Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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Globus auf den Fingerspitzen einer Elfe

1

Crammon hatte recht behalten: zehn Monate hatten genügt, um die Augen einer Welt auf die Tänzerin Eva Sorel zu lenken. In den großen Zeitungen stand ihr Name unter den Zelebritäten, ihre Kunst galt als hohe Blüte der Epoche.

Es lagen ihr alle zu Füßen, deren geistig-unruhigem Verlangen sie eine Gestalt dargeboten hatte. Die Vorläufer der gehetzten Menschheit schöpften Atem und blickten zu ihr empor. Die Anbeter der Form und die Verkünder eines neuen Rhythmus warben um ein Lächeln ihres Mundes.

Sie blieb gelassen und gegen sich selber streng. Der Lärm des Beifalls ermüdete sie manchmal. Von den Verheißungen gieriger Unternehmer bedrängt, verspürte sie nicht selten ein leises Grauen. Ihr innerer Blick, gegen ein unerreichbares Ziel gekehrt, trübte sich vor Leichtzufriedenen, die Dank stammelten. Diese, schien es ihr, wollten sie betrügen. Und sie flüchtete zu Susanne Rappard und ließ sich schelten.

»Wir sind ausgezogen, die Welt zu erobern,« sagte Susanne; »sie gibt sich dir fast ohne Kampf, warum triumphierst du nicht?«

»Was meine Hände halten und was meine Augen fassen, gibt mir noch keinen Grund zu triumphieren,« erwiderte Eva.

Susanne jammerte: »Närrin, iß dich satt, da du doch gehungert hast.«

»Sei still,« wehrte Eva ab, »was weißt du von meinem Hunger.«

Ihre Schwelle wurde belagert, doch sie empfing nur wenige, die sie sorgfältig auswählte. Sie lebte in einer Blumenwelt. Jean Cardillac hatte ihr ein entzückendes Hotel eingerichtet, dessen Gartenterrasse ein tropisches Paradies war. Wenn sie dort am Abend saß oder lag, unter dem gemilderten Lampenschein, von leise plaudernden Freunden umgeben, deren absichtslosester Blick eine Huldigung war, schien sie dem Bereich des Willens und der Sinne entrückt und weilte nur noch als schöner Leib im gegenwärtigen Raum.

Die ihr jede Verwandlung zutrauten, erstaunten doch über eine plötzliche, deren Ursache ein Unbekannter und Unscheinbarer war. Der junge Fürst Alexis Wiguniewski hatte ihn bei ihr eingeführt. Er hieß Iwan Michailowitsch Becker. Er war klein und häßlich, hatte tiefliegende Sarmatenaugen, Lippen, die wie geschwollen aussahen, und schwarzes Bartgestrüpp an Kinn und Wangen. Susanne fürchtete ihn.

Es war eine Nacht im Dezember, der Schnee lag vor den Fenstern, da hatte Iwan Michailowitsch Becker acht Stunden lang in dem kleinen Zimmer, wo die italienischen Teppiche hingen, mit Eva Sorel gesprochen. Im Zimmer daneben ging Susanne fröstelnd auf und ab, gewärtig, einen Hilferuf der Herrin zu vernehmen; sie hatte einen alten Schal um die Schultern geworfen, von Zeit zu Zeit zog sie eine Krachmandel aus der Tasche, zerbiß sie und spuckte die Schale in den Kamin.

In dieser Nacht ging Eva nicht schlafen, auch nicht, als der Russe sie verlassen hatte. Sie trat ins Schlafgemach, ließ ihre Haare aus Reif und Kämmen fallen, so daß sie Haupt und Leib umhüllten, während sie auf einem niederen Sessel saß und das glühende Gesicht zwischen den flachen Händen hielt. Susanne, die gekommen war, um ihr beim Entkleiden zu helfen, kauerte neben ihr auf dem Boden und wartete auf ein Wort.

Endlich brach die junge Herrin das Schweigen. »Lies mir den dreiunddreißigsten Gesang der Hölle vor,« bat sie.

Susanne holte zwei Kerzen und das Buch. Die Kerzen stellte sie auf den Teppich, das Buch legte sie auf Evas Knie, und so las sie eintönig und klagend, aber mit klarer Stimme, die gegen den Schluß, dort namentlich, wo von den erstarrten und gefrorenen Tränen die Rede ist, sicherer und gehobener wurde.

»Lo pianto stesso li pianger non lascia; / E'l duol che truova 'n su gli occhi rintroppo / Si volve in entro a far crescer l'ambascia: / Che le lagrime prime fanno groppo / E, si come visiere di cristallo / Riempion sotto 'l ciglio tutto 'l coppo.«

Als sie fertig war, erschrak sie vor der leuchtenden Nässe in Evas Augen.

Eva erhob sich, beugte den Kopf in den Nacken zurück, und mit geschlossenen Augen sagte sie: »Die Verdammnis will ich tanzen. Die Verdammnis in der Hölle und die Erlösung.«

Da schlang Susanne die Arme um Evas Knie und preßte die Wange an die bronzegelbe Seide des Gewands. »Du kannst alles, was du willst,« murmelte sie liebkosend.

Seit dieser Nacht erfüllte sie ein drängenderes Feuer, und ihr Tanz hatte Linien, wo die Schönheit an den Schmerz grenzt. Es gab verzückte Propheten, die behaupteten, sie tanze das neue Jahrhundert, den Untergang der alten Ideen, die kommende Revolution.

2

Als Crammon sie wiedersah, zwang ihn die erlesene Bestimmtheit der großen Dame, mit der sie auftrat, zu schweigender Anerkennung. Und wieder begann das unruhige Brennen in seiner Brust.

Er sprach mit ihr von Christian Wahnschaffe; eines Abends brachte er ihn mit. In Christians Gesicht war Strahlendes; Adda Castillo hatte es mit ihrer Leidenschaft durchtränkt. Eva spürte den Hauch einer andern Frau an ihm; ihre Miene verriet spöttische Neugier. Ein paar Sekunden lang standen der Jüngling und die Tänzerin einander gegenüber wie zwei Statuen auf Postamenten.

Ob er mirs jemals danken wird, was ich da für ihn getan habe, dachte Crammon. Er reichte Susanne den Arm und ging mit ihr im Bildersaal auf und ab.

»Hoffentlich ist er ein Prinz, Ihr blonder deutscher Freund,« sagte Susanne sorgenvoll.

»Ein Prinz, der inkognito dieses Jammertal bereist,« antwortete Crammon. »Ihr habt euch prächtig verändert,« fuhr er, sich umblickend fort und blähte die Nasenflügel, »ich bin zufrieden mit euch. Ihr seid klug und versteht euch auf das Weltgetriebe.«

Susanne blieb stehen und erzählte von dem, was sie beunruhigte. Sie erzählte von Iwan Michailowitsch Becker. Wie er von Zeit zu Zeit komme und stundenlang währende Gespräche mit Eva führe; wie sie jedesmal danach die Nacht außer Bett zubringe, auf keine Frage antworte und mit glänzenden Augen starr vor sich hinschaue. Wer wolle dem wunderbaren Kind eine Laune verwehren? Diese aber könne einen gefährlichen Weg nehmen; eine so zart schwingende Seele dürfe nicht von den täppischen Händen eines hergelaufenen Finsterlings roh mit Gewichten beschwert werden. »Was raten Sie zu tun, Herr von Crammon?« schloß Susanne.

»Ich werde nachdenken,« sagte Crammon, sein glattes Kinn reibend, »ich werde nachdenken.« Er setzte sich in eine Ecke, stützte den Kopf in die Hand und dachte nach.

Eva plauderte mit Christian. Bisweilen lachte sie über seine Bemerkungen, bisweilen schien sie fremd berührt und staunte. Auch wo sie des besseren Urteils sicher war, staunte sie und wollte lernen. Mit Wohlgefallen betrachtete sie seine Gestalt, und einmal bat sie ihn, er möge ihr einen Gegenstand holen, der auf dem Tische lag, eine Dose aus Onyx, gefüllt mit Halbedelsteinen. Sie wollte sehen, wie er ging und sich bewegte, wie er nach der Dose griff und sie ihr gab. Sie schüttete die Steine in ihren Schoß und spielte mit ihnen, ließ sie durch die Finger gleiten und sagte lächelnd zu Christian, er hätte ein Tänzer werden sollen.

Er erwiderte naiv, er tanze im allgemeinen nicht gern, aber mit ihr zu tanzen, würde ihn reizen. Da lachte sie wieder belustigt, versprach ihm jedoch, sie wolle mit ihm tanzen. Zwischen ihren Fingern blitzten die Steine, und ein Zucken ihres Mundes verriet Unmut und Stolz, aber auch Mitleid mit diesem Unwissenden.

Als sie lachte, wurde Christian verlegen, und als sie schwieg, fürchtete er sich vor ihren Gedanken. Er hatte in naher Stunde eine Verabredung mit Adda Castillo, er versäumte die Zeit, trotzdem er eine eifersüchtige Szene zu fürchten hatte. Eva erschien ihm so unbekannt als erforschenswert, alles an ihr, Ton, Gebärde, Antlitz und Wort erschien ihm so völlig neu, daß er sich nicht loszureißen vermochte und seine dunkelblauen Augen mit einer Art von Dringlichkeit an ihr hingen. Auch als ihre Freunde kamen, Cardillac, Wiguniewski, der Marquis d'Autichamps, blieb er.

Eva aber hatte einen Namen für ihn gefunden. Sie nannte ihn Eidolon. Eidolon, rief sie ihn, mit dem Klang spielend, wie sie mit den bunten Steinen in ihrem Schoß gespielt hatte.

3

Eines Nachts betrat Crammon ein Kaffeehaus an einem der äußeren Boulevards, »le pauvre Job«, spähte eine Weile durch den Raum und setzte sich dann unfern von einem Tisch nieder, an welchem mehrere junge Leute von fremdem Aussehen sich leise in einer fremden Sprache unterhielten.

Es war eine Gesellschaft von russischen Flüchtlingen, deren Zusammenkunftsort er ausgeforscht hatte. Ihr Haupt war Iwan Michailowitsch Becker. Indem er sich stellte, als läse er in einer Zeitung, beobachtete Crammon mit Aufmerksamkeit diesen Mann, den er nach einer Photographie erkannte, welche ihm Fürst Wiguniewski gezeigt. Er hatte ein so fanatisches Gesicht nie gesehen. Er verglich es mit einem schwelenden Feuer, das Hitze und Qualm um sich verbreitet.

Man hatte ihm erzählt, daß Iwan Becker sieben Jahre in Gefängnissen und fünf Jahre in Sibirien geschmachtet habe, daß Tausende und aber Tausende junger Menschen seines Volks ihm schrankenlos ergeben seien und es nur eines Winks von ihm bedürfe, damit sie sich opferten mit Leib und Seele.

Da hausen sie im lichtesten Bezirk der bewohnten Erde und brüten ihre Greuel aus, dachte Crammon böse.

Crammon war ein Gegner des Umsturzes, obwohl er es, wenn seine Bequemlichkeit nicht gefährdet war, ganz gern sah, daß der kleine Mann dem satten Bürger etwas am Zeug flickte. Er war ein Freund des kleinen Mannes; er war dem Volk leutselig zugeneigt. Doch achtete er das Herkommen, widersetzte sich dem Bruch der Gerechtsame und verehrte seinen Monarchen. Jede Neuerung im Staatsleben erfüllte ihn mit unheilvollen Ahnungen, und er seufzte über die Schwäche der Regierenden, die sich von nichtswürdigen Parlamenten das Steuer entwinden ließen.

Es war etwas Drohendes an der Peripherie seiner Welt; Lampen wurden vom Sturmwind ausgeblasen, und was dann, wenn der Lichterglanz völlig verlosch? Illumination war das wesentlich Beruhigende des Lebens.

Breit und ernst saß er da, im Gefühl seiner Überlegenheit und seiner guten Taten. Er hatte beschlossen, als Vertreter der Ordnung dem Rebellen ins Gewissen zu reden, falls sich ein geeigneter Anlaß bot. Dabei quälte ihn nicht so sehr die Furcht um den Bestand des Zarenthrons als die Sorge um Eva Sorel. Es war notwendig, die Tänzerin aus den Netzen des Menschen zu befreien.

Die Fügung begünstigte sein Vorhaben. Einer nach dem andern entfernte sich vom Tisch drüben, und schließlich blieb Iwan Becker allein. Crammon nahm sein Glas Absinth, ging hinüber und stellte sich dem Russen vor, wobei er sich auf seine Bekanntschaft mit dem Fürsten Wiguniewski berief.

Becker wies stumm auf einen Stuhl.

Getreu seiner leutseligen Veranlagung, machte Crammon durchaus den Liebenswürdigen, der sich in jede menschliche Abnormität zu schicken weiß. In unverfänglichen Windungen näherte er sich seinem Ziel; das giftige Gestrüpp politischer Themen streifte er kaum; daß im europäischen Westen die private Freiheit auserwählter Personen unangetastet bleiben müsse und man gezwungenermaßen Gewalt gegen Gewalt setzen werde, ließ er nur zart in der Andeutung. Aber es war ein Mahnruf. Iwan Michailowitsch Becker lächelte nachsichtig.

»Wenn der ganze Himmel von den Feuersbrünsten lodert, die euer heiliges Rußland verheeren,« sagte Crammon pathetisch, und seine Mundlinien senkten sich in rechten Winkeln gegen das eckige Kinn, »wir werden, was uns heilig ist, zu schützen wissen. Caliban ist eine imposante Bestie; vergreift er sich an Ariel, so mag ers bereuen.«

Wieder lächelte Iwan Michailowitsch, sonderbar weich und mild, was seinem häßlichen, auffallend großräumigen Gesicht einen frauenhaften Ausdruck verlieh. Er lauschte wie um sich belehren zu lassen.

Hierdurch ermutigt, fuhr Crammon fort: »Was hat Ariel zu schaffen mit eurem Jammer? Er schaut zurück im Schreiten, ob man die Spuren seiner Füße küßt, und fordert Freude und Ruhm, nicht Blut und Gewalt.«

»Ariels Füße tanzen über offene Gräber,« sagte Iwan Michailowitsch mit leiser Stimme.

»Eure Toten sind gut aufgehoben, mit den Lebendigen werden wir fertig,« erwiderte Crammon.

»Wir kommen,« sagte Iwan Michailowitsch noch leiser, »wir kommen.« Dies klang rätselhaft.

Halb ängstlich, halb verächtlich blickte ihn Crammon an. Nach einer langen Pause ließ er sich obenhin vernehmen: »Ich treffe das Herzaß auf zwölf Schritt Entfernung unter fünf Schüssen viermal.«

Iwan Michailowitsch nickte. »Ich nicht,« antwortete er fast demütig und zeigte seine rechte Hand, die er sonst geschickt zu verbergen wußte. Sie war verkrüppelt.

»Was ist mit Ihrer Hand geschehen?« fragte Crammon erschrocken.

»In dem unterirdischen Kerker zu Kasan, worin ich lag, hat mich ein Aufseher zu hart an die Fessel geschmiedet,« murmelte Iwan Michailowitsch.

Crammon schwieg; aber Iwan Michailowitsch fuhr fort: »Sie werden auch bemerkt haben, daß mir das Sprechen Schwierigkeiten bereitet. Ich habe zu lange einsam gelebt, in der Schneewüste, in einer Hütte aus Holz, in eisiger Kälte. Ich war der Worte entwöhnt. Ich litt, doch das ist auch nur ein Wort: Leiden. Was könnte man sagen, wie sich verständlich machen? Mein Körper war nur noch ein Gerüst, ein Überbleibsel; mein Herz, das wuchs und schwoll, ja, was könnte man da sagen? Es war so groß, so blutrot, so schwer, daß es mir gleichsam zur Last wurde während der fürchterlichen Flucht, zu der ich mich endlich entschloß. Aber Gott hat mich beschützt.« Und er wiederholte leise: »Gott hat mich beschützt.«

In Crammons Kopf verwirrten sich die Begriffe. Dieser Mann mit der sanften Stimme und den schüchternen Augen eines Mädchens, war das der mordgierige Revolutionär und Barrikadenheld, auf den er gefaßt gewesen? Er wunderte sich und schwieg beklommen.

»Lassen Sie uns aufbrechen, es ist spät,« sagte Iwan Michailowitsch, erhob sich, warf eine Münze auf den Tisch und trat an Crammons Seite auf die Straße. Er begann wieder, zögernd und scheu: »Ich will mir kein Urteil anmaßen, aber ich verstehe die Menschen hier nicht. So selbstgewiß und vernünftig; sie ist ja der vollendete Wahnsinn, diese Art Vernunft. Das Tier ist klüger, das von seiner Stätte flieht, wenn es ein Erdbeben spürt. Noch etwas, Monsieur. Ein Wort noch über das Wesen, das Sie so ausdrücklich in Ihren Schutz nehmen. Ariel ist moralisch nicht belastbar. Niemand denkt daran, es zu tun. Da ist nur Linie, nur Gebärde, nur Schönheit. Meinen Sie nicht, daß die dunklere Farbe und tiefere Kraft, die das Wissen um übermenschliche Leiden gibt, diese Kunst über die Interessensphäre müßiger Schmecker hinausheben kann? Wir brauchen Herolde, die über den Idiomen der Völker stehen; da sind Möglichkeiten, von denen man nur mit Verzweiflung im Herzen träumen kann.« Er nickte einen Gruß und ging.

Crammon war es wie einem, der in leichtem Sommeranzug fröhlich ausgezogen ist und, von einem Platzregen überrascht, naß und verdrossen heimkehrt. Die Uhren schlugen zwei. Eine Sängerin von der Komischen Oper erwartete ihn seit Mitternacht; er trug ihren Wohnungsschlüssel in der Tasche. Als er über die Seinebrücke schritt, ergriff er den Schlüssel und schleuderte ihn in einem Anfall heftigen Mißmuts ins Wasser.

»Süßer Ariel,« sprach er vor sich hin, »ich küsse die Spuren deiner Füße.«

4

Adda Castillo merkte, daß Christian sich von ihr abwandte. Sie hatte es nicht erwartet, nicht nach so kurzer Zeit. Als sie ihn erkalten sah, wuchs ihre Liebe. Da wuchs auch seine Gleichgültigkeit, und ihr leidenschaftliches Herz büßte die Ruhe gänzlich ein.

Sie war an Wechsel gewöhnt, war viel geliebt worden, trotz ihrer Jugend, hatte viele geliebt und Treue nie gefordert, noch gehalten. Aber dieser Mann war ihr mehr, als andre gewesen waren.

Sie wußte, an wen sie ihn verlor; sie hatte die Tänzerin gesehen. Christian, zur Rede gestellt, gab offen zu, was sie bloß als Verdacht geäußert hatte, um beschwichtigt zu werden. Sie verglich. Sie fand, daß sie schöner sei als Eva Sorel, ebenmäßiger, rassiger, feuriger; ihre Freunde bestätigten es. Dennoch spürte sie, daß dort ein Vorteil war, gegen den sie unterlag, den weder sie noch einer ihrer Schmeichler benennen konnte; um so mehr fühlte sie sich beleidigt.

Sie schmückte sich, sie trieb kokette Spiele, sie entfaltete alle Seiten ihres wilden und hinreißenden Temperaments; es war umsonst. Da schwor sie Rache, ballte die Fäuste, stampfte auf den Boden; sie bettelte, lag auf den Knien vor ihm und schluchzte. Eines war so töricht wie das andre. Er wunderte sich und fragte gelassen: »Warum entwürdigst du dich so?«

Eines Tages teilte er ihr mit, daß sie auseinander gehen müßten. Sie wurde kreideweiß und zitterte. Plötzlich riß sie einen Revolver aus ihrem Täschchen, zielte auf ihn und drückte zweimal ab. Er hörte die Kugeln an seinem Kopf vorüberzischen, die eine links, die andre rechts. Sie schlugen in den Wandspiegel und zertrümmerten ihn; die Scherben fielen klirrend zu Boden.

Leute Christians stürzten an die Tür. Christian ging hinaus und erklärte den Vorfall harmlos als die Folge einer Unvorsichtigkeit. Zurückgekehrt, sah er Adda Castillo auf dem Sofa liegen, das Gesicht in Kissen vergraben. Keine Miene von ihm zeigte Schrecken über die Gefahr, der er entgangen war. Wie lästig dies alles und wie banal, dachte er. Er nahm Hut und Stock und verließ das Zimmer.

Erst lange nachher erhob sich Adda Castillo, schritt zum Spiegel und schauderte leicht zusammen, als sie nur noch ein Stück davon in einer Ecke des Rahmens stecken sah. Doch ordnete sie vor der Scherbe ihr kohlschwarzes Haar.

Ein paar Tage später kam sie zu Christian, zu einer letzten Unterredung von fünf Minuten, wie sie ihm auf einer Karte geschrieben hatte. Am selben Abend sollte die Abschiedsvorstellung für Paris sein, und sie bat ihn, er möge in den Zirkus gehen. Er zögerte mit der Antwort; ihre glühenden Augen in dem wachsbleichen Antlitz waren wie in Todesangst auf ihn geheftet. Ihm ward unbehaglich, aber in einer Regung von Mitleid sagte er zu.

Crammon begleitete ihn. Sie kamen gerade, als Adda Castillos Nummer begann; der Wagen mit den Löwen wurde in die Arena geschoben. Ihre Plätze waren ganz vorn. »Sie sind mir schon ein wenig langweilig, die guten Löwen,« räsonierte Crammon und hielt sein Lorgnon an die Nase, um die Leute zu mustern.

Adda Castillo im scharlachroten Trikot, die schwarzen Haare gelöst, Wangen und Lippen geschminkt, betrat den Käsig, in welchem sich fünf Löwen, eine Mutter mit ihren vier Jungen, befanden. Mochte sein, daß etwas im Wesen der Bändigerin die Tiere reizte; Teddy, der jüngste Löwe, stellte sich gegen seine Mutter, brummte gewaltig und erhob die Tatze gegen sie. Adda Castillo stieß ihren Pfiff aus und machte eine Gebärde, um die beiden auseinanderzutreiben. Teddy duckte sich und fauchte.

In diesem Moment drehte sich Adda Castillo, anstatt das Raubtier im Blick zu behalten, dem Publikum zu und durchsuchte mit funkelnden Augen die vordersten Reihen. Da sprang ihr Teddy an die Schulter und warf sie zu Boden. Ein Schrei aus vielen Kehlen ertönte, die Menschen erhoben sich, viele flüchteten, viele blickten gebannt und bleich in den Zwinger.

Nun geschah es, daß Trilby, die Mutter der jungen Löwen, mit einem riesigen Satz hinzusprang, nicht etwa, um die Herrin ebenfalls anzugreifen, sondern um sie zu retten. Mit furchtbaren Prankenhieben schlug sie Teddy beiseite und stellte sich schützend über das auf dem Boden liegende, aus zahlreichen Wunden blutende Mädchen. Aber die jungen Löwen, blutlüstern, warfen sich auf die Mutter, schlugen auf sie ein und bissen sie in den Rücken und in die Flanken, so daß sie sich heulend in einen Winkel zurückzog und das Mädchen seinem Schicksal überließ.

Mittlerweile waren die Wärter mit Spießen und langen Gabeln herbeigeeilt; zu spät. Die jungen Löwen hatten sich in den Körper Adda Castillos verbissen und ihn vollkommen zerfleischt. Erst als man auf die zerfetzten Leichenteile Formaldehyd spritzte, ließen sie davon ab.

Mitleids- und Angstrufe, Weinen und Händeringen von Frauen, Gewühl an den Ausgängen und Lärm der Helfer, ein Clown, der wie erfroren auf einer Trommel stand, ein Pferd, welches aus der Manege rannte, der Anblick des verstümmelten, zerrissenen, blutüberströmten Frauenkörpers mit den bunten, bluttriefenden Kleiderfetzen, es drang als Zusammenhang und Folge kaum recht in Christians Bewußtsein. Es war Wirrsal und Spuk. Er gab keinen Laut von sich, und sein Gesicht war blaß. Sein Gesicht war sehr blaß.

Während sie im Auto zu Jean Cardillac fuhren, bei dem sie zum Souper geladen waren, sagte Crammon: »Ich möchte nicht zwischen den Kinnladen eines Löwen enden, bei Gott nicht. Es ist ein grausamer Tod, ein jämmerlicher Tod.« Er seufzte und schielte verstohlen zu Christian hinüber.

Christian ließ den Wagen halten und bat Crammon, ihn bei Cardillac zu entschuldigen. »Was hast du vor?« fragte Crammon erstaunt.

Er wolle allein sein, antwortete Christian, er wolle ein wenig allein sein.

Crammon konnte sich nicht fassen. »Allein? Du? Wozu denn?« Aber Christian war bereits unter den Menschen verschwunden.

»Allein sein! Verrückte Idee,« brummte Crammon kopfschüttelnd, und er befahl dem Lenker, weiterzufahren. Er stülpte den Mantelkragen hinauf und weihte der unglücklichen Adda Castillo ein letztes Gedenken, ohne den Freund schuldig zu finden und ohne ihn zu tadeln.

5

»Eidolon ist nicht so heiter wie sonst,« sagte Eva zu Christian; »was ist geschehen? Eidolon darf nicht traurig sein.«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. Sie aber hatte von dem Vorfall im Zirkus gehört; sie wußte auch um Christians Beziehung zu Adda Castillo.

»Ich habe schlecht geträumt,« sagte er und erzählte.

»Es hat mir geträumt, ich war auf dem Bahnhof und wollte abreisen. Viele Züge kamen und fuhren in rasender Eile vorüber. Ich wollte fragen, was es bedeuten solle, und wie ich mich umdrehte, sah ich hinter mir, in einem weiten Halbkreis, eine unglaubliche Menge Leute stehen. Alle diese Leute schauten mich an, und wie ich mich ihnen näherte, wichen sie alle auf einmal langsam und stumm zurück, mit vorgestreckten Armen. Rings im Kreis wichen sie alle ganz langsam und stumm zurück. O, es war häßlich.«

Sie strich mit der Hand über seine Stirn, um das Häßliche fortzuwischen. Da erkannte sie die Macht ihrer Berührung und erschrak über ihr Bild in seinem Auge.

Als sie von der Bühne herab, sich verneigend und von Blumen überschüttet, seinem antastenden Blick begegnete, fühlte sie, daß Knechtschaft drohte. Als sie an seinem Arm zur Tafel schritt und das entzückte Raunen der Menschen vernahm, das ihnen beiden galt, schien sie sich wie das Opfer einer Verschwörung, und in jeder Gebärde war Zögern. Als Crammon, sich selbst verleugnend, überschwenglich von ihm sprach, Susanne sogar bei den nächtlichen Unterhaltungen von seiner hohen Abkunft phantasierte, als Cardillac unruhig wurde und Cornelius Ermelang, der junge deutsche Poet, der sie anbetete wie ein überirdisches Wesen, mit scheuen Augen fragte, da zerriß sie das unbequeme Gewebe, gab sich kalt und wurde unnahbar.

Sie wies Susanne zurecht, sie verspottete Crammon, sie lachte über Jean Cardillac, sie beugte scherzend das Knie vor dem Dichter, sie verwirrte ihren ganzen aufgeregten Hofstaat von Malern, Politikern, Journalisten und Dandies mit ihrer unfaßbaren Mimik und Beweglichkeit und sagte, Eidolon sei nur ein Trugbild, Eidolon sei ein Symbol.

Christian verstand dies nicht. Auch ihr Entstehen nicht, und dann das Umkehren und Locken. Es war etwas andres als Koketterie, etwas Tieferes als bloßes Spiel. Eine leidenschaftliche Gebärde, die er entstehen sah, wurde plötzlich verweisend, eine freudige fremd. Sie an ein gesagtes Wort zu binden, war vergeblich; da legte sie die Fingerspitzen gegeneinander, drehte den Kopf und schaute aus den Augenwinkeln kühl und listig zur Erde.

Einmal hatte er sie in die Enge getrieben, aber sie rief nach Susanne, lehnte sich auf deren Schulter und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Ein andermal sprach er, um zu erproben, wie sie es aufnähme, von seiner Abreise nach England; sie raffte mit anmutig gebogenen Händen das Kleid und sah ihre Füße an.

Ein andermal wieder warf er ihr vor, in dem heiteren und leichten Ton allerdings, der zwischen ihnen herrschte, daß sie ihn narre. Sie kreuzte die Arme und lächelte rätselhaft, fromm und wild zugleich; da sah sie aus wie aus einer byzantinischen Mosaik hervorgetreten.

Er wußte, mit welcher Freiheit sie lebte. Warum, so fragte er sich, bleibt mir versagt, was sie andern gewährt, die geringer sind?

Er suchte den Beweggrund zu erforschen, der sie leitete; aber ihm fehlten die Hilfsmittel dazu.

Er wußte nichts von dem geistigen Feuer der Tänzerin. Er hielt die Tänzerin für ein Weib gleich allen andern Weibern. Er sah nicht, daß bei ihr nur Neigen und Vorübergleiten sein durfte, was bei allen andern höchste Daseinsform und höchster Einsatz war. Ihm entging noch die Gestalt, verwischte sich der Kontur in seinem flimmernden Wechsel. Aus der sinnlichen Region einer Besessenen wie Adda Castillo kommend, atmete er hier eine geläuterte, unschwüle Luft, die ihn berauschte, aber auch ängstigte, die den Herzschlag beschleunigte, aber den Blick schärfte.

Es war alles voll Schicksal: wenn sie neben ihm ging; wenn sie im Bois Seite an Seite ritten; wenn sie in der Dämmerung beisammen saßen und er ihre helle Kinderstimme vernahm; wenn sie im Palmengarten ihre kleinen Affen neckte; wenn sie dem Klavierspiel Susannes lauschte und dabei die bunten Edelsteine von einer Hand in die andre rinnen ließ.

Als er sie eines Abends verlassen hatte, begegnete ihm Jean Cardillac im Torweg. Sie grüßten einander, dann blieb Christian unwillkürlich stehen und sah dem Manne nach, dessen Riesengestalt einen Riesenschatten auf die Stufen warf. Lauter unsichtbare kleine Sklaven folgten im Schutz dieses Schattens, und sie trugen die Schätze, die er Eva zu Füßen legte.

Zwangvolle Entschlossenheit kam über ihn. Sich mit dem Schatten zu messen, schien wichtig. Er kehrte um, die Diener ließen ihn passieren. Cardillac und Eva waren im Gemäldesaal, Eva auf einer Ottomane zusammengekauert, zusammengerollt, fast wie eine Schlange; unweit von beiden saß, glutäugig und regungslos, Susanne in einem niedrigen Sessel.

»Sie haben versprochen, Eva, mit mir zum Rennen nach Longchamps zu fahren,« sagte Christian, unter der Tür verharrend, um anzuzeigen, daß er sonst nichts begehre.

»Ja, Eidolon. Wozu die Mahnung?« antwortete Eva, ohne sich zu rühren, doch mit errötenden Wangen.

»Mit mir ganz allein –?«

»Ja, Eidolon, mit Ihnen allein.«

»Ich mußte plötzlich an meinen Traum denken, wie der Zug nicht hielt, in den ich einsteigen wollte.«

Sie lachte über den naiv-liebenswürdigen Ausdruck in seinen Worten; ihr Blick wurde sanft, und sie legte den Kopf auf das Kissen. Dann sah sie Cardillac an, der sich schweigend erhob.

»Gute Nacht,« sagte Christian und ging.

Nun war in diesen Tagen Sir Denis Lay eingetroffen, von Crammon erwartet und mit Enthusiasmus begrüßt. »Er ist der einzige lebende Mann, der dir ebenbürtig ist und dir in meinem Herzen den Rang streitig macht,« sagte Crammon zu Christian.

Sir Denis war der zweite Sohn von Lord Stainwood, berühmter Schüler von Oxford, wo er Neuerungen geschaffen hatte, die den Gesprächsstoff der vereinigten Königreiche ausmachten, Parteien gebildet hatte, in deren Kampf es um geheiligte Institutionen ging; Schütze, Jäger, Fischer, Seemann, Boxer, Ringkämpfer und gelehrter Philolog, zweiundzwanzig Jahre alt, schön, reich, lebensprühend, mit einer Legende von tollen Streichen und einer Glorie von Vornehmheit und Eleganz umgeben, die letzte, üppigste, edelste Blüte Englands.

Christian erkannte seine Vorzüge ohne Neid und wurde rasch sein Freund. An einem Abend hatte er Cardillac, Crammon, Wiguniewski, Sir Denis Lay, die Herzogin von Marivaux und Eva Sorel als Gäste bei sich. Da geschah es, daß Eva die Zusage brach, die sie ihm gegeben, vor der ganzen Tischgesellschaft, und mit leichtem Wort.

Sir Denis hatte den Wunsch geäußert, sie in seinem Wagen nach Longchamps bringen zu dürfen. Eva bemerkte Christians wertenden Blick, in dem noch Sicherheit war. Sie hielt eine Traube in der Hand, und als sie sie auf den Kristallteller legte, hatte sie den Verrat begangen. Christian erblaßte. Er fühlte, daß es keiner Erinnerung bedurfte; sie hatte gewählt, er trat schweigend zurück.

Eva langte wieder nach der Traube; sie zwischen flachen Händen emporhebend, sagte sie mit ihrem traumhaft begeisterten Lächeln, das Christian nun herzlos erschien: »Du schöne Frucht, ich will dich lassen, bis mich nach dir hungert.«

Crammon ergriff sein Glas und rief: »Wer für die Herrin ist, erweise ihr die Reverenz.«

Alle tranken Eva zu, Christian mit gesenkten Blicken.

6

Am andern Abend, nach ihrer Vorstellung, hatte Eva einige Freunde zu sich beschieden. Sie hatte in einer neuen Pantomime, den »Dryaden«, die tragende Rolle getanzt und einen großen Triumph gefeiert. In einer Wolke von Blumen kam sie nach Hause. Später brachte ein Diener einen Korb, der gehäuft voll von Briefen und Karten war.

Sie sank Susanne in die Arme und seufzte, freudig und erschöpft. Alle Poren glühten an ihr.

Crammon sagte: »Vielleicht gibt es Schurken, die so etwas nicht empfinden, aber für mich ist es herrlich, ein Menschenwesen auf dem Gipfel des Daseins zu sehen.«

Für dieses Wort überreichte ihm Eva mit graziöser Ehrerbietung eine rote Rose. Und das Brennen in seiner Brust wurde immer ärger.

Es war vereinbart worden, daß Christian und Sir Denis Lay miteinander Florett fechten sollten. Eva hatte darum gebeten; sie versprach sich Genuß und Belehrung von dem Anblick, den die beiden schön gewachsenen Menschen dabei bieten mußten.

Die Vorbereitungen waren beendigt; in dem Rundraum, wo die Teppiche hingen, traten Christian und Sir Denis einander gegenüber. Eva klatschte in die Hände, und sie nahmen ihre Positionen ein. Man hörte eine Weile nur die gedämpften, raschen, rhythmischen Sprungschritte, das leise Klirren der Degen. Eva stand hochaufgerichtet, ganz Auge, die Bewegungen mit Blicken trinkend. Christians Körper war schlanker und elastischer als der des Engländers, dieser wieder zeigte mehr Kraft und Freiheit. Sie waren wie Brüder, der eine in einem rauhen Klima aufgewachsen, der andre in einem milden; der eine auf sich selbst gestellt und von weit zurückreichender Zucht getragen, der andre von Zärtlichkeit umhorcht und ohne innere Führung. Dort war alles Saft, hier alles Schmelz, aber an Männlichkeit und Feuer gaben sie einander nichts nach.

Crammon war im siebenten Himmel der Begeisterung.

Als der Kampf beinahe zu Ende war, erschien Cornelius Ermelang und in seiner Begleitung Iwan Michailowitsch Becker. Eva hatte Ermelang aufgefordert, eine Dichtung vorzulesen; er und Becker waren einander seit langem bekannt, und da er den Russen im Torweg auf und ab schreitend getroffen, hatte er ihn einfach mit heraufgenommen. Es war das erstemal, daß Iwan Becker sich den andern Freunden Evas zeigte.

Beide setzten sich still abseits.

Christian und Sir Denis hatten sich umgekleidet, und nun sollte Ermelang lesen. Susanne setzte sich in Beckers Nähe und beobachtete ihn mit aufmerksamer Miene.

Cornelius Ermelang war ein schwächlicher Mensch, fast abschreckend häßlich. Er hatte eine steile Stirn, wasserblaue Augen mit verschleiertem Blick, eine kraftlos hängende Unterlippe und ein gelbliches, unscheinbares Stückchen Bart am untersten Ende des Kinns. Seine Stimme war außerordentlich sanft und leise; sie hatte etwas Singendes wie die eines Predigers.

»Sankt Franziskus Nachfolge,« hieß das Gedicht; sein Inhalt schloß sich der überlieferten Schrift an.

Einstmals weilte Sankt Franziskus in dem Kloster der Portiunkula mit Bruder Masseo von Marignano, der sehr heilig war und schön und verständig von Gott zu reden wußte. Darum liebte ihn Sankt Franziskus sehr. Eines Tages nun kehrte Sankt Franziskus aus dem Walde zurück, wo er gebetet hatte, und gerade, wie er aus dem Wald treten wollte, kam ihm Bruder Masseo entgegen und sprach: »Warum dir? Warum dir? Warum dir?« Sankt Franziskus antwortete: »Was willst du denn eigentlich sagen?« Bruder Masseo erwiderte: »Ich frage, warum alle Welt dir nachläuft, und warum jedermann dich sehen will und auf dich horchen und dir gehorchen; du bist kein schöner Mann, du bist nicht gelehrt, nicht von edler Abkunft; was ist es denn, daß alle Welt dir nachläuft?« Wie das Sankt Franziskus hörte, ward er sehr froh im Gemüte, und er hob sein Antlitz gegen den Himmel und blieb lange unbeweglich stehen, denn sein Geist war zu Gott erhoben. Als er aber wieder zu sich kam, warf er sich auf die Knie, pries und dankte Gott, wandte sich dann voller Inbrunst zu Bruder Masseo und sprach: »Willst du wissen, warum mir? willst du wissen, warum mir? willst du wissen, warum mir? warum mir alle nachfolgen? Das hat mir der Blick des allmächtigen Gottes ersehen, der allerorten auf Guten und Bösen weilt. Denn seine heiligen Augen sahen unter den Sündern keinen, der elender war denn ich, keinen, der untüchtiger war denn ich, keinen, der ein größerer Sünder war denn ich; und um das wundersame Werk zu vollbringen, das er sich vorgenommen, fand er kein Geschöpf auf Erden, das armseliger war denn ich. Darum hat er mich auserwählt, um die Welt zu beschämen mit ihrem Adel und ihrem Stolz und ihrer Stärke und ihrer Schönheit und ihrer Weisheit; auf daß da kund werde, daß alle Kraft und alles Gute von ihm ausgehet und nicht von der Kreatur, und niemand sich vor seinem Angesicht rühme. Wer sich aber rühmt, rühme sich in dem Herrn.« Da erschrak Bruder Masseo über diese Antwort, die so demütig war und mit so viel Inbrunst gesprochen.

In dem Gedicht ging dann Bruder Masseo in den Wald, aus welchem Sankt Franziskus gekommen, und es war ein orgelndes Brausen in den Baumwipfeln, das ihm vernehmlicher zu der Frage wurde: Willst du wissen, warum? willst du wissen, warum? Und er warf sich zur Erde, auf Wurzeln und Steine, er küßte Wurzeln und Steine und rief aus: »Ich weiß warum, ich weiß warum.«

7

Die Strophen hatten eine süße Ekstase; ein gedämpftes Hinrinnen war ihnen eigen, mit Reimen, die gleichsam versteckt waren.

»Es ist schön,« sagte Sir Denis Lay, der die deutsche Sprache vollkommen beherrschte.

Crammon sagte: »Es ist wie alte Glasmalerei.«

»Was mir am meisten gefällt,« fuhr Sir Denis fort, »ist, daß einem die Figur des Franziskus nahetritt und daß er jenes Bezaubernde hat, das ihm vor allen Heiligen zugeschrieben wurde, die Cortesia.«

»Die Cortesia? Was ist darunter zu verstehen?« fragte Fürst Wiguniewski. »Höflichkeit? Fromme Höflichkeit?«

Eva erhob sich. »Das ist es,« sagte sie, »das.« Und sie machte mit beiden Händen eine entzückende Gebärde. Alle sahen sie an. Sie fügte hinzu: »Geben, was mein ist, und nehmen, zum Scheine nur, was des andern ist. Das ist Cortesia.«

Christian hatte sich während dieses Gesprächs aus dem Kreis entfernt. Widerwille zeigte sich in seinem Gesicht. Auch während der Vorlesung hatte er es kaum ertragen, auf seinem Stuhle ruhig sitzen zu müssen. Er wußte nicht, was es war, das sich in ihm aufbäumte, ihn im höchsten Grad reizte. Hohn und Trotz erfüllten ihn und drängten ihn zu einer Kundgebung. Mit verstellter Gleichgültigkeit rief er Sir Denis Lay zu sich und begann mit ihm von dem Vollbluthengst zu sprechen, den Sir Denis zu verkaufen und den Christian zu besitzen wünschte. Er hatte vierzigtausend Franken schon geboten, jetzt bot er fünfundvierzigtausend, so laut, daß es alle hören konnten. Crammon trat wie ein Wächter an seine Seite.

»Eidolon!« rief plötzlich Eva.

Christian blickte zu ihr hinüber, schuldbewußt. Sie standen Aug in Auge. Die andern schwiegen betroffen.

»Er ist unter Brüdern soviel wert,« murmelte Christian, ohne den Blick von Eva zu lassen.

»Komm, Susanne,« wandte sich Eva zu ihrer Dienerin, und um ihren Mund zuckte es spöttisch und bitter, »komm. Er versteht zu fechten, und er versteht, Rosse zu erhandeln. Von Cortesia versteht er nichts. Gute Nacht, meine Herren.« Sie verbeugte sich und schlüpfte durch den grünen Türvorhang.

Bestürzt brach die Gesellschaft auf.

In ihrem Gemach angelangt, warf sich Eva auf einen Sessel und schlug erbittert die Hände vor das Gesicht. Susanne kauerte sich neben ihr auf den Boden und sah sie wartend und suchend an. Als eine Viertelstunde verflossen war, erhob sie sich, löste die Spangen aus Evas Haar und begann zu kämmen.

Eva ließ es geschehen. Sie gedachte des Meisters und seiner Lehre.


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