwärtig, ihre samtene Haut, die reizvolle Nervosität, mit der sie zwischen Gelassenheit und Unruhe vibrierten. Der moschusartige Geruch der Ställe lockte ihn sinnlich.
Das schottische Vollblut, das er von Sir Denis Lay gekauft, sollte bei den Frühjahrsrennen laufen. Man benachrichtigte ihn, das edle Tier falle seit einigen Wochen ab. Ihm schien, es entbehre seine zärtliche Hand. Trotzdem fuhr er nicht nach Waldleiningen.
Am dritten Tag ließ Amadeus Voß durch den Obergärtner fragen, ob er Christian gegen Abend besuchen könne. Da ging Christian am Nachmittag ins Försterhaus hinunter, um die vierte Stunde etwa, und klopfte bei der Wohnung der Witwe Voß an.
Mißtrauisches Erstaunen lag in Vossens Blick. Mit dem Instinkt der unterdrückten Klasse spürte er, daß Christian ihn von seinem Haus fernhalten wollte. Aber Christian war sich über seinen Beweggrund nicht so sehr im klaren, wie Amadeus Voß argwöhnte. Christian witterte Gefahr, sie zog ihn magisch an, und ihr entgegenzugehen, trieb es ihn halb unbewußt.
In dem schmucklosen, aber sauberen und wohlgeordneten Raum sich umschauend, sah Christian an der getünchten Wand über dem Bette mehrere Zettel angeklebt, auf denen, in großen Buchstaben geschrieben, Sprüche aus der Bibel standen. So dieser: »Er ward gequält und mißhandelt, doch tat er seinen Mund nicht auf, dem Lamm gleich, das man zur Schlachtbank führt; und wie das Schaf verstummt vor seinem Scherer, so tat er den Mund nicht auf.« Und der: »Es kommt der Tag der Angst und des Zertretens und der Verwirrung vor dem Herrn, dem Weltenherrscher, im Schautale; man zerstört die Mauern, daß das Getöse bis zum Gebirg hin schallt.« Und dieser: »So sprach der Herr zu mir: Geh und stell einen Wächter aus, der sehe und anzeige. Und ich rief wie ein Löwe auf seiner Wache: Herr, ich stand den ganzen Tag da, auf meiner Wache war ich die ganze Nacht. Und der Herr sprach: Nur noch ein Jahr, wie die Jahre eines Taglöhners, so wird ein Ende haben Kedars Herrlichkeit.« Ferner der: »O daß du kalt oder warm wärest! So aber, da du lau und weder warm noch kalt bist, werde ich dich aus meinem Munde speien. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist zu ihm spricht.«
Christian heftete einen langen Blick voll Neugier auf Amadeus Voß. »Sie sind fromm?« fragte er mit Vorsicht in der Stimme und nicht ganz ohne die spöttische Regung, die der Weltmann bei diesem Begriff empfindet.
»Antwort ich nein oder ja, es würde Ihnen gleich wenig bedeuten,« versetzte Voß stirnrunzelnd. »Sind Sie gekommen, um mich auszuholen? Was soll die Frage? Haben wir etwas miteinander gemein, was in dem Wort verschlossen wäre? Amadeus Voß und Christian Wahnschaffe, das sind Polaritäten. Welches Gleichnis wär imstande, unsre Unterschiede zu malen? Meine Jugend, Ihre Jugend! Daß das auf derselben Erde möglich ist!«
»War denn Ihre Jugend besonders hart?« fragte Christian naiv.
Voß lachte kurz und maß Christian von der Seite. »Wissen Sie, was Kosttage sind? Nein; natürlich nicht. Man bekommt seine Mahlzeiten bei fremden Leuten, die einen aus Gutherzigkeit füttern. Jeden Tag der Woche bei einer andern Familie, jede Woche die Reihe um. Dafür hat man sich fügsam zu erweisen und muß bescheiden sein. Selbst wenn einen vor einer Speise ekelt, muß man so tun, als wärens Leckerbissen. Lacht der Großvater, muß man mitlachen, macht der Onkel einen Witz, muß man grinsen, ist die Tochter des Hauses unverschämt, muß man schweigen. Jeder Gruß, der erwidert wird, ist Gnade; der abgetragene Mantel mit zerschlissenem Futter, den man zu Beginn des Winters geschenkt kriegt, verpflichtet zu ewiger Dankbarkeit. Man kennt alle schlechten Launen von allen, die am Tische sitzen, alle schäbigen Gesinnungen, alle Phrasen und heuchlerischen Mienen und muß sich für die bestimmte Stunde eines jeden Tages eine bestimmte Art von Verstellung zurechtlegen. Das sind Kosttage.«
Er erhob sich, ging auf und ab und setzte sich wieder. »Der Teufel ist mir frühzeitig erschienen,« sagte er dumpf; »vielleicht hab ich ein gewisses Kindheitserlebnis schwerer genommen als andre, vielleicht hat es mich tiefer vergiftet. Man kann es nicht vergessen, es gräbt sich ein, wenn der betrunkene Vater die Mutter schlägt. Jeden Sonnabend, so regelmäßig wie das Amen im Gebet. Man kann das Bild nicht aus dem Hirn radieren.«
Christian verwandte keinen Blick von Amadeus' Gesicht.
Mit leiser Stimme und starrem Blick erzählte Voß: »In einer Nacht, vor Ostern, ich war etwa acht Jahre alt, schlug er sie wieder. Ich stürzte in den Hof und schrie den Nachbar um Hilfe an. Da sah ich am Fenster, dort an diesem Fenster, meine Mutter stehen und verzweifelt die Hände ringen. Sie war nackt.« Noch leiser, kaum hörbar, fügte er hinzu: »Wer darf die eigne Mutter nackend sehen?«
Wieder stand er auf und ging umher. Er war so voll von sich selbst und seinen Dingen, daß er auch nur mit sich selber sprach. »Zweierlei hat mir schon als Kind zu denken gegeben,« fuhr er fort. »Erstens die vielen armen Leute, die wegen unbedeutender Holzdiebstähle von meinem Vater angezeigt wurden und dann ins Gefängnis kamen. Oft hörte ich, wie ein altes Weiblein oder ein verschmierter, verhungerter Bub um Erbarmen bettelte. Es gab aber kein Erbarmen. Natürlich, er war Förster, er mußte so verfahren. Zweitens die vielen reichen Leute, die gerade hier in der Gegend leben, auf Schlössern und Gütern und Jagden, und denen nichts verwehrt ist, wozu Gelüst und Übermut sie treibt. Dazwischen steht man wie zwischen zwei Walzen, die einen mit der Zeit zermalmen müssen.«
Er schaute eine Weile leer vor sich hin. »Was halten Sie von einem Denunzianten?« fragte er plötzlich.
»Nichts Gutes,« antwortete Christian gezwungen lächelnd.
»Hören Sie zu: Im Seminar hatte ich einen Kollegen namens Dippel. Es war ein mäßig begabter, aber anständiger und pflichteifriger Mensch. Sein Vater war Bahnwärter, also einer von den ganz Armen, und der Sohn war sein Stolz und seine einzige Hoffnung. Nun war Dippel mit einem akademischen Maler bekannt geworden, und als er eines Tages in dessen Wohnung kam, entdeckte er ein Album mit weiblichen Aktphotographien. Er sah sie an und immer wieder an und bat schließlich den Maler, er möge ihm das Album leihen. Dippel lag in meinem Schlafsaal; ich war Stubenältester und merkte bald die lüsterne Aufregung und das Getue um Dippel herum, denn er hatte sich einigen andern anvertraut. Es war wie eine brandige Wunde. Ich ging der Sache nach, und sie mußten mir das Machwerk ausliefern, da half nichts. Ich machte die Meldung, Dippel wurde vorgenommen, peinlich verhört und mit Schimpf und Schande davongejagt. Am nächsten Tag fanden wir ihn an einem Apfelbaum im Garten erhängt.«
Christians Gesicht überzog sich mit Röte. Abstoßender als die Erzählung selbst war der Ton von Gleichmut, mit dem sie vorgetragen wurde.
Amadeus Voß fuhr fort: »Sie finden es niederträchtig, was ich da getan habe. Aber nach den Grundsätzen, die man uns eingeprägt hatte, war es meine Schuldigkeit. Ich war sechzehn Jahre alt. Ich stak in einem finstern Loch. Ich wollte hinauf, hinaus. Mir geschah wie einem, der in einem Menschengedränge gequetscht wird und nicht sehen kann, was es draußen irgendwo zu sehen gibt. Eine qualmige Ungeduld war in mir; Platz, Platz, schrie es in mir. So mags denen zumute sein, die auf der ewig finstern Hälfte des Mondes wohnen. Ich hatte Furcht vor der Macht des Bösen. Alles, was ich von Menschen erfuhr, war mehr oder weniger böse. In meiner Brust schwankten die Wagschalen; da gibt es Stunden, wo man ebensogut morden wie am Kreuz sterben könnte. Es war Welt, nach der ich verlangte. Ich habe viel gebetet in jener Zeit, viel in frommen Schriften gelesen, strenge Bußübungen abgehalten. Spät nachts, wenn alles schlief, fand mich unser Pater noch mit dem Zilizium um den Leib in Andacht versunken. In der Messe und beim Chorgesang durchströmte mich eine Inbrunst, beispiellos. Aber dann waren einmal die Straßen der Stadt beflaggt, oder ich sah geschmückte Weiber, oder ich stand am Bahnhof, und ein Luxuszug hielt und verhöhnte mich. Oder ich sah einen Menschen, der sich aus dem Fenster gestürzt hatte, mit verspritztem Gehirn liegen, da rief es: Bruder, Bruder; da stand der Böse auf, der Leibhaftige, und ich wollte ihn fassen. Ja, leibhaftig ist das Übel und bloß das Übel; die Ungerechtigkeit, die Dummheit, die Lüge, alles, wovor einem graut bis in die Nieren, und was man selber werden muß, wenn man nicht mit dem silbernen Löffel im Mund geboren ist. Um mich in ein Stück Licht zu retten, lernte ich die Orgel spielen. Aber es fruchtete wenig. Was macht das aus, Orgelspiel? Was sind Gedichte und schöne Bilder und schöne Bauten und philosophische Werke und die ganze verzierte Welt da draußen? Ich kann zu mir nicht kommen. Zwischen mir und mir ist etwas, ja, was ist es? Eine Wand aus glühendem Glas ist es. Manche sind verflucht von Anfang an. Frag ich mich: was müßte denn geschehen, damit der Fluch nicht mehr wirkt? so heißt die Antwort: Ungeheuerliches müßte geschehen, Ungeheuerliches. So stehen die Dinge.«
»Wie denn Ungeheuerliches, was meinen Sie damit?« fragte Christian betroffen.
»Man müßte einen Menschen erleben,« antwortete Amadeus Voß, »einen Menschen.« In der hereinsinkenden Dämmerung nahm sich sein Gesicht steinfahl aus. Es war ein wohlgebildetes Gesicht, lang, schmal, geistig, leidenschaftlich leidend. Die Gläser der Brille funkelten im letzten Tageslicht, und auf den weißlichen Haaren war ein Schimmer wie auf Geschmeide.
»Werden Sie im Dorf hier bleiben?« erkundigte sich Christian, nicht aus Wißbegier, sondern aus Not; das Schweigen war ziemlich quälend; »Sie waren bei Geheimrat Ribbeck, kehren Sie nicht zurück zu ihm?«
Voß zuckte zusammen. »Zurück? Da ist kein Zurück,« murmelte er. »Kennen Sie den Geheimrat? Nun, ich kenne ihn selber kaum. Ich habe ihn bloß zweimal gesehen. Das erstemal, als er ins Seminar kam, um mich für seine Knaben zu engagieren. Wenn ich an ihn denke, habe ich ein Bild von etwas Fettem und Gefrorenem. Die Wahl fiel gleich auf mich; ich stand bei meinen Oberen hoch in Gunst, und man wollte mir die Wege ebnen. Ja, und das zweitemal sah ich ihn, als er in einer Nacht im Dezember mit einem Polizeikommissar auf Halbertsroda erschien, um mich an die Luft zu befördern. Sehen Sie mich nicht so erschrocken an, es hatte keine Folgen weiter, man hat sich gehütet.«
Er verstummte. Christian erhob sich. Voß forderte ihn nicht zu längerem Verweilen auf; er begleitete ihn bis an die Tür. Dort sagte er mit veränderter Stimme: »Was sind Sie denn eigentlich für ein Mensch? Sie sitzen vor einem und schweigen, und man spricht und macht Geständnisse. Wie geht das zu?«
»Wenn Sie bereuen, will ich alles vergessen haben,« antwortete Christian in seiner schmiegsamen und höflichen Weise, die immer etwas Zweideutiges hatte.
Voß ließ den Kopf sinken. »Kommen Sie doch wieder herein, wenn Sie vorübergehen,« bat er leise. »Vielleicht erzähl ich Ihnen dann,« er wies mit dem Daumen über die Schulter, »erzähl Ihnen von dort.«
»Ich werde kommen,« sagte Christian.
Albrecht Wahnschaffe ging ins Schlafgemach seiner Frau, die zu Bette lag. Es war ein mächtiges Himmelbett mit gedrehten Holzsäulen; zu beiden Seiten an der Wand hingen kostbare Gobelins, welche mythologische Szenen darstellten. Eine Decke aus blauem Damast verhüllte Frau Richbertas majestätische Gestalt.
Herr Wahnschaffe küßte galant die Hand, die sie ihm mit müder Gebärde hinstreckte und ließ sich in einen Sessel gleiten. »Ich muß mit dir über Christian sprechen,« begann er, »sein Treiben beunruhigt mich seit einiger Zeit. Es ist des Planlosen zuviel. Jetzt wieder dieser Kauf des Diamanten. Dergleichen wirkt herausfordernd. Ich bin verstimmt darüber.«
Frau Richberta verzog die Stirn und erwiderte: »Ich sehe durchaus keinen Grund zur Beunruhigung. Es gibt viele Söhne aus reichem Hause, die ihr Leben in derselben Weise verbringen wie Christian. Sie gleichen edlen Pflanzen, die dem Schmuck dienen. Sie bezeugen, meiner Ansicht nach, den Hochstand einer Entwicklung; sie betrachten sich selbst als Ausgezeichnete, und das mit vollem Recht. Sie sind durch Geburt und Vermögen der Mühe des Berufs enthoben. Ihr Wesen ist aristokratische Unberührtheit und Distanz.«
Albrecht Wahnschaffe beugte sich vor, und mit seinen schlanken, weißen Fingern spielend, denen kein Alter anhaftete, sagte er: »Verzeih, ich bin nicht ganz deiner Meinung. Ich bin der Meinung, daß innerhalb der sozialen Welt jeder einzelne eine Funktion zu übernehmen hat, durch die er der Gesamtheit nützt. In dieser Anschauung bin ich erzogen, und es ist mir unmöglich, sie zugunsten Christians zu verleugnen. Die Leichtherzigkeit in seiner Geldgebarung würde ich hinnehmen, obschon der Verbrauch der letzten Monate das ihm zugemessene Budget um ein Erkleckliches übersteigt. Ich notiere es; das Haus Wahnschaffe wird durch derartige Kapriolen nicht aus dem Gleichgewicht gebracht. Was mich stutzig macht, ist die Mittelpunktslosigkeit dieses Daseins und hauptsächlich der kundgegebene Mangel jedes Ehrgeizes.«
Frau Richberta sah den Gatten unter schlaff gesenkten Lidern hervor kühl an. Es erregte ihren Groll, daß er Christian, den zur Rast, zum Spiel, zur Lust und zur Schönheit Geschaffenen, in seine wirbelnden Kreise ziehen wollte, und sie antwortete ungeduldig: »Hast du ihn bis jetzt gewähren lassen, so sieh auch weiter zu. Alle müssen nicht schwitzen. Es ist so unappetitlich, das Tun und die Geschäfte. Ich habe dir zwei Söhne geboren, einen für dich, einen für mich. Von deinem kannst du fordern, was du magst, und er soll erfüllen, was er kann. An meinen will ich nur denken und mich freuen, daß er da ist. Wenn mich etwas besorgt macht, ist es der Umstand, daß sich Christian seit seiner englischen Reise mehr und mehr von uns zurückzieht. Von uns und, wie ich höre, auch von allen Freunden. Ich hoffe, daß es keine Bedeutung hat. Vielleicht steckt eine Frau dahinter, und das geht ja vorüber. Tragödien sind in dieser Beziehung nicht sein Fall. Aber das Sprechen greift mich an, Albrecht. Wenn du noch Argumente vorbringen willst, tu es bitte ein andermal.«
Sie wandte den Kopf und schloß erschöpft die Augen. Albrecht Wahnschaffe erhob sich, küßte mit derselben galanten Bewegung wie beim Beginn des Gesprächs ihre Hand und ging.
Ich habe dir zwei Söhne geboren, einen für dich, einen für mich; dieses Wort erbitterte ihn gegen die Frau, die ihm sonst unantastbar war wie ein höheres Element. Warum habe ich dies alles aufgebaut? fragte er sich, als er langsam die prachtvollen Räume durchmaß.
Es war schwer für ihn, sich Christian zu nähern, schwerer als einem Minister oder einem umworbenen Fremdling. Er konnte sich zwischen Bitte und Befehl nicht entscheiden. Der Autorität war er nicht sicher, des freundschaftlichen Einverständnisses noch weniger. Aber in den Tagen, wo er sich in das Würzburger Stammhaus begab, um Ruhe und Erholung zu suchen, schickte er eine Botschaft an Christian und bat ihn zu einer Unterredung.
Crammon schrieb an Christian:
Ehrenvoller! Allergeschätztester! Mit hoher Genugtuung vernehme ich, daß Ew. Liebden sich reuig zum Gotte Dionysos bekehrt und zum Zeichen davon an seinem Altare einen Edelstein niedergelegt haben, dessen Preis den Philistern im Lande Zähneklappern erregt und ihre lahme Verdauung unwillkommen befördert. Der treulich Unterfertigte hingegen hat bei der guten Kunde in seiner einsamen Kemenate einen heidnischen Freudentanz vollführt, indes seine bestürzten Palastdamen bereits telephonische Gespräche mit Psychiatern einleiteten. So ist die Welt, des Verständnisses bar, großer Betrachtung nicht fähig.
Meine Tage sind unhold. Ich bin in amouröse Geschehnisse verstrickt, die mich nicht vergnügen und die auf der Gegenseite Beteiligten enttäuschen. Bisweilen sitze ich an meinem lieblichen Kaminfeuer und lese mit geschlossenen Augen im Buche der Erinnerung. Eine Flasche goldgelben Kognaks leistet mir Gesellschaft, und während ich mein Herz mit künstlicher Wärme nähre, versinken die oberen Regionen in das kalte Mysterium des Stumpfsinns. Meine Geisteskräfte bewegen sich in absteigender Linie; meine Mannheit läßt zu wünschen übrig. Vor Jahren kannte ich in Paris einen Schachspieler, einen blöden alten Deutschen, der mit jedem Partner verlor und nach jeder verlorenen Partie wehklagend ausrief, so daß das ganze Cafe de la Regence es hören konnte: Wo sind die Zeiten, da ich Zuckertorten schlug; Zuckertort, will ich dir erklären, war ein berühmter Meister auf Caissas Feldern. Die Nutzanwendung setzt mich in Verlegenheit. Es gab einen römischen Kaiser, der in einer einzigen Nacht hundertvierzig germanische Jungfrauen um etwas ärmer gemacht hat, was ihn selbst schwerlich bereichert hat. Ich glaube, Maxentius hieß der Mann. Soll ich sagen: Wo sind die Zeiten, da ich Maxentiussen schlug –? Es wäre verworfene Prahlerei.
Schade, daß du nicht Zuschauer sein kannst, wenn ich mich des Morgens vom Lager erhebe. Würde dieses Schauspiel einmal von Sachverständigen geprüft und von Laien genossen, man würde sich dazu drängen wie weiland zu den Levers der Könige Frankreichs. Der Adel des Landes würde mir seine Reverenz erweisen, und schöne Damen würden mich kitzeln, damit ein Strahl der Heiterkeit in mein Antlitz käme. Du jugendgesegneter Freund und Gespiele meiner Träume, wisse also: die Augenblicke, in denen man das von der eignen Leiblichkeit angenehm durchwärmte Linnen verläßt, um zehn oder elf Stunden lang Unfug zu treiben, sind von nicht zu überbietender Kläglichkeit. Ich sitze an Bettes Rand und beschaue meine Dessous mit innerlich lärmender Wut. Ich sammle traurig die Reste meines Ichs und knüpfe dort den Faden wieder an, wo ihn Morpheus gestern abgeschnitten hat. Meine Seele ist ringsherum verstreut und rollt in Kügelchen davon wie das Quecksilber aus einem zerbrochenen Thermometer. Erst die Opferdämpfe aus dem Teekessel, der Duft von Schinken und einer schlüsselblumenfarbigen Eierspeise geben mich der Erde zurück, und sanfte Worte, ausgesprochen von den sanften Lippen der besorgten Hausverwalterinnen, versöhnen mich wieder mit meinem Schicksal.
Der alte Regamey ist gestorben. Den Grafen Sinsheim hat der Schlag gerührt. Meine Freundin Lady Constance Canningham, eine Dame der höchsten Aristokratie, hat einen amerikanischen Dollarnobody geheiratet. Die Besten gehn dahin, der Baum des Lebens blättert ab. Auf der Reise hierher habe ich mich in München aufgehalten und war drei Tage Gast des jungen Imhofschen Ehepaares. Deine Schwester Judith macht Figur. Sie wird von den Malern gemalt, von den Bildhauern gemeißelt und von den Dichtern besungen. Jedoch ihre Ambitionen fliegen höher; sie wünscht sich brennend für ihre Wäsche, die Livree und die vier Autos eine kleine neunzackige Krone und liebäugelt mit allem, was vom Hofe kommt und zu Hofe geht. Der gute Felix hinwiederum, Demokrat, der er ist, umgibt sich mit Unternehmern, Spekulanten, Polarforschern, Afrikareisenden und Schöngeistern beiderlei Geschlechts, und so ist das Haus ein Gemisch von Guildhall, Effektenbörse, Rabulistenversammlung und Jockeiklub. Nachdem ich eines Abends solches eine Weile mit angesehen, zog ich mir ein hübsches Kind in eine schummerige Ecke und bat sie, mir den Puls zu fühlen. Es geschah, und mein leidendes Gemüt ward beschwichtigt.
Von unserem süßen Ariel höre ich, daß er in Warschau die Polen und in Moskau die Moskowiter in Champagnerstimmung versetzt. In letzterer Stadt sollen ihr die Studenten einen Fackelzug gebracht und die Offiziere die Straße von ihrer Wohnung ins Theater trotz Eis und Schnee mit Zentifolien gepflastert haben. Auch heißt es, daß der Großfürst Kyrill Alexandrowitsch, der Menschenschlächter, wie ihn viele dort nennen, aus Liebe zu ihr halb toll geworden ist und das Unterste zu oberst kehrt, um ihrer habhaft zu werden. Wie ruft doch die Königin im Hamlet: ›O halt ein, halt ein! Verrat nur könnte solche Liebe sein.‹ In unergründlicher Wehmut denk ichs, o Ariel, daß auch mich dein Atem einst gestreift hat. Nicht mehr als dies, aber es genügt. Le moulin n'y est plus, mais le vent y est encore.
Und hiemit, Herzensbruder und harmvoll Entbehrter, Gott befohlen und gib einmal ein Lebenszeichen deinem sehnsüchtigen Bernhard Gervasius C. v. W.
Christian legte den Brief, als er ihn gelesen hatte, lächelnd beiseite.
Auf dem Hügelrücken über dem Dorf begegneten Christian und Amadeus Voß einander unversehens.
»Die ganze Woche hab ich auf Sie gewartet,« sagte Voß.
»Ich wäre heute zu Ihnen gekommen,« antwortete Christian. »Wollen Sie mich ein Stück begleiten?«
Amadeus Voß kehrte um und ging mit Christian. Sie stiegen zur Höhe hinan und wandten sich dann gegen den Wald. Schweigend gingen sie Seite an Seite. Die Sonne schien durchs Gezweig, alles war überronnen, Schneereste lagen auf dürrem Laub, der Boden war schlüpfrig, auf der Fahrstraße floß das Wasser in tiefen Gleisen. Als sie den Wald verließen, sahen sie die Sonne untergehen, der Himmel war grün und rosa, und als sie zu den ersten Häusern von Heftrich kamen, dämmerte es schon. Sie hatten auf dem ganzen Weg keine Silbe miteinander gesprochen. Anfangs hatten Vossens Schritte wider die Christians getrotzt; er hatte nicht so lange Beine und mußte von Zeit zu Zeit ausholen; später hatte sich ein Rhythmus eingestellt, der wie ein Vorklang von Gesprächen war.
»Ich habe Hunger,« sagte Amadeus Voß, »dort drüben ist ein Wirtshaus, gehen wir hin.«
Sie betraten die Wirtsstube, die leer war. Sie setzten sich an den Tisch zum Ofen, denn draußen war es wieder kalt geworden. Ein Mädchen zündete die Lampe an und brachte, was sie bestellten. Christian, in einer Furcht, die ihn überfiel und die Neugier vertrieb, dachte: was wird nun kommen, und schaute Voß aufmerksam an.
»Neulich hab ich in einem alten Buch eine moralische Geschichte gelesen,« sagte Amadeus Voß; er stocherte sich mit einem zugespitzten Streichholz die Zähne, was Christian bis zum Zittern nervös machte; »ein König sieht, daß in seinem Reiche die Menschen und Zustände immer schlechter werden, da fragt er vier Philosophen um den Grund. Die Philosophen beratschlagen, gehen zu den vier Toren der Stadt, und an jedes Tor schrieb einer von ihnen die Ursachen hin. Der erste schrieb: Macht ist hier Recht, deshalb hat das Land kein Gesetz; Tag ist Nacht, darum hat das Land keine Straße; Flucht ist der Kampf, darum ist keine Ehre im Lande. Der zweite schrieb: Eins ist zwei, darum hat das Land keine Wahrheit; Freund ist Feind, deshalb fehlt dem Land die Treue; schlecht ist gut, deshalb gibt es keine Frömmigkeit. Der dritte schrieb: Die Schnecke will ein Adler sein, und Diebe haben die Gewalt. Der vierte schrieb: Der Wille ist unser Ratgeber; er rät übel. Der Heller fällt das Urteil, daher wird schlimm regiert. Gott ist tot, darum ist das Land mit Sünden angefüllt.«
Er warf das Streichholz fort und stützte den Kopf in die Hand. »In demselben Buch steht noch eine andre Geschichte,« fuhr er fort, »vielleicht spüren Sie einen Zusammenhang. In der Mitte von Rom öffnete sich eines Tags die Erde, und ein gähnender Schlund entstand. Als die Götter befragt wurden, antworteten sie: dieser Schlund wird sich erst schließen, wenn jemand freiwillig hineingesprungen ist. Keiner konnte dazu beredet werden, endlich aber meldete sich ein Jüngling und sagte: wenn ihr mich ein Jahr lang nach meinem Gefallen leben laßt, so will ich mich, ist das Jahr um, freiwillig und freudig in den Abgrund stürzen. Es wurde beschlossen, daß ihm nichts verboten sein sollte, und er benutzte ihr Eigentum und ihre Weiber nach Gutdünken und in völliger Freiheit. Sie sehnten den Augenblick herbei, wo sie seiner los sein würden, und als das Jahr vorüber war, kam er auf edlem Roß einher und stürzte sich mit einem Sprung in den Abgrund, der sich sogleich hinter ihm schloß.«
Christian zuckte die Achseln. »Was soll das?« fragte er unmutig. »Wollten Sie mir alte Geschichten erzählen? Ich verstehe nichts davon.«
»Sie sind schwerfällig,« erwiderte Voß und lachte leise vor sich hin, »ein schwerfälliger Geist. Haben Sie nie das Bedürfnis gehabt, sich ins Gleichnis zu retten? Das Gleichnis ist eine schmerzstillende Medizin.«
»Ich weiß nicht, was Sie damit meinen,« sagte Christian, und Voß lachte wieder leise.
»Gehen wir,« sagte Christian; er erhob sich.
»Gut, gehen wir,« pflichtete Voß mit verbissener Miene bei. Sie brachen auf.
Die Abendluft war unbewegt, der Himmel von Sternen besät, die kalt glänzten. Kein Laut störte die Stille, als sie das Dorf im Rücken hatten.
»Wie lange waren Sie im Ribbeckschen Hause?« fragte Christian plötzlich.
»Zehn Monate lang,« antwortete Amadeus Voß; »als ich nach Halbertsroda kam, lag das Land in Eis und Schnee; als ich ging, lag es wieder in Eis und Schnee. Dazwischen war ein Frühling, ein Sommer und ein Herbst.«
Er blieb stehen und schaute einem Tier nach, das in der Dunkelheit über den Pfad sprang und in einer Ackerfurche verschwand. Nun begann er zu sprechen, anfangs stoßweise, trocken, dann lebhaft, stürmisch, schließlich atemlos. Sie gerieten vom Weg ab und merkten es nicht; es wurde spät, sie beachteten es nicht.
Voß erzählte:
»Ich hatte ein ähnliches Haus nie gesehen. Die Teppiche, Bilder, Tapeten, das Silbergeschirr, die zahlreiche Dienerschaft, alles war mir neu. Ich hatte solche Speisen nie gegessen, in solchen Betten nie geschlafen. Ich kam aus vier kahlen Wänden mit einer Bettstatt, einem eisernen Ofen, einem Waschtisch, einem Bücherbrett und einem Kruzifix.
Meine beiden Zöglinge waren elf und dreizehn Jahre alt. Der ältere war blond und hager, der jüngere brünett und untersetzt. Die Haare hingen ihnen wie Mähnen bis auf die Schultern. Sie zeigten mir von der ersten Stunde an einen höhnischen Widerstand. Die Geheimrätin sah ich anfangs gar nicht; erst nach einer Woche ließ sie mich vor sich. Sie machte den Eindruck eines jungen Mädchens. Sie hatte rostrotes Haar und ein bleiches, verschüchtertes, unentwickeltes Gesicht. Sie behandelte mich mit einer Geringschätzung, auf die ich nicht gefaßt war und die mir das Blut in die Schläfen trieb. Ich bekam meine Mahlzeiten besonders, durfte nicht am Tisch essen und wurde von den Dienstleuten wie ihresgleichen behandelt. Das wurmte mich bitter. Wenn die Geheimrätin im Garten war und ich grüßend vorbeiging, dankte sie kaum, ahnungslos und unverschämt in der Verachtung eines Menschen, den sie bezahlte. Ich war Luft für sie.
Das ist geschlechteralt, diese Sünde an meiner Seele. Ihr Sünder an meiner Seele, warum habt ihr mich darben lassen? Warum hab ich entbehren müssen, indes ihr geschwelgt habt? Wie soll denn ein Hungriger die Prüfungen bestehen, die ihm der Verführer auferlegt, der Leibhaftige? Glauben Sie, man spürt es nicht, wenn ihr praßt? Alles Tun, Gutes und Böses, rinnt durch alle Natur. Wenn die Traube auf Madeira wieder blüht, rührt sich weit über Meer und Land der Wein im Fasse, der aus ihr gepreßt worden ist, und es hebt eine neue Gärung an.
Eines Morgens sperrten sich die Knaben in ihrem Zimmer ein und weigerten sich, zum Unterricht zu kommen. Während ich an der Klinke rüttelte, äfften sie mich drinnen. Im Korridor standen die Dienstleute und lachten über meine Ohnmacht. Da ging ich zum Gärtner, holte mir eine Axt und schlug mit drei Hieben die Türfüllung durch. Eine Minute später war ich im Zimmer. Die Burschen sahen mich verdutzt an und merkten endlich. daß mit mir nicht zu spaßen war. Der Lärm hatte die Geheimrätin herbeigelockt. Sie schaut die zerbrochene Tür an, sie schaut mich an; den Blick werd ich nie vergessen. Sie ließ mich nicht aus den Augen, auch während sie mit ihren Kindern sprach, mindestens zehn Minuten lang. Was wagst du? wer bist du? fragte der Blick. Als sie hinausging, gewahrte sie das Beil an der Tür, hielt einen Moment inne, und ich sah sie frösteln. Da wußte ich: der Wetterhahn hat sich gedreht. Aber es kam mir auch zum Bewußtsein, daß ein Weib vor mir gestanden war.
Die Neckereien meiner Zöglinge hatten damit kein Ende. Im Gegenteil, sie taten mir zuleide, was sie konnten. Nur verfuhren sie heimlich und waren nicht zu fassen. Ich fand Steine und Nadeln in meinem Bett, Tintenflecke in meinen Büchern und einen unheilbaren Riß in dem besten Anzug, den ich mitgebracht. Sie machten sich bei andern über mich lustig, verleumdeten mich bei ihrer Mutter und warfen einander infame Blicke zu, wenn ich sie zur Rede stellte. Was sie taten, waren keine gewöhnlichen Streiche dummer Jungen, dazu waren sie viel zu verzärtelt und raffiniert. Sie hüteten sich vor jedem Luftzug, ließen die Räume überheizen, daß einem schwindlig wurde, und dachten ausschließlich an ihr Wohlleben. Einmal rauften sie miteinander, der jüngere biß den Bruder in den Finger. Da legte sich dieser drei Tage lang ins Bett, und der Arzt mußte kommen. Auch hierbei war nicht bloß Wehleidigkeit im Spiel, sondern eine abgründige Bosheit und Rachsucht. Sie betrachteten mich als einen tief unter sich Stehenden und ließen mich bei jeder Gelegenheit meine abhängige Lage fühlen. Schlimm war mir manchmal zumute, aber es war mein Vorsatz, mich in Geduld zu üben.
Eines Abends betrat ich den Salon, es war über die Schlafensstunde hinaus, die ich für die Knaben festgesetzt hatte. Die Geheimrätin saß auf dem Teppich, die Buben kauerten rechts und links von ihr; sie zeigte ihnen Bilder in einem Buch. Ihr Haar war aufgelöst, was ich unpassend fand, und umhüllte in seiner rötlichen Pracht sie mitsamt den Knaben wie ein Brokatmantel. Die Buben fixierten mich mit grünen, bösen Augen. Ich befahl ihnen, sie sollten augenblicklich zu Bett gehen. Es muß etwas in meinem Ton gewesen sein, was sie erschreckte und zum Gehorsam zwang. Ohne Widerrede erhoben sie sich und gingen.
Adeline war auf dem Teppich sitzengeblieben. Ich werde sie einfach Adeline nennen, wie ich es später in unserm Verkehr ja auch tat. Sie schaute mich wieder so an wie bei der Szene mit dem Beil. Man kann nicht bleicher sein, als sie es ohnehin war, aber ihre Haut wurde durchscheinend wie Glimmer. Sie stand auf, ging zum Tisch, nahm einen Gegenstand in die Hand und legte ihn wieder hin. Dabei schwebte ein spöttisches Lächeln auf ihren Lippen. Dieses Lächeln ging mir durch und durch. Überhaupt, die ganze Frau ging mir durch und durch. Sie werden mich mißverstehen; schadet nichts. Verstehen Sie es nicht, so nützen keine Erklärungen. Die Eisdecke über mir brach, und ich konnte sehen, was oberhalb war.«
»Ich glaube, ich verstehe Sie,« sagte Christian.
»Auf meine Frage, ob sie wünsche, daß ich ihr Haus verlassen solle, erwiderte sie frostig, da mich der Geheimrat engagiert, müsse sie sich fügen. Ich hielt ihr entgegen, daß ich unter dem Druck ihrer Abneigung Ersprießliches nicht zu leisten vermöge. Mit einem Seitenblick antwortete sie, es ließe sich wohl eine Manier finden, wie man zusammen wirken könne, und sie wolle darüber nachdenken. Seit diesem Abend aß ich am Tisch mit ihr und den Knaben, und sie behandelte mich, wenn auch nicht freundlich, so doch mit Achtung. Eines Abends, spät schon, ließ sie mich rufen und bat mich, ihr etwas vorzulesen. Sie reichte mir das Buch, aus dem ich lesen sollte. Es war irgendein Moderoman, und nachdem ich ein paar Seiten gelesen hatte, warf ich das Buch auf den Tisch und sagte, mir werde übel von solchem Zeug. Sie nickte und antwortete, ich spräche nur eine Empfindung aus, die sie sich nicht habe eingestehen wollen, und sie danke mir für meine Offenheit. Da holte ich meine Bibel und las ihr aus dem Buch der Richter die Geschichte Simsons vor. Ich muß ihr naiv erschienen sein, denn als ich fertig war, lächelte sie wieder spöttisch vor sich hin. Dann fragte sie mich: ›Meinen Sie nicht, daß man gar kein Held in Juda zu sein braucht, um Simsons Schicksal zu teilen? Oder daß es ein besonderes Kunststück ist, zu vollbringen, was Delila vollbracht hat?‹ Darauf sagte ich, mir fehle die Erfahrung in solchen Dingen, und sie lachte.
Ein Wort gab das andere, und ich kam endlich dahin, daß ich ihr die Verwahrlosung ihrer Kinder vorwarf, die Niedrigkeit und das Verletzende alles dessen, was ich bis jetzt in dem Hause gesehen und erlebt. Ich wählte absichtlich die schärfsten Worte und erwartete, daß sie zornig aufbrausen und mir die Tür weisen würde, aber sie blieb ruhig und ersuchte mich, ihr meine Ideen zu entwickeln. Das tat ich nun mit vielem Feuer, und sie hörte mir wohlgefällig zu. Ein paarmal sah ich sie aufatmen und sich ein wenig recken und die Augen schließen. Sie stritt mit mir, sie stimmte mir zu, verteidigte ihre Position und gab zuletzt alles wieder preis. Ich sagte ihr, die Liebe, die sie für ihre Söhne zu empfinden glaube, sei eigentlich ein Haß und beruhe auf Selbstvergiftung und Blutlüge; in ihrer Seele sei noch ein andres Leben und eine andre Liebe, die lasse sie freventlich verdorren und absterben. Dies muß sie nicht richtig aufgefaßt haben, denn sie schaute mich groß an und gebot mir plötzlich zu gehen. Als ich schon vor der Tür war, hörte ich ein Schluchzen, ich öffnete die Tür wieder und sah, daß sie die Hände vor das Gesicht geschlagen dasaß. Ich wollte zurück zu ihr, aber sie winkte mir heftig ab, und ich ging.
Ich hatte nie vorher eine Frau weinen gesehen, außer meine Mutter. Wie mir zumute war, darüber will ich schweigen. Hätte ich eine Schwester gehabt, wäre ich mit einer Schwester aufgewachsen, so hätte ich vielleicht anders gehandelt und empfunden. So war Adeline das erste Weib, das mir Aug in Auge gegenüberstand.
Ein paar Tage später fragte sie mich, ob ich Hoffnung hätte aus ihren Söhnen Menschen in meinem Verstand zu machen. Sie habe sich alles überlegt, was ich ihr vorgehalten, und sei zu der Einsicht gelangt, daß es so nicht weitergehen könne. Ich antwortete, es sei noch nicht zu spät; darauf sagte sie, ich möge retten, was noch zu retten sei, und um mich in meinem Werk nicht zu behindern, habe sie sich entschlossen, für einige Monate zu verreisen. Am dritten Tag reiste sie weg, ohne Abschied von den Knaben zu nehmen, schrieb ihnen aber dann aus Dresden einen Brief.
Ich zog mit den Knaben auf ein Jagdhaus, das zwei Stunden von Halbertsroda entfernt einsam im Wald lag. Es gehörte zum Ribbeckschen Besitz, und Adeline hatte es mir als Zufluchtsstätte angewiesen. Ich richtete mich mit den Knaben dort ein und nahm sie in Zucht. Mein Vorhaben galt mir als Prüfung meiner Herzens- und Geistesgewalt. Vielleicht griff ich fehl; vielleicht war ich geblendet durch die lange Dunkelheit unter der Eisdecke; vielleicht hat mich selber das Beil verführt. Manchmal ward mir bang, wenn ich der Worte eingedenk war: Warum gehst du beständig zu wechseln deinen Weg? Fürwahr, du wirst von Ägypten getäuscht werden, wie du von Assyrien bist getäuscht worden.
Ein alter tauber Diener kochte für uns, und die leckeren, üppigen Mahlzeiten hörten auf. Sie mußten beten, einmal in der Woche fasten, auf harten Lagerstellen schlafen und des Morgens um fünf Uhr aufstehen. Ich brach ihren Trotz auf alle Weise, ihre dumpfe Trägheit, ihre Lüsternheit, ihre Ränke. Spiele waren nicht erlaubt; der Tag hatte seine eiserne Ordnung. Ich schreckte vor keiner grausamen Maßregel zurück. Ich züchtigte sie. Ich schlug sie bei der geringsten Widersetzlichkeit mit der Peitsche. Ich lehrte sie den Schmerz. Nackt mußten sie vor mir liegen, mit den blutigen Striemen auf der Haut, da sprach ich ihnen vom Martyrium der Heiligen. Ich führte ein Tagebuch, damit Adeline erfahren könne, was geschehen war. Sie fuhren zusammen, wenn sie von weitem meine Stimme hörten; sie zitterten, wenn ich den Kopf erhob. Einmal überraschte ich sie am Abend, als sie beieinander in einem Bette lagen und ganz leise flüsterten. Da riß ich sie aus den Kissen, schreiend flohen sie aus dem Hause vor mir, im Hemde rannten sie in den Wald, ich ihnen nach, zwei Hunde hinter mir, der Regen über und um uns, endlich stürzten sie nieder, umklammerten meine Knie und flehten um Gnade. Am schwersten war es, sie zur Beichte zu bringen; aber ich war stärker als das Böse in ihnen und zwang sie zum Bekenntnis. Es waren schlimme Stunden, die ich nur ertrug, weil ich es Adeline in meinem Innern gelobt hatte.
Sie gingen in sich. Sie wurden zahm und still. Sie krochen in die Winkel und weinten. Als Adeline zurückkehrte, ging ich mit ihnen nach Halbertsroda, und sie war von der Verwandlung betroffen. Die Knaben stürzten ihrer Mutter in die Arme, klagten mich aber nicht an, auch als ich sie mit ihr allein ließ. Ich hatte ihnen gedroht, sobald sie sich aufsässig oder ungehorsam zeigten, müßten sie wieder aufs Jagdhaus. Einen oder zwei Tage der Woche brachten wir ohnehin dort zu. Späterhin mieden sie die Mutter, sowie auch Adeline gegen sie gleichgültiger wurde, da das weichliche, schwüle, überzärtelte Element nicht mehr wirksam war, das sie ehedem zueinander getrieben.
Adeline suchte meine Nähe, mein Gespräch, beobachtete mich, war herablassend, ermüdet, zerstreut und unruhig. Sie schmückte sich wie für Gäste und ließ sich dreimal täglich frisieren. Im übrigen unterwarf sie sich meinen Verfügungen. Es gibt Menschen, abgebrauchte, wurmstichige, schwelende Seelen, die vor dem erhobenen Beil in des andern Arm auf die Knie fallen, während sie nur Spott haben für die, die das Knie vor ihnen beugen. Ich war oft bestürzt von ihrer Vornehmheit und Verschlossenheit, dachte, da ist für dich kein Raum, dann schoß wieder ein Blick aus ihren Augen, der mich vergessen ließ, woher ich kam und was ich vor ihr war. Es schien mir alles möglich bei ihr. Sie konnte in der Nacht das Haus anzünden, weil sie sich darin langweilte und der Fraß an ihrer Lebenswurzel vor keinem edleren Affekt mehr haltmachte, und sie konnte vor dem Spiegel stehen, vom Mittag bis zum Abend, und beobachten, wie eine Furche auf der Stirn sich vertiefte. Alles schien möglich. Steht doch geschrieben: Welcher Mensch weiß, was in dem Menschen ist, als nur der Geist des Menschen, der in ihm ist.
Meine Anfechtungen begannen damit, daß sie eines Abends im Gespräch achtlos ihre Hand auf meine legte und sie hastig zurückzog. Da waren die Dinge, die mir vor Augen lagen, entrückt. Ich war der Knecht von Einbildungen und Begierden geworden in der Zeit von einem Gedanken bis zum andern.
Sie forderte mich auf, ihr von meinem Leben zu erzählen. Ich ließ mich fangen und erzählte.
Einmal begegnete ich ihr im Flur, als es dämmerte; sie blieb stehen und heftete einen durchbohrenden Blick auf mich. Dann lachte sie leise und ging weiter. Ich schwankte; der Schweiß perlte auf meiner Stirn.
Es war mir schwer im Herzen, wenn ich allein war. Gestalten waren da, die das Zimmer in Flammen setzten. Mein Gebetbuch, mein Rosenkranz wurden vor mir verborgen, und ich fand sie nicht. Immerfort schrie es in mir: Einmal nur! Einmal nur genießen! Einmal nur! Aber dann erschienen die Dämonen und mißhandelten mich; alle Muskeln, Adern und Nerven an meinem Leibe wurden zerfetzt. Tut an mir, was euch Gott gestattet, sagte ich, denn mein Herz ist bereit. Während des Schlafs schleuderte es mich aus meinem Bett, und bewußtlos stieß ich meinen Kopf gegen die Wände. Acht Tage fastete ich bei Brot und Wasser, aber es half nichts. Einmal hatte ich mich niedergesetzt, um zu lesen, da stand ein riesiger Affe neben mir und blätterte in dem Buch, in dem ich las. Jede Nacht hatte ich eine verführerische Vision von Adeline; sie trat an mein Lager und sagte: Geliebter, ich bin's. Dann stand ich auf und rannte sinnlos umher. Aber sie folgte mir und flüsterte mir zu: Ich will dich zum Herrn machen, und du sollst Geld in Hülle und Fülle haben. Wenn ich sie jedoch anfaßte, zeigte sie mir ihren Widerwillen, und es kamen schwebende Schatten, die sie zum Beistand aufgerufen, ein Notar mit Feder und Schreibzeug, ein Schlosser mit glühendem Hammer, ein Maurer mit der Kelle, ein Offizier mit blanker Klinge, eine Frau mit geschminktem Gesicht.
So übel war es mit mir bestellt, daß ich das furchtbare Wirkliche, das sich indessen begab, erst nach und nach begriff. Eines Morgens kam Adeline in das Zimmer, wo ich die Knaben unterrichtete, setzte sich an den Tisch und hörte zu. Dabei zog sie einen Ring mit einer schönen, großen Perle vom Finger, spielte sinnend mit ihm, stand auf, trat zum Fenster, sah dem Schneefall draußen zu und verließ dann das Zimmer wieder, um in den Garten zu gehen. Ich konnte nicht mehr atmen, nicht mehr sehen, ein unerträglicher Druck war auf meiner Brust, und ich mußte für eine Weile hinaus und Luft schöpfen. Als ich zurückkehrte, sah ich in den Augen meiner Zöglinge einen besonders bösartigen Ausdruck; ich achtete nicht darauf; von Zeit zu Zeit bäumten sie sich auf gegen ihren Meister, aber ich kümmerte mich nicht darum. In geduckter Haltung saßen sie da, ich fragte ihnen den Katechismus ab, und sie antworteten hauchend und mit Blicken voller Furcht. Es mochten zehn Minuten verflossen sein, da kam Adeline, sagte, sie habe den Ring liegen lassen, ob ich ihn nicht gesehen habe. Ich verneinte. Darauf begann sie zu suchen, ich suchte ebenfalls, sie rief die Zofe und den Diener, die das ganze Zimmer durchstöberten, aber der Ring war verschwunden. Adeline und ihre Leute musterten mich verwundert, denn ich stand und konnte mich nicht rühren. Ich spürte sofort in allen Fibern, daß ich dem Verdacht ausgesetzt war. Sie suchten im Flur und auf den Stiegen, dann im Garten auf dem frischgefallenen Schnee, schließlich wieder im Zimmer, da Adeline bestimmt behauptete, sie habe den Ring abgestreift und auf dem Tisch vergessen, was ich auch bestätigte, obwohl ich ihn nicht auf dem Tisch gesehen und sie und ihr Tun nur wie im Halbschlaf wahrgenommen hatte. Alle Worte, die sie mit den Leuten wechselte, schienen mir gegen mich gerichtet, in den Mienen der Leute glaubte ich Argwohn zu lesen, ich wurde blaß und rot, rief die Knaben, die sich beim Beginn des Alarms entfernt hatten, und forschte sie aus. Sie sagten, man solle in ihrem Zimmer Nachschau halten und sahen mich beide tückisch an. Ich bitte, auch mein Zimmer zu durchsuchen, sagte ich zu Adeline. Sie machte eine abwehrende Handbewegung, dann äußerte sie entschuldigend, der Ring sei ihr besonders wert, sie vermisse ihn ungern. Mittlerweile war der Gutsverwalter eingetreten, der an jenem Tag zufällig auf Halbertsroda übernachtet hatte; er grüßte mich nicht, sondern maß mich schweigend und finster. Da packte es mich; ich sah mich schutzlos dem Argwohn überliefert, und ich sagte zu mir: du hast vielleicht den Ring wirklich gestohlen. Der Sturz von meinem vorigen Seelenzustand in diesen gemeinen und häßlichen war mir so unerwartet, daß ich ein Gelächter ausstieß und nun erst recht darauf bestand, daß man mein Zimmer, meine Sachen und mich selber durchsuche. Der Gutsverwalter sprach leise mit Adeline; sie blickte ihn entgeistert an und ging hinaus. Ich leerte vor dem Verwalter meine Taschen, dann folgte er mir in mein Zimmer, ich setzte mich ans Fenster, er zog Schublade um Schublade aus der Kommode, öffnete den Schrank, der Diener, das Stubenmädchen, die beiden Knaben standen unter der Tür, da ließ der Verwalter einen dumpfen Laut hören und hielt in der Hand den Ring mit der Perle empor. Ich hatte es einen Moment zuvor völlig klar gewußt, daß er den Ring bei mir finden würde, ich hatte es von den Gesichtern der Knaben abgelesen. Deshalb blieb ich auch unbeweglich sitzen, während alle einander anschauten und dann mit dem Verwalter hinweggingen. Ich versperrte sogleich die Tür und schritt auf und ab, auf und ab, vierundzwanzig Stunden hindurch. Als die Nacht vorüber war, herrschte in meinem Innern eine feierliche Ruhe. Ich ließ Adeline fragen, ob ich mit ihr sprechen könne. Sie empfing mich nicht. Mich schriftlich zu rechtfertigen, verschmähte ich. Meine Unschuld beteuern hieß so viel wie mich erniedrigen. Ich war nun ganz rein und kalt. Ich erfuhr an dem Tage, daß dem Verwalter längst Gerüchte von entsetzlichen Mißhandlungen zugetragen worden waren, die die Knaben zu erdulden, und daß diese ihre Mutter des ehebrecherischen Einverständnisses mit mir geziehen hätten. Der Verwalter war ein paarmal heimlich gekommen, hatte das Gesinde verhört, und an jenem Morgen, an dem der Ringdiebstahl vorfiel, hatte er die Knaben in sein Zimmer geführt, ihnen geboten, sich zu entkleiden und an ihrem Körper die frischen und alten Spuren meiner Züchtigungen wahrgenommen. Da ihm auch ihre sonstige Verfassung Besorgnis einflößte, telegraphierte er dem Geheimrat, der dann in der Nacht mit einer Polizeiperson ankam. Ich vermute, daß Adeline den Anschlag mit dem Ring durchschaut hatte, denn es war davon nicht weiter die Rede. Der Kommissar trat drohend gegen mich auf und sprach von bösen Folgen, aber ich machte keinen Versuch, zu beschönigen oder zu erklären, was ich getan. Ich verließ Halbertsroda mitten in der Nacht. Adeline habe ich nicht mehr gesehen. Sie soll in ein Sanatorium geschafft worden sein. Drei Wochen waren vorüber, da erhielt ich eines Tages ein kleines Schächtelchen mit der Post, und als ich es öffnete, lag der Ring mit der Perle darin. Im Hof des Försterhauses ist ein alter Ziehbrunnen. Ich bin zu dem Brunnen gegangen und habe den Ring hinunter in die Tiefe geworfen.
So, und nun wissen Sie, was mir dort geschehen ist, in der oberen Welt, im Hause des Geheimrats Ribbeck.«