Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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Zweiter Band:

Ruth

Gespräche in der Nacht

1

Als Wolfgang zum Weihnachtsurlaub nach Hause reiste, konnte er seinen Vater zu dessen neuer Würde beglückwünschen. Albrecht Wahnschaffe war Geheimrat geworden.

Er fand das Haus verändert, still und langweilig. Einem kurzen Gespräch mit dem Vater entnahm er, daß man über Christian in Sorge und Aufregung war. Er horchte begierig, doch gelang es ihm nicht, Genaueres zu erfahren.

Daß Christian seinen Besitz veräußert, wurde ihm von Fremden hinterbracht. Er wußte nicht, was es zu bedeuten hatte.

Die Mutter sprach er nur ein einziges Mal. Sie erschien ihm krankhaft und behandelte ihn mit verletzender Gleichgültigkeit.

Gerüchte schwirrten. Der Haushofmeister berichtete ihm, daß Herr von Crammon ein paar Tage in Wahnschaffeburg und mit der gnädigen Frau stets allein gewesen sei. Sie hätten ein seitenlanges Telegramm nach Berlin geschickt, worin irgendeiner Person eine hohe Abfindungssumme angeboten wurde, vierzig- oder fünfzigtausend Mark. Die Depesche sei nicht an die Person selbst gegangen, sondern an einen Mittelsmann. Der Bescheid scheine ungünstig gelautet zu haben, denn danach habe Herr von Crammon geäußert, er wolle selbst nach Berlin reisen.

Wolfgang entschloß sich, an Crammon zu schreiben. Sein Brief blieb unbeantwortet.

Da er sich im Grunde für Christians Treiben wenig interessierte, verzichtete er auf weitere Nachforschungen. Anfang Januar kehrte er nach Berlin zurück. Am Benehmen seiner Bekannten merkte er alsbald, daß man etwas gegen ihn auf dem Herzen hatte. Es war eine unbestimmte, lauernde Neugier in manchen Blicken. Er war ohne besonderen Spürsinn; es kam ihm nur darauf an, für tadellos zu gelten und diejenigen nicht vor den Kopf zu stoßen, die auf seine Karriere Einfluß hatten. Er war den Anschauungen der Kreise, in denen er lebte, so geschmeidig ergeben, daß ihn der Gedanke zittern machte, man könne ihn eines Verstoßes oder einer Entgleisung bezichtigen. Deshalb hatte sein Wesen etwas Wachsames und stets Beunruhigtes. Deshalb hütete er sich sorgfältig, eine eigne Meinung auszusprechen, und vergewisserte sich, daß das, was er sagte, die Ansicht der Majorität und der Maßgebenden war.

In einer Gesellschaft nahm er wahr, daß mehrere junge Leute in seiner Nähe lebhaft tuschelten. Als er zu ihnen trat, schwiegen sie. Es war auffällig. Er zog einen von ihnen beiseite und befragte ihn brüsk. Es war ein gewisser Saßheimer, der Sohn eines Mainzer Großindustriellen. Er hätte keine bessere Wahl treffen können, denn Saßheimer beneidete ihn, und zwischen seiner Familie und dem Hause Wahnschaffe bestand eine alte Eifersucht.

»Es war von Ihrem Bruder die Rede,« sagte er; »was ist denn da eigentlich los? Sind ja tolle Geschichten, die man munkelt. Bei uns zu Hause und hier in Berlin. Was ist denn nun wirklich daran? Sie müssen es doch wissen.«

Wolfgang errötete. »Was soll denn los sein?« antwortete er betreten. »Ich weiß nichts. Christian und ich stehen nicht in Verbindung.«

»Es heißt, er hat sich an ein liederliches Frauenzimmer gehängt,« fuhr Saßheimer fort, »letzte Kategorie, eine ganz gemeine Straßendirne. Dagegen müßte man doch etwas tun. Das kann doch Ihre Familie nicht auf sich sitzen lassen.«

»Davon ist mir nicht das mindeste bekannt,« stotterte Wolfgang und errötete immer tiefer. »Es ist auch unwahrscheinlich. Christian ist der exklusivste Mensch, den man sich vorstellen kann. Wer verbreitet denn solche Albernheiten?«

»Man spricht überall davon,« sagte Saßheimer boshaft; »sonderbar, daß Sie der einzige sind, der keine Ahnung hat. Er soll auch mit seinen sämtlichen Freunden gebrochen haben. Warum gehen Sie denn nicht zu ihm? Er ist ja in Berlin. So was läßt sich ja schließlich auf gütlichem Weg beilegen, ehe der Skandal zu groß wird.«

»Ich werde mich sofort erkundigen,« sagte Wolfgang und richtete sich kerzengerade auf; »ich werde der Sache nachgehen, und wenn es sich herausstellt, daß das Gerede auf Verleumdung beruht, werde ich die Verbreiter zur Rechenschaft fordern.«

»Ja, das scheint mir das richtige,« bemerkte Saßheimer kühl.

Wolfgang verließ die Gesellschaft. Der ganze Haß gegen Christian wurde wieder neu in seiner Brust. Erst war er der Leuchtende und Allesüberstrahlende gewesen; jetzt drohte gar noch Schimpf von ihm und Gefahr im heiligsten Lebenskreis.

Der Haß würgte ihn.

2

Die geschäftlichen Besprechungen und Audienzen waren vorüber; die Züge des Geheimrats Wahnschaffe zeigten Müdigkeit. Als letzter hatte ihn ein Japaner verlassen, Beauftragter des Kriegsministeriums in Tokio. Einer der Fabrikdirektoren war bei der Unterredung, die weittragend und politisch bedeutsam war, zugegen gewesen. Er wollte sich entfernen; der Geheimrat hielt ihn durch eine Geste zurück.

»Haben Sie schon einen Ingenieur nach Glasgow designiert?« fragte er. Er vermied es, dem Mann ins Gesicht zu blicken. Was ihn an den Leuten seiner Umgebung immer störte, war ein bestimmter Ausdruck, den sie wie eine geistige Uniform trugen, ein Ausdruck der Gier nach Macht, Besitz und Erfolg. Er kannte fast keine andern Gesichter mehr.

Der Direktor nannte einen Namen.

Der Geheimrat nickte. »Es geht wunderlich mit den Engländern,« sagte er; »sie werden nach und nach völlig abhängig von uns. Nicht nur, daß sie diesen Typ Maschinen nicht mehr herstellen können, sondern wir müssen ihnen auch noch die Sachverständigen liefern, die sie ihnen erklären und in Betrieb setzen. Wer hätte das vor zehn Jahren gedacht.«

»Sie geben ihre Unterlegenheit in diesem Punkt offen zu,« antwortete der Direktor. »Einer der Herren aus Birmingham, die wir neulich auf die Werke führten, äußerte sich ziemlich betroffen über unsere unaufhaltsamen Fortschritte. Es sei ein Phänomen, meinte er. Ich erwiderte ihm, es sei durchaus nicht so erstaunlich, wie er glaube, die Sache sei im Grunde recht einfach: wir kennten nicht die englische Einrichtung des Weekend und hätten infolgedessen fünf bis sechs Arbeitsstunden mehr.«

»Und gab er sich damit zufrieden?«

»Er fragte: Sind Sie wirklich der Ansicht, daß diese fünf bis sechs Stunden genügt hätten, uns den Rang abzulaufen? Ich sagte, er möge nur jährlich zweitausend Stunden in das entsprechende Leistungsquantum umrechnen. Da schüttelte er den Kopf und erwiderte, wir seien ja ungemein tüchtig und fleißig, niemand bezweifle es, aber genau betrachtet sei es doch eine kleinliche und unfaire Konkurrenz.«

Der Geheimrat zuckte die Achseln. »Ja, so sind sie; unfair, das ist immer ihr letztes Wort. Damit denken sie uns zu schlagen.«

»Sie wollen uns nicht besonders wohl,« sagte der Direktor.

»Nein, Wohlwollen ist wenig da,« bestätigte der Geheimrat. Er nickte dem Direktor zu, dieser verbeugte sich und ging.

Der Geheimrat lehnte sich in den Sessel zurück, blickte müd über die Schriftstücke, die auf dem riesigen Diplomatenschreibtisch verstreut lagen, und deckte die weiße Hand über die Augen. Es war seine Art, zu ruhen und sich zu sammeln. Dann drückte er auf einen der zahlreichen elektrischen Knöpfe am Bord des Tisches. »Wartet noch jemand?« fragte er den eintretenden Diener.

Dieser überreichte eine Karte: »Der Herr kommt aus Berlin und sagt, er sei von Herrn Geheimrat bestellt.«

Auf der Karte stand: Willibald Girke, Privatdetektiv, Teilhaber der Firma Girke & Graurock, C, Puttbuser Straße 2.

3

»Was wissen Sie Neues zu melden, Herr Girke?« fragte der Geheimrat.

Ein schneller Seitenblick, und der Geheimrat sah auch in diesem Gesicht die ihm so wohlbekannte und so verächtliche Gier nach Macht, Besitz und Erfolg, diese vor nichts, vor keiner Erniedrigung und keiner Scheußlichkeit zurückschreckende Entschlossenheit.

»Ihre schriftlichen Berichte haben mich nicht befriedigt; ich bat Sie hierher, um gewisse Modalitäten Ihres Auftrags zu umgrenzen.« Die geschäftliche Phrase verdeckte die Unsicherheit und die Scham des Geheimrats.

Girke nahm Platz. »Wir waren indessen bemüht,« antwortete er berlinerisch schnarrend. »Material liegt in Menge vor. Wenn Herr Geheimrat gestatten, möchte ich sogleich damit aufwarten.« Er zog ein Notizbuch aus der Tasche und blätterte.

Seine Ohren waren außerordentlich groß und abstehend. Diese Tatsache berührte wie ein Beispiel von Anpassung eines Organs an den Erwerb und die Umstände. Seine Sprache war überstürzt. Er spie die Sätze aus und verschluckte Bestandteile von ihnen. Von Zeit zu Zeit sah er nervös auf die Uhr, wobei seine Augen unschlüssig glotzten. Er machte den Eindruck eines von der Großstadt Betrunkenen, eines Menschen, der nicht schlafen und sich nicht sattessen kann aus Mangel an Zeit und dessen Züge zerrissen sind von angestrengtem Lauern auf Telephonsignale, Briefe, Depeschen und Zeitungen.

Er begann eilig und monoton. »Die Herrschaftswohnung am Kronprinzenufer ist beibehalten worden. Doch ist es nicht klar, ob Ihr Herr Sohn noch als Partei zu betrachten ist. Er hat während des verflossenen Monats im ganzen nur viermal dort genächtigt. Es ist wahrscheinlich, daß er sie dem stud. med. Amadeus Voß überlassen hat. Mit dieser Persönlichkeit beschäftigen wir uns fortdauernd, wie Herr Geheimrat es gewünscht haben. Der Aufwand, den der junge Mann treibt, ist in Anbetracht seiner Herkunft und notorischen Armut ungewöhnlich. Freilich wissen wir ja, aus welcher Quelle die Mittel fließen. Daß er an der Universität inskribiert ist, hat seine Richtigkeit, ebenso wie Ihr Herr Sohn.«

»Lassen wir diesen Voß zunächst aus dem Spiel,« unterbrach der Geheimrat, noch immer unter der Last von Unsicherheit und Scham, den gewandten Sprecher. »Sie schrieben mir, daß mein Sohn nach und nach eine ganze Reihe von Wohnungen innehatte. Ich möchte darüber aufgeklärt werden; auch wo er sich gegenwärtig eingemietet hat.«

Girke blätterte. »Soll sogleich geschehen, Herr Geheimrat. Unsere Erkundigungen bilden eine lückenlose Kette. Vom Kronprinzenufer zog er mit der Frauensperson, über die wir nun ausführliche und verläßliche Daten gesammelt haben, in die Bernauer Straße nächst dem Stettiner Bahnhof. Von da in die Fehrbelliner Straße 16. Von da in die Jablonskistraße 3. Von da in die Gaudystraße, dicht am Exerzierplatz. Von da endlich in die Stolpische Straße, Ecke Driesener Straße. Das Auffallende ist nicht bloß der häufige Wohnungswechsel an sich, sondern vielmehr die beständige Verschlechterung, ja, man kann ruhig sagen, die Proletarisierung der Wohnungsgelegenheit. Wie wenn ein geheimer Plan obgewaltet hätte, irgendeine bestimmte Absicht.«

»Und Stolpische Straße, dabei ist es vorläufig verblieben?«

»Dabei ist es seit fünf Wochen, seit dem zwanzigsten Februar, verblieben. Allerdings sind es zwei Wohnungen, die er in dem Hause gemietet hat, die eine für sich, die andre für die Person.«

»Diese Stolpische Straße liegt weit im Norden der Stadt?«

»So ziemlich äußerster Norden. Westlich und noch weiter nördlich ist unverbauter Grund; östlich führt die Wisbyer und Gustav-Adolf-Straße nach Weißensee. Ringsherum sind Fabriken. Es ist eine ungesunde, unsichere und häßliche Gegend. Das Haus steht ungefähr sechs Jahre, befindet sich aber schon in einem deplorabeln Zustand. Im Vordertrakt sitzen fünfundvierzig Parteien, im Hofgebäude neunundfünfzig, meist Arbeiter, kleine Händler, zugezogenes Volk, Aftermieter, Bettgeher, auch allerlei anrüchige Existenzen. Im dritten Stock des Vorderhauses bewohnt die mehrmals erwähnte Frauensperson, Karen Engelschall, zwei Zimmer mit Küche; möbliert. Die Möbel sind Eigentum einer Witwe Spindler. Als monatliche Quote werden achtzig Mark pränumerando gezahlt. Die Dame kocht nicht selbst, hat aber eine Bedienerin, ein junges Mädchen, Isolde Schirmacher, Tochter eines Schneiders. Ihr Herr Sohn wohnt im Hoftrakt, erdgeschössig, bei einem gewissen Gisevius, Nachtaufseher in den Borsigwerken. Die Wohnung besteht aus einem dürftig eingerichteten Hauptzimmer, und einer daran schließenden, einfenstrigen Kammer, in welcher nur ein Kanapee zum Schlafen untergebracht ist.«

Die Augen des Geheimrats öffneten sich unter der Wirkung eines Schreckens, den er nicht bemeistern konnte. »Was, um Himmels willen, hat das zu bedeuten?« kam es von seinen Lippen.

»Ein vollkommenes Rätsel, Herr Geheimrat. Ein solcher Fall ist in meiner Praxis ein Novum. Es bleibt nur für Mutmaßungen Spielraum; außerdem Hoffnung, daß die Ereignisse Aufhellung bringen.«

Der Geheimrat, sich fassend, lehnte den Zuspruch kaltverächtlich ab. »Welcher Art sind die Erhebungen über das Frauenzimmer?« fragte er amtlich zurückhaltend; »zu welchen Resultaten haben sie geführt?«

»Ich wollte eben damit dienen, Herr Geheimrat. Wir haben Einblick gewonnen. Die Antezedenzien sind ans Licht gebracht. Es war zum Teil recht schwierige Arbeit; wir mußten Organe an Ort und Stelle schicken. Stand und Beruf, auch Name des Vaters sind nicht nachweisbar, da uneheliche Geburt stattgefunden hat. Die Mutter ist Friesin, wohnte im Oldenburgschen, wo sie Wirtschafterin auf einem kleinen Gut war, lebte dann mit einem pensionierten Steuerrendanten; nach dessen Tod hatte sie einen Parfümerieladen in Hannover. Das Geschäft reüssierte nicht. Im Jahre 1895 wurde sie wegen Betrug und Unterschlagung zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, die sie in Cleve verbüßte. Danach verliert sich ihre Spur bis zum Jahre 1900, wo sie in Berlin auftauchte; zuerst in Rixdorf, Treptower Straße, dann Brüsseler Straße hinter dem Virchowschen Krankenhaus als Zimmervermieterin, jetzt Zionskirchplatz. Stand mehrmals im Verdacht der Kuppelei, wurde aber wegen mangelnder Beweise außer Verfolgung gesetzt. Ist als Kunststopferin gemeldet; in Wirklichkeit ernährt sie sich durch Wahrsagen und Kartenschlagen, was ein ganz einträgliches Gewerbe zu sein scheint, nach ihrer Lebensführung zu schließen. Sie hat nur zwei Kinder, jene Karen, und einen etwa sechsundzwanzigjährigen Sohn Niels Heinrich, der ein polizeibekannter Tunichtgut ist und mit den Gesetzen in beständigem Konflikt liegt. Die Tochter Karen nun hat sich schon in frühem Mädchenalter einem schlechten Wandel ergeben. Wahrscheinlich ist sie von der Mutter dazu erzogen worden. Als sie siebzehn Jahre alt war, soll ein holländischer Kapitän der Mutter fünfhundert Gulden bezahlt und das Mädchen entführt haben. Sie hat zwei außereheliche Kinder geboren, eines 1897 in Kiel, eines 1901 in Königsberg. Beide starben kurz nach der Geburt. Außer in den genannten Orten lebte sie in Bremen, Schleswig, Hannover, Kuxhaven, Stettin, Aachen, Rotterdam, Elberfeld und Hamburg, fast überall unter Polizeiaufsicht. Zwischen 1898 und 99 ließ sich ihr Aufenthalt nicht ermitteln. Es scheint, daß damals in ihren Umständen eine vorübergehende Besserung eingetreten war; eine Auskunft lautet, sie sei mit einem dänischen Maler nach Nordfrankreich gegangen, in eine kleine Stadt: Wassigny. Aus Hamburg, wo sie allmählich immer tiefer gesunken war, wurde sie durch den Herrn Sohn in der Weise weggebracht, die ich in meinem Bericht vom vierzehnten Februar die Ehre hatte zu schildern.«

Girke schöpfte Atem. Seine Leistung, architektonisch aufgetürmt, flößte ihm selbst Respekt ein. Er genoß Gliederung und Gruppierung und warf einen Blick des Triumphes auf den Geheimrat. Er bemerkte nicht dessen versteinertes Gesicht und fuhr sieghaft fort: »Als sie nach Berlin kam, suchte sie ihre Mutter auf. Es entspann sich ein reger Verkehr. Die Mutter erschien sowohl im Hause Kronprinzenufer wie in allen übrigen Wohnungen. Auch der Bruder Niels Heinrich sprach vor, zweimal Fehrbelliner Straße, einmal Gaudystraße, fünfmal Stolpische Straße. Sie hatten Auseinandersetzungen, die von Mal zu Mal lärmender wurden. Am elften dieses, nachmittags fünf Uhr, verließ Niels Heinrich die Wohnung im Zorn, stieß Drohungen aus und randalierte in der Schnapsbudicke von Kersting, Schievelbeiner Straße. Am zwölften kam er mit Ihrem Herrn Sohn aus dem Haus, und sie gingen zusammen bis zur Lothringer Straße. Dort gab Ihr Herr Sohn dem Menschen Geld. Am sechzehnten schlenderte er vor dem Haus Kronprinzenufer bis in die Abendstunden auf und ab. Als Ihr Herr Sohn mit dem stud. med. Voß auf die Straße kam, trat er zu ihnen, und nach einem kurzen Gespräch gab ihm Ihr Herr Sohn abermals Geld, mehrere Goldstücke und einen Schein. Ihr Herr Sohn und der stud. med. Voß gingen bis zum großen Stern miteinander, und während der ganzen Zeit redete der stud. med. Voß auf Ihren Herrn Sohn heftig und aufgeregt ein. Worum es sich handelte, war nicht zu ergründen; unser Vertrauensmann konnte nicht nahe genug heran, ich selbst war an dem Tage anderweitig beschäftigt. Die Parteien in dem Haus Kronprinzenufer versichern glaubwürdig, daß der stud. med. sich häufig aggressiv und maßlos gegen Ihren Herrn Sohn ausläßt.«

Der Geheimrat war weiß bis in die Lippen. Den innern Sturm zu verbergen, erhob er sich und trat ans Fenster.

Grundfesten wankten. Der Gipfel des Daseins, auf dem man stand, hüllte sich in schwärzlichen Dunst, so wie draußen alles bedeckt war von Rauch und Qualm, die der Wind aus Schloten niederschlug. Chaotische Geräusche der Arbeit, der Maschinen brodelten in der Luft. Auf Simsen und Dächern lag rissiger Schnee.

Was war zu tun? Das Gesetz bot im Notfall Handhaben. Entmündigung nahm den Schimpf nicht weg. Man mußte einschreiten, dämmen, verhüten, vertuschen.

Endlich rangen sich wieder Worte aus der geschnürten Kehle. »Hat er sonst irgendwie auffälligen Verkehr?«

»Nicht daß ich wüßte,« antwortete Girke. »Bei allerlei kleinen Leuten, jawohl; im Hause und auf der Straße. Er besucht regelmäßig die Vorlesungen und scheint auch zu Hause zu arbeiten. Mit den Studenten pflegt er keinen Umgang, wenigstens bis in die letzte Zeit nicht. Doch wird uns gemeldet, daß man seiner Person in diesen Kreisen eine gewisse Aufmerksamkeit schenkt. Vor zwei Tagen erhielt er den Besuch eines Herrn von Thüngen, der im Hotel de Rome abgestiegen ist. Ob sich daraus Weiterungen ergeben haben, kann ich noch nicht beurteilen.«

Der Geheimrat sagte mit umwölkter Stirn: »Der liegende Besitz meines Sohnes ist von mir angekauft worden. Die Gesamtkaufsumme, dreizehneinhalb Millionen Mark, wurden an die Deutsche Bank überwiesen. Es gibt leider keine legale Möglichkeit für mich, über die Verwendung des Geldes auf dem laufenden zu bleiben, zu erfahren, ob größere Beträge über den Zinsendienst hinaus entnommen und an wen sie bezahlt werden. Es wäre wichtig, darüber Klarheit zu gewinnen.«

Bei der Nennung der Millionenziffer verspürte Girke einen Ehrfurchtsschauder. Er duckte den Kopf, im Mund sammelte sich Speichel. »Zweifellos steht dem Herrn Sohn neben diesen dreizehneinhalb Millionen noch die Nutznießung der jährlichen Revenue zu?«

Der Geheimrat nickte. »Sie wird von der Firma ausbezahlt, und zwar seit November in Vierteljahrsraten an die Filiale der Dresdner Bank.«

»Ich frage natürlich nur, um die Verhältnisse überblicken zu können. Bei so unbegrenzten Mitteln ist die Lebensführung des Herrn Sohnes höchst sonderbar, mehr als sonderbar. Er nimmt seine Mahlzeiten meist in geringen Gast- und Speisehäusern und bedient sich niemals eines Autos oder einer Droschke, sogar der billigen öffentlichen Vehikel selten; er legt ziemlich lange Strecken zu Fuß zurück, bei Tag wie auch am Abend.«

Bei dieser Mitteilung stutzte der Geheimrat. Sie machte einen tieferen Eindruck auf ihn als alles, was der Detektiv sonst vorgebracht hatte.

»Ich werde die Wünsche des Herrn Geheimrats in jeder Beziehung berücksichtigen,« sagte Girke; »was den letzten Punkt betrifft, so ist es nicht leicht, aber ich werde trachten. Herr Geheimrat werden mit Girke und Graurock zufrieden sein.«

Damit war die Unterredung zu Ende.

4

Im Verfluß eines unterbewußten, durch eine Folge von Tagen sich hinziehenden Grübelns mußte der Geheimrat an einen Vorfall denken, der sich in Aix-les-Bains abgespielt hatte, als Christian vierzehn Jahre alt war.

Albrecht Wahnschaffe hatte die Bekanntschaft einer Marchesa Barlotti gemacht, einer geistreichen alten Dame, die einst eine berühmte Sängerin gewesen und nun, im Alter, von geradezu faszinierender Häßlichkeit war. Eines Tages war sie Albrecht Wahnschaffe in Begleitung Christians auf der Promenade begegnet, und die Schönheit des Knaben hatte sie dermaßen entzückt, daß sie ihn herzlich, in großer, freier Manier aufforderte, sie zu besuchen. An Stelle Christians, der erblaßt war, hatte der Vater zugesagt und gleich die Stunde bestimmt. Christian aber, durch die abschreckende Erscheinung der Marchesa in nicht zu brechenden Widerwillen versetzt, weigerte sich ruhig und kalt, das Versprechen des Vaters zu erfüllen. Keine Zurede, keine Bitte, kein Befehl vermochte ihn zum Gehorsam zu bewegen. Da war Albrecht Wahnschaffe von einem jener Anfälle von Jähzorn übermannt worden, die ihn zum Berserker machten, trunken und schwindlig; kaum einmal in zehn Jahren kam es so weit, und wenn die Wut vorüber war, fand er sich in einem Zustand wie nach schwerer Krankheit. Er war auf Christian zugegangen, in schäumender Raserei, und hatte ihn mit dem Stock geschlagen. Einen zweiten Hieb führte er nicht. Der Arm lahmte vor dem Ausdruck im Gesicht des Knaben. Alles war Eis darin, flammend bleiches Eis; eine Hoheit, eine tödliche Verachtung, vor welcher der Zorn zerbrach wie Glas an Granit. Mich züchtigen? fragte seine eisig erstaunte Miene, mich zwingen?

Der bestürzte, beschämte, vernichtete Vater hatte erkannt, daß man diesen Menschen nicht zwingen könne und nicht zwingen dürfe, niemals, unter keinen Umständen und zu nichts in der Welt.

Der Vorfall wurde ihm jetzt wieder gegenwärtig und war die Ursache, daß er seinem Entschluß, Gewalt anzuwenden, ein für allemal aufgab.

Auf einen vor Monaten geschriebenen Brief, Christian solle kommen, sich erklären, die Seinen drückender Unwissenheit und Ratlosigkeit entreißen, die Mutter insbesondere, die ungebührlich leide, hatte er lakonisch geantwortet, es habe keinen Zweck, zu kommen, er könne nichts erklären, zur Sorge sei kein Grund, er befinde sich wohl und in ausgezeichneter Stimmung und man möge ihn nur getrost sich selber überlassen.

Was war der Sinn von dem, was er tat? Wo der Schlüssel für das Verständnis? Gab es, im Zeitalter der alles durchdringenden Wissenschaft mystische Verwandlung der Identität?

Er sah Christian, wie er zu Fuß lange Wege in den Straßen ging, am Abend; wie er in geringen Gasthäusern einkehrte und geringe Mahlzeiten zu sich nahm. Was war der Sinn davon? Er stellte sich vor, daß er ihm auf einem solchen Gang begegnete, er stellte sich die konventionell höfliche Miene vor, die stolz und kühl blickenden Augen, die weißen, festen Zähne, die bei seinem konventionell höflichen Lächeln sichtbar wurden, und schon bei der Ausmalung des Einandergegenüberstehens ergriff ihn Furcht

Aber vielleicht mußte es sein; vielleicht mußte er zu ihm gehen. Vielleicht hatte das Geschehene gar nicht den finstern Ernst, den die Ferne gab. Vielleicht entpuppte es sich als mühelos zu lösende Verwirrung.

Der Gedanke wühlte sich ins Hirn und die Furcht wuchs. Wenn er ihn erstickt zu haben wähnte, tauchte er noch quälender auf, in Träumen, in schlaflosen Nächten, im Tumult der Geschäfte, im Gespräch mit Menschen, an jedem Ort, zu jeder Zeit, wochenlang, monatelang.

5

Wahnschaffeburg, erbaut für Glanz und Feste, war verödet. Die Gesellschaftsräume und die Fremdenzimmer standen leer. Amerikanische Gäste hatten sich angemeldet, Frau Richberta hatte ihnen absagen lassen.

Der Geheimrat schickte ihr Leckerbissen und Blumen aus den Treibhäusern. Sie hatte keinen Blick dafür. Lethargisch lag sie im Fauteuil oder in ihrem Prunkbett. Die Fenster waren verhängt, auch bei Tag. Abends und nachts war die elektrische Lampe verschleiert.

Erinnerungen an Christians Kindheit waren ihre Zuflucht. Sie genoß es wieder, wie er, als fünfjähriger Knabe noch, bei ihr im Bett gelegen; am frühen Morgen hatte die Wärterin den Jauchzenden, vom Schlummer rosig Behauchten gebracht. Die zwitschernde Stimme, die goldblonden Locken, die beweglich greifenden Hände, die mutwillig blitzenden tiefblauen Augen, wie nah, wie weit! Sie genoß es wieder, wie er nach der Perlenkette gelangt, wenn sie im Schmuck sein Zimmer betreten hatte; wie ihm kleine Mädchen einen Kranz von Sweet-peas aufs Haupt gelegt, ihn huldigend umringt hatten; wie er mit zwei Hunden über die Parkwege gestürmt und vor einer Bronzestatue, einem antiken Adoranten, herrlich stutzend stehengeblieben war; wie er, später dann, als Jüngling, im Mainzer Karneval auf einem Blumenwagen inmitten der schönsten Frauen den silbernen Pokal lächelnd gegen die Zuschauer erhoben hatte.

Unvergeßlich jede Gebärde, jeder Blick, der leichte Gang, die gereckte Gestalt, die dunkle Stimme, die Erwartung seines Kommens, das Glück seines Daseins, das Entzücken, das ihm aus den Mienen der Menschen zuflog.

Die Welt enthielt nur ihn.

Sie las die wenigen Briefe, die er ihr geschrieben und die sie in einem Ebenholzschrein aufbewahrt hatte wie Reliquien; nüchterne, bedeutungslose Mitteilungen, für sie Formeln von bindender Kraft. Zehn, zwölf Zeilen aus Paris, San Sebastian, Rom, Viareggio, Korfu, der Insel Wight; einst hatte sie die Schönheit der Erde daraus getrunken; sobald er nicht mehr dort geweilt, waren es gleichgültige Lokalitäten.

Sie hatte ihren Schoß geliebt, weil er ihn geboren; jetzt haßte sie ihn dafür, daß sie ihn verloren. Aber wie und warum sie ihn verloren, war unergründbar. Und sie grübelte Tag und Nacht.

Niemand konnte ihr Aufschluß geben. Kein Gedanke brachte eine Spur von Licht. Sie stand vor einer Mauer und stierte sie verzweifelt an. Sie lauschte und hörte keine Stimme von drüben. Alles, was man ihr sagte, erschien ihr lächerlich und lügenhaft.

In ihrem Schlafzimmer hing ein Porträt Christians, das ihn als Zwanzigjährigen zeigte; ein schwedischer Maler hatte es vor drei Jahren gemalt. Es war sehr ähnlich, und sie liebte es abgöttisch. Eines Nachts nahm sie es von dem roten Seil an der Wand und stellte es auf den Tisch neben die Lampe, deren Vorhang sie zurückschlug. Sie kauerte sich in den Sessel, stützte den Kopf auf beide Arme und sah das Bild unverwandt, mit fordernder Inbrunst an.

Sie befragte es. Es gab keine Antwort. Sie bebte vor Begier, den gemalten Kopf zu packen. Aber das Gesicht auf der Leinwand lächelte in der zweideutigen und abwehrenden Art, die ihm eigen war. Sie wünschte, sie könnte weinen. Doch war es ihr nicht gegeben, zu weinen; sie war zu hart und ungerührt durch das Leben gegangen.

Am Morgen fand sie die Zofe noch immer vor Christians Bild sitzen. Das Bild neben der brennenden Lampe lächelte zweideutig und fremd.

6

Johanna Schöntag schrieb an Christian: »Zwei Monate sind vergangen, seit ich von dir weg bin. In dieser Zeit hat das Unglück mich und die Meinen verschwenderisch bedacht. Mein Vater hat sich selbst den Tod gegeben; das war die traurige Ursache, weshalb man mich gerufen hatte. Tollkühne Spekulationen haben ihn ins Unabsehbare verstrickt, er konnte sich nicht mehr zurechtfinden, sah sich von einem Tag auf den andern zum Bettler geworden und entschloß sich, den Kampfplatz zu verlassen. Alle Verbindlichkeiten sind auf anständige Weise gelöst, der gute Name ist gerettet, und man sagt uns zum Trost, daß er zu früh den Kopf verloren und sich übereilt hat. Wir sind aber in einer wenig beneidenswerten Lage, das Leben zeigt mir sein häßlichstes Gesicht. Solche Verwandlungen gibt es sonst nur in schlechten Theaterstücken. Ich bin noch sehr verwirrt. Ich weiß noch nicht, wie mir geschieht. Ich beneide Menschen, die Vorsätze haben, ganz zu schweigen von denen, die außerdem noch die Kraft besitzen, sie auszuführen. Wirst du mir schreiben? Hast du mich schon vergessen? Darf ich überhaupt noch danach fragen?«

Den Brief schickte sie an Crammon mit der Bitte, ihn zu befördern. Crammon schrieb ihr: Mein liebes Rumpelstilzchen, hoffentlich verhallt Ihre Stimme nicht in der Wüste. Es haben sich malheureuse Dinge ereignet. Der Edle, an den Sie sich wenden, verleugnet sich selbst, seine Vergangenheit und alle, die ihn lieben. Gott der Herr hat seinen Sinn verdunkelt; wir sind um seine Rettung bemüht. Möge Ihre Mithilfe von guten Folgen begleitet sein!«

Die Worte erschreckten sie; sie wußte sie nicht zu deuten. Sie hatte Zeit, darüber nachzudenken, denn es vergingen Wochen, bis sie auf den Brief an Christian eine Antwort erhielt, und diese Antwort war schlimmer als keine: sie stammte nicht von Christian selbst, sondern von Amadeus Voß. Sie lautete: »Hochgeschätztes Fräulein! Bei der Ordnung der Papiere, die mein Freund Christian Wahnschaffe in der Wohnung zurückgelassen hat, welche ich an seiner Statt übernommen habe, fiel mir unter andern Schriftstücken auch Ihr Schreiben an ihn in die Hände. Da fast alle Briefe, die er in den letzten Monaten empfangen hat, mit ganz vereinzelten Ausnahmen unerledigt geblieben sind, fehle ich wohl in der Vermutung nicht, daß ein gleiches auch bei Ihrem der Fall ist. Das begangene Versäumnis ungeschehen zu machen, darf ich mir nicht einbilden; wer bin ich auch? Was bin ich für Sie? Vielleicht erinnern Sie sich meiner kaum. Hingegen erinnere ich mich Ihrer sehr genau und bedaure es ständig, Ihnen meine Ergebenheit und Sympathie nicht merkbarer zu Füßen gelegt zu haben. Aber ich bin von Natur furchtsam, und die Angst, meine Gefühle zurückgewiesen oder mißverstanden zu sehen, ist geradezu ein schleichendes Übel in mir. Fassen Sie es also nicht als eine Zudringlichkeit auf, daß ich für meinen Freund Wahnschaffe zur Feder greife; es schmerzte mich einfach, wenn ich mir Ihre Ungewißheit und Ihr vergebliches Warten vorstellte, und ich beschloß, dem ein Ende zu machen, wenigstens soweit es in meinen Kräften stand. Ich glaube, versichern zu dürfen, daß Christian Wahnschaffe Ihnen gegenüber nicht so schuldig ist, wie es scheinen muß, oder er ist vor sämtlichen Menschen, die ihm früher nahe gewesen sind, im selben Maße schuldig. Von Nachlässigkeit und Pflichtverletzung zu sprechen, wäre anmaßlich von mir und objektiv unzutreffend. Er ist aus seiner Haut geschlüpft, und die Münze, mit der er heute zahlt, ist auf einem andern Prägestock geprägt als die, mit der er vordem gezahlt hat. Ob es eine bessere oder schlechtere Münze ist, das zu entscheiden, ist nicht meines Amtes. Er hat, wie man zu sagen pflegt, die Schiffe hinter sich verbrannt. Was er tut, bildet das Entsetzen moralischer Abc-Schützen, auch von mir gestehe ich, daß ich um Erklärungen verlegen bin, aber man muß Geduld haben, die himmlische Vorsicht wird es zum besten lenken. Wir alle essen das Brot des Abgrunds, jedem schmeckt es bitter. In Anbetracht der durchaus ungewöhnlichen Umstände bitte ich, es zu entschuldigen, daß ich, gleichsam als alter ego,, mich in die Angelegenheit eines andern mische, um sie zu meiner eignen zu machen. Es geschieht nach reiflicher Überlegung, und was Ihnen zunächst vielleicht Vorwitz und tadelnswerte Bemächtigung fremden Geheimnisses dünkt, hat seinen Beweggrund nur in der Sorge um Ihre Seelenruhe. Zum Schluß möchte ich noch mein aufrichtiges und tiefempfundenes Mitgefühl zur Kenntnis geben; Sie sind von schweren Schicksalsschlägen heimgesucht worden; Gott in seiner Gnade wird gewiß wieder Licht auf Ihren Weg senden.«

Johanna las diesen Brief unzählige Male, und jedesmal wurde sie bleich vor Scham; jedesmal war sie den Tränen nah, so preisgegeben und beleidigt erschien sie sich. Dann wühlte sie von neuem und immer von neuem in den künstlich stilisierten Sätzen; erschrocken, verzagt, schmerzlich neugierig fragte sie sich: was muß vorgegangen sein, damit er, Christian Wahnschaffe, derselbe Christian, den ich kenne, dem ich unermessenes Menschenvertrauen geschenkt, der Zarte, Verschwiegene, Korrekte, was muß vorgegangen sein, damit er mich und mein Verborgenstes hinwerfen konnte, als Beute hinwerfen einem, dem Verräterei und Muckertum auf die Stirn gezeichnet ist?

In ihrer Erregung ging sie in Crammons Wohnung; Crammon war längst nicht mehr in Wien. Sie erfragte seinen Aufenthaltsort; man vermochte keinen zuverlässigen Bescheid zu geben; Fräulein Aglaia nannte ein Hotel in Berlin, Fräulein Constantine das gräflich Vitztumsche Schloß Königseck in der Sächsischen Schweiz. Sie schrieb dahin und dorthin; zerriß beide Briefe wieder; sann und erwog; wurde von Beschämung und Zweifeln herumgejagt; faßte einen Entschluß und schrieb an Amadeus Voß, malte weiträumige Zeilen in ihrer lapidaren, stelzensteilen Schrift, die linke Hand zornig verkrampft, die Stirne gefaltet, mit den kleinen Zähnen an der Lippe nagend; schrieb einen spöttisch-knappen Dank, daß er sich ihretwegen bemüht, ignorierte geringschätzig die verübte Indiskretion, verbiß ihren Widerwillen, der einer Blutsabwehr in Vorahnung entsprang, und ersuchte in ein paar ungeduldigen Wendungen um klarverständliche Auskunft über Christian Wahnschaffe, da man sie die Entzifferung von Charaden und geistlichen Anspielungen noch nicht gelehrt habe. Sie könne sich zwar mit einem solchen Verlangen auf kein Recht stützen, weise auch jede Unterstellung eines mehr als freundschaftlichen Interesses für Christian entschieden zurück, doch sei dieses stark genug, ihre dringende Erkundigung zu begründen.

Vier Tage später kam die Antwort von Voß. Mit Herzklopfen hielt sie den Brief in der Hand, legte ihn uneröffnet in eine Lade, und erst am Abend, als sie sich in ihrem Zimmer eingesperrt hatte, brach sie ihn auf. Sie las:

»Sehr geehrtes Fräulein! Es wundert mich, daß ein Gerücht noch nicht bis zu Ihnen gelangt ist, das hier bereits die Spatzen von den Dächern pfeifen. Alle Welt raunt, schnüffelt und staunt, niemand traut seinen Ohren. Um Sie nicht mit unnötigen Umschweifen zu belästigen, gehe ich sogleich zu den Tatsachen über. Wie Ihnen bekannt sein wird, reiste ich ungefähr eine Woche vor Christian Wahnschaffe von Hamburg ab, mietete in Berlin für ihn und mich eine komfortable Wohnung, denn da wir beide beschlossen hatten, uns dem medizinischen Studium zu widmen, durfte ich annehmen, daß wir bis auf ferneres und solange wir uns gegenseitig vertrugen, gemeinsamen Haushalt führen würden. Ich wartete auf ihn, er kam endlich, aber er kam nicht allein. Er brachte eine Frau mit. Hier stock ich im Wort. Ich wähle die Bezeichnung Frau, weil mir die Rücksicht gegen Sie verbietet, eine andre zu wählen. Doch wie soll ich es anfangen, Ihnen die Sachlage auseinanderzusetzen, wenn ich wie die Katze um den heißen Brei schleiche; die Wahrheit kann ja nicht verborgen bleiben. Die Person heißt Karen Engelschall; er hat sie im Hamburger Hafen- und Dirnenviertel als vollständig Verkommene aufgefischt; sie steht auf der untersten Stufe der Menschheit; sie hat ein rohes Aussehen, abstoßende Manieren und befindet sich momentan dicht vor ihrer Niederkunft. Sie war in den Händen eines gewalttätigen Kerls, der sie mißhandelte und barbarisch zurichtete, und wenn sie an den nur denkt, schlottert sie vor Grausen und Angst. Sie mag dreißig bis zweiunddreißig Jahre zählen, wirkt aber älter; ein Blick in ihr Gesicht genügt, und man weiß, daß es mit allen Lastern und aller Schande des Lebens vertraut ist.

Mein Fräulein, Ihr Auge darf nicht innehalten, wie es vielleicht täte, stünd ich vor Ihnen und wendete mich mitfühlend ab. Die niedergeschriebenen Worte sind schonungslos, und Ihre Phantasie, bisher bewahrt vor solchen Bildern, schließt vielleicht mich Unschuldigen in den schlimmen Zirkel ein. Ich muß es dulden; wenn das Zünglein an der Wage zur Ruhe gekommen ist, werden Sie gerechter prüfen. Obiges ist nur als Einleitung zu betrachten; ich fahre fort und halte mich an die Folge.

Er kam mit seinen Kisten und Koffern, aber ohne Diener. Er hatte den Diener entlassen. Gegen mich zeigte er sich von besonderer Freundlichkeit, und im allgemeinen war er weitaus heiterer, als wie ich ihn verlassen hatte. Für jene Karen wurden zwei Zimmer bereitet, eins zum Schlafen, eins zum Wohnen. Drei Zimmer waren für ihn, die zwei übrigen für mich. Ich war auf eine solche Zugabe zu unserm Beisammensein nicht gefaßt; ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Er gab mir ein paar notdürftige Aufklärungen. Eigentlich Rede stand er mir nicht. Diese Weltmannsglätte, wie zuwider sie mir ist, was für eine verzweifelte Ähnlichkeit sie mit Verschlagenheit und Falschheit hat! Schweigen und Lächeln sind keine Argumente, damit überzeugt man nicht, damit betrügt man nur. Wir Niedriggebornen kennen solches nicht und verschmähen die feige Flucht unter die Maske der Unverbindlichkeit. Das Weib erschien zu den Mahlzeiten, saß klobig da, zupfte am Tischtuch, stellte einfältige Fragen, klapperte mit dem Besteck und schaufelte die Speisen mit dem Messer. Wenn Wahnschaffe sie ansah, benahm sie sich wie eine, die bei einem Diebstahl ertappt wird. Ich war bestürzt. Ich dachte mir: er ist nicht bei Trost. Sein Wesen gegen sie war von einer Zuvorkommenheit, daß ich mich des Verdachts nicht erwehren konnte, sie habe sich übernatürlicher Mittel bedient, um ihn fügsam zu machen. Aber wie: fügsam? Die Gewißheit, daß sie seine Mätresse nicht war, erlangte ich bald; wie hätte man auch dergleichen vermuten dürfen; ich hatte den Gedanken von Anfang an verworfen. Also wie: fügsam? Doch nur durch Teufelskünste. Glauben Sie nicht, daß ich fasle, mein Fräulein. Ich habe in geisterhaften Stunden tief in das Räderwerk der Schöpfung geblickt. Die menschliche Seele, arm und reich, hat unendliche Fähigkeiten und Verwandlungen. Die Sterne leuchten über uns, und wir kennen sie nicht, kennen nicht ihre Einflüsse und Gewalt. Die Klüfte der Erde sind zugeschlossen, nur die Ahnung bleibt, daß herrschsüchtige Dämonen sind. Hierüber werden wir uns sicherlich noch einmal Aug in Auge verständigen; nehmen Sie diese Prophezeiung als einen Beweis für das Behauptete.

Ich fahre fort. Ich fühlte mich nicht mehr heimlich in den schönen Zimmern. In der Nacht stand ich oft im Finstern und lauschte gegen die Räume hinüber, in denen die beiden hausten. Ich überwand meine Scheu und suchte die Gesellschaft des Weibes, wenn sie allein war. Sie war auf eine unangenehme Weise schwatzhaft. Ich sparte nicht mit meiner Verachtung. In seiner Gegenwart war sie blöde. Äußerlich gesehen, unterwirft sie ihn durch ihre Unterwürfigkeit. Ihre grenzenlose Verelendung hat Eindruck auf sein von Weltglanz übersättigtes Auge gemacht. Ich ging daran, nach einer verführerischen Eigenschaft an ihr zu forschen, nach irgendeinem Zug verlorener oder verwüsteter Schönheit, nach irgendeinem, wenn auch noch so unscheinbaren Reiz, einem verbrecherischen sogar, einem perversen. Ich dachte dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, wenn ich mich gläubig und zustimmend stellte; ich war wachsam und bereit zu jedem Zugeständnis an eine Seelenwandlung, an ein Phänomen der Buße und Abkehr. Aber was fand ich? Ich fand eine rohe, befleckte, störrische, tierähnliche, plumptappende, formlose Kreatur.

Mich schauderte. Zu nah war noch die Zeit, da ich mich mit aller Leidenschaft selbst aus dem Schlamm befreit hatte; zu schwer hatte ich gelitten bei denen, die der Herr aus seinem Angesicht verwiesen hat; zu viele Mitternächte lagen hinter mir, wo es ums letzte ging; zu laut hatte ich geschrien unter den Malsteinen der Sünde; zu verrucht war mir dies Weib, viel zu verrucht, um zusehen zu können, wie sie schlangenschlüpfrig hinüberglitt in die Trägheitsmitte, ausruhend vom Übel und sich sammelnd zu neuem Übel. Ich wollte weg, das war kein Schauspiel für mich, oder mein Geist wäre wieder zu Gift geworden, mein Herz wieder das eiternde Stück Fleisch, das ich mir und der Menschheit zur Last trug. Ich erklärte Wahnschaffe, daß ich weg, daß ich ihm Platz machen wollte; er aber antwortete, ich möge bleiben, es gefalle ihm ohnehin nicht in dem Haus, er seinerseits wolle gehen. Ich dachte: aha, dich gelüstet nach deinen Palästen, dir ists zu gering dahier; aber zu meiner und andrer Leute Verwunderung zog er in ein weit geringeres Quartier; blieb dort bloß eine Woche, wählte abermals ein geringeres, und so noch zweimal, bis er endlich mit dem Weibe in den Norden der Stadt übersiedelte, in eine menschenüberfüllte Zinskaserne, wo er jetzt noch wohnt, er im Hinterhaus, sie im Vorderhaus. Wüßt ichs nicht, und Sie sagten mirs und zeigten mirs, ich lachte Ihnen ins Gesicht. Die Witwe Engelschall, die Mutter der Karen, war wütend, als sie es hörte; die habe ich kennengelernt; wie soll ich sie Ihnen schildern, ohne daß mir der Gaumen ausdorrt vor Ekel. Der Bruder, ein Lump und Auswurf, stellte Wahnschaffe und stieß Drohungen aus. Gelichter wimmelt um und um. Dort arbeitet er für die Vorlesungen; dort schläft er in einem finstern Loch, auf einem alten Ledersofa, der verhätschelte Liebling, Muster und Vorbild seiner Kaste, der Genießer, der Verführer, der Adonis und Krösus! Schreit Ihnen meine Stimme? Gellen die Worte aus dem bleichen Papier heraus? Erstarren Ihnen die Begriffe? So kommen Sie doch, kommen Sie, das Wunder zu bestaunen, die Mönchwerdung, die neue Eremitage, das düstere Possenspiel. Kommen Sie, wir bedürfen Ihrer vielleicht; brauchen die Herzen, die vordem für ihn geglüht haben. Die Augen aus der Jenseitwelt der Freuden werden die Spiegel sein, in denen er sich besinnend wiedererkennt.

Triumphiere ich? Ich wollt es nicht. Knirscht es in mir? Es könnte sein. Bin ich es doch, der den Weg bereitet hat, ich, den die Sündenträume wie ein Aussatz der Seele bis zum heutigen Tag zu unseliger Unrast verdammen. Er wirft sein Gut fort. Er läßt Millionen, die frische Millionen hecken, auf der Bank liegen, ohne sich um sie zu kümmern. Er lebt ohne Luxus, ohne Zeitvertreib, ohne elegante Gesellschaft, ohne Theater, ohne Autos, ohne Spiel und Spielerei, ohne Liebe und Liebelei, ohne geehrt, bewundert, verwöhnt zu werden. Ich warte auf die Stunde, wo er lachend erklärt, der Opiumrausch sei zu Ende. Solang die Millionen auf der Bank hecken und im Hintergrund Herr Vater und Frau Mutter mit der gefüllten Geldkiste bereitstehen, ist nichts Ernstliches zu fürchten. Seine Kleider, seine Wäsche, seine Schuhe, seine Krawatten, seine Schmuck- und Toilettengegenstände befinden sich zum größten Teil noch hier in der Wohnung, die ich wieder Allein bewohne. Bisweilen kommt er, wechselt den Anzug, nimmt ein Bad. In seiner Erscheinung hat sich nichts geändert; er sieht immer aus, als gings zum Frühstück bei einem Minister oder zum Stelldichein mit einer Herzogin. Er ist nicht melancholisch, nicht gedankenvoll, nicht hohlwangig; er ist, wie er stets gewesen, genau so hochmütig, so nüchtern, so unbedeutend, so prinzenhaft, nur ist alles leichter, was er tut, entschiedener, was er sagt, und er lacht öfter.

Damals hat er nicht gelacht, als ich ihm die Finsternis und die Schrecken malte, damals auf seinem Schloß, ehe er zu der Tänzerin reiste. Damals hat er gelauscht; Tag und Nacht gelauscht, gefragt, gelauscht. Rührte sich das Erbarmen in seinem Busen? Mitnichten. Er ist ja nicht einmal ein Christ; sein Gemüt ist ohne den Gottesfunken; er weiß nichts von Gott, für ihn gilt das Wort aus dem Korintherbrief: Der sinnliche Mensch nimmt nicht auf, was vom Geiste Gottes kommt, ihm ist es Torheit, und er vermag es nicht zu fassen, weil es nur im Geiste gefaßt werden kann. Ich hatte ihn auferwecken gewollt; ich redete mit Feuerzungen aus der untersten Tiefe. Aber er war stärker; er riß mich ins Verderben und lockte mich zu den Saturnalien, und ich vergaß mein himmlisches Heil um irdischer Lust willen. Er war mir wie ein Schatten gewesen, jetzt bin ich selber zum Schatten geworden, und er schmäht das Heilige, indem er es äfft. Was weiß er vom Beil und vom Ring? Ich aber weiß vom Beil und vom Ring. Was weiß er von den Zeichen und Symbolen, die in der Trübnis der Sinne zu Fackeln werden? Ihm ist alles wirklich, ihm ist es da: der Nagel und das Brett, die Glocke und der Meßstab, der Stein und die Wurzel, die Kelle und der Hammer, für ihn ist es da, für mich ist es nicht da. Rom und Galiläa stehen auf und ringen gegeneinander. Was von ihm ausgeht, ist Qual, was mich zu ihm treibt, ist Qual; als wären wir, verbrüdert und verwachsen, aus demselbigen Schoß gekrochen und könnten nun keiner den andern finden noch verstehen.

Warum ist er bei dem Weibe? Was erwartet er von dem Weibe? Er spricht von ihr mit einer neugierigen Spannung. Das ist es, diese unheimliche, verwegene, nimmersatte Neugier! Da ist der Hebel. Gelüstete ihn vordem nach den Palästen, so gelüstet ihn jetzt nach den Pferchen; warens ehemals die Grafen und die Sängerinnen, die Kavaliere und die perlenbehängten Kokotten, so sinds jetzt die Schnapsbrüder und die Spitalsweiber, die Zuhälter und die Huren. Gelüst ists, Gelüst, kein Tempelgang, kein Aufblick, keine Weihe; Gelüst nach dem Nagel und dem Brett, nach der Glocke und dem Meßstab, dem Stein und der Wurzel, der Kelle und dem Hammer, Gelüst nach dem, worin die Kraft liegt, wovon das Leiden ausgeht, worin das Wissen ruht. Ich habe seine Blicke glänzen gesehen, als ich vom Sterben einer Verworfenen sprach, und vom Ertrinkungstod eines taubstummen Knaben, meines leiblichen Bruders, an dem er schuldig war; und vom Selbstmord eines andern, den ich in meiner zertretenen Jugend ins Grab gebracht; ich sah ihn bei seinen Juwelen und seinen Gemälden und seinem Silbergeschirr und den Blumen seiner Häuser und seinen kostbaren Büchern, und wie alles anfing, ihm nicht mehr zu schmücken, und wie er hungrig aufhorchte bei den Wehklagen aus Kerkern und wie der Angstschlaf über ihn kam. Und nun spielt er mit den Armen und den Dingen der Armen und wandelt vorüber und sammelt an und ergötzt sich, und greift nach dem und greift nach jenem, und will wissen, was drinnen ist und was es bedeutet, und bleibt derselbe, der er war. Darin ist kein Heil, wie denn geschrieben steht: Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört, und in keines Menschen Herz gekommen, hat Gott denen, die ihn lieben, bereitet.

Warum aber folgt ihm das Weib? Warum schlägt sie die Unsummen aus, die ihr die Familie bereits angeboten hat, wenn sie ihn verläßt? Warum kehrt sie widerspruchslos in die früheren Bezirke zurück, da sie doch nach seinem Gold, seinen Edelsteinen, seinen Landhäusern und Gärten, seiner Macht und seiner Freiheit lechzt und lechzen muß? Was hält sie, worauf wartet sie, welches Satanswerk ist da im Zuge? Es geschah an einem der letztvergangenen Tage, daß ich bei greulichem Schneetreiben mit ihm nach Hause ging. Er hatte mir einen Brief seines Freundes Crammon zu lesen gegeben, ein larmoyantes Geschreibsel, wie man es eher einem Blaustrumpf als einem Mann von Vernunft zumuten möchte; wir stritten darüber, d. h. er nahm es nicht ernst, während ich mich in Zorn redete; er erzählte mir dann, daß am Tag zuvor der Baron von Thüngen bei ihm gewesen sei; das ist auch einer von den früheren Kumpanen; vielleicht erinnern Sie sich seiner, er gehörte zu denen, die um die Eva Sorel scharwenzelten, so ein rotblonder, gezierter Modenfex; der also sei gekommen, nachdem er lang nach ihm gesucht, sei von mittags bis abends bei ihm gesessen und habe allerlei geredet; daß er mit seinem Leben unzufrieden sei und sich nach einem andern Leben sehne, daß er nicht wisse, was er beginnen solle und bisweilen eine unerträgliche Traurigkeit über ihn hereinbreche, daß er immer schon eine starke Sympathie für Wahnschaffe empfunden und nur nicht gewagt habe, ihm näherzutreten, und daß er nichts andres wünsche, als manchmal eine Stunde in seiner Gesellschaft zubringen zu dürfen. Das alles berichtete mir Wahnschaffe halb verlegen, halb verwundert, ich konnte aber nicht klug daraus werden und sagte, das sei wahrscheinlich einer von den übergeschnappten Müßiggängern, die den Appetit verloren haben und ihren Gaumen mit einer gepfefferten Speise reizen wollen. Er nahm mir die Grobheit nicht übel, sondern erwiderte bloß, er wolle nicht vorschnell urteilen. Bei unserm Ziel angelangt, ging ich mit ihm in die Wohnung der Karen Engelschall hinauf, denn, ärgerlich, wie ich war, mochte ich ihn jetzt nicht verlassen, wo er mich wieder einmal durch seine eiskalte Nüchternheit geschlagen hatte. Als wir den schmalen Vorraum passiert hatten, hörten wir aus der Küche die kreischende Stimme der Karen und dazu das Geräusch von Holzhacken. Wir machten die Küchentür auf; das schwangere Weib kniete auf der Erde beim Herd und spaltete Holz mit einer Hacke. Auf einem Stuhl an der Wand lehnte mit käseweißem Gesicht und geschlossenen Augen das junge Mädchen, das sie zur Bedienung hat, eine gewisse Isolde Schirmacher. Die war von einem Unwohlsein befallen worden, vielleicht war es sogar eine Art epileptischer Krampf; sie saß mit starren Gliedern, den Kopf hintüber gebeugt. Offenbar hatte sie vorher die Scheite gehackt, und als das Übel kam, hatte ihr Karen die Arbeit abgenommen. Aber der Zustand des Mädchens schien ihr weiter keine Sorge zu verursachen; sie spaltete das Holz mit der Hacke, bemerkte dabei gar nicht, daß wir auf der Schwelle standen, und führte lästerliche Reden, die sich auf ihre Schwangerschaft bezogen: sie möge nicht wieder so einen Balg haben, ihr graule davor, erdrosseln müsse man es, bevor es noch den ersten Piepser ausgestoßen habe, und dergleichen Unflätigkeiten die Menge. Die Feder sträubt sich, sie wiederzugeben. Da ging Wahnschaffe hin und hob die Isolde Schirmacher von ihrem Stuhl auf und trug sie, als wärs überhaupt keine Last, in die Kammer nebenan und legte sie aufs Bett. Hierauf kam er zurück, sagte zu Karen: laß das doch, Karen, und nahm ihr die Hacke aus der Hand und schichtete die gehauenen Scheite aufeinander. Das Weib war erschrocken, sie ließ alles geschehen und schwieg, wie wenn ihr die Sprache erstorben wäre. Das also habe ich mitangesehen, und aus diesem Momentbild können Sie schon entnehmen, was für eine Person das ist und wie Wahnschaffe mit ihr verfährt und mit ihr haust.

Es ist kein Frieden mehr in mir. Aus einer unsichtbaren Wunde am Leib der Welt rieselt Blut. Ich rufe nach einem Gefäß, um es aufzufangen, aber niemand bringt mir ein Gefäß. Oder ist in mir selber die Krankheit und die Wunde? Gibt es eine Sehnsucht des Schattens nach seinem Körper? Ist es denkbar, daß das Unmögliche sich ereignet und der, der es erfleht, erschluchzt, auf Knien erträumt und erstammelt hat, spürt nichts davon? Mein Fräulein, das Verhängnis liegt darin: ich habe nun gelernt, die Frucht vom Aas zu unterscheiden, das Bittre vom Süßen, das Duftende vom Stinkenden, was wohltut von dem was wehtut. Andrerseits weiß ich, seit ich es erforsche, wie Glieder in den Gelenken sitzen, wie Wirbel sich auf Wirbel baut, Muskel sich um Muskel flicht, Gewebe auf Gewebe wächst, die Adern pulsen, das Hirn gelagert ist. Ich kann die Zauberuhr öffnen und in die ewig erstarrte Mechanik greifen, ein wundervoller Schauder. Da ist Ausgleich; ich zahle an der finstern Pforte des Daseins immer wieder das Einlaßgeld für die lichten Regionen. Neulich hatte ich ein Gesicht: Sie standen vor einem jungen Leichnam an meiner Seite und verlangten, ich solle das Herz herausschneiden, das den Tod des Leibes um ein weniges überlebt hatte und unter meinem Messer zuckte.

Dies wollte ich Ihnen noch mitteilen, und damit bin ich am Schlusse.«

Johanna blieb über dem Brief die Nacht hindurch und bis in den Morgen sitzen. Vor den Fenstern heulte der Märzsturm. Ihr hübsches Mädchenzimmer mit der weißseidenen Wandbespannung und den weißlackierten Möbeln, morgen sollte sie es für immer verlassen, war ihr bereits jetzt entschmückt und geraubt.


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