Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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29

Sie gingen aber dann zusammen fort, ohne daß sie noch Worte gewechselt hatten.

Der Pfandverleiher Grünbusch hatte schon geschlossen. Niels Heinrich suchte einen andern auf, in der Dunkerstraße, der ihm als verläßlich bekannt war. Er ließ Christian auf der Straße stehen, während er in das schmutzige Gewölbe schlüpfte. Er hatte eine Perle aus der Schnur gerissen, eine nur, zur Probe vorläufig, und bekam, nachdem sie der alte Hehler genau geprüft und gewogen hatte, eintausendfünfhundert Mark. Die Summe wurde ihm in Gold und Scheinen hingezählt. Er zeigte eine finstere Gleichgültigkeit. Er zählte kaum nach. Das Geld stopfte er in die eine Tasche des Rocks, die Scheine, beim Greifen sie zerknitternd, in die andre.

Geben? Was meint er, daß ich ihm geben soll? grübelte er; hat er am Ende schon Lunte gerochen, daß ich ihm die Perlen gemaust? Meint er das? Meint er, die soll ich ihm geben?

Als er wieder auf die Straße trat und Christian ohne Ungeduld und Argwohn warten sah, verzog er bloß das Gesicht. Und er setzte den Weg an seiner Seite wortlos fort.

Betäubt ertrug er die Wucht der fortwährenden Nähe des Menschen. Was daraus werden sollte, faßte er nicht.

Das Weinen des Menschen lag ihm in den Ohren und in den Gliedern. Es herrschte eine klare, kalte Stille in der Luft. Dennoch brauste es überall von dem Weinen des Menschen. Die Straßen, durch die sie kamen, waren zumeist wie ausgestorben. Dennoch war das Weinen drin, in weißliche Nebelgeister zerteilt. In den Häusern links und rechts mit den angeklebten Betonnestern der Balkone brauste es heimtückisch, das Männerweinen.

Er wagte nicht zu denken. Nebenher ging der Mensch und wußte den Gedanken. Ein Strick umschlang ihn, und er konnte sich nur insoweit bewegen, als es der Mensch gestattete. Wer ist er denn? fuhr es ihm durch den Kopf, und er besann sich auf den Namen. Der Name war ihm entfallen. Und alles was der Mensch ihm gesagt, dieser plötzlich namenlos gewordene Mensch, stob in feurigen Flocken durch sein Inneres.

Nach einer halben Stunde waren sie am Ziel.

Der »Flinke Gottlieb« war ein Animierlokal für Arbeiter und Kleinbürger. Es enthielt eine ziemlich große Zahl von Räumlichkeiten. Zuerst betrat man das Restaurant und Café, welches die ganze Nacht hindurch von Gästen besucht war und dessen Hauptattraktion in einem Dutzend hübscher Kellnerinnen bestand, sowie in zwanzig bis dreißig andern Damen, die lächelnd, rauchend und herausfordernd kostümiert auf den grünen Samtpolstern räkelten und auf Opfer lauerten. An das Restaurant stieß eine Reihe von zellenartigen Gemächern, die für einzelne Paare bestimmt waren, und dann kam noch ein länglicher, korridorartiger Saal, der gelegentlich an Gesellschaften und Vereine vermietet wurde oder den verbotenen Glücksspielen diente. Die Ausstattung der Räume entsprach dem Geschmack der Zeit: überall strahlte Vergoldung, überall brüsteten sich Genien aus Stuck; mächtige Säulen, die hohl waren und nichts zu stützen hatten, versperrten den Weg, und Malereien von imposanter Gestrigkeit schmückten die Wände. Alles war neu, und alles war schon Schmutz und Verfall.

Niels Heinrich schob sich durch die Drehtür, schaute sich geblendet um, schlurfte an den Tischen vorüber, trat in den Gang, aus welchen man in die zärtlichen Zellen gelangte, kehrte wieder zurück, stierte den Mädchen in die geschminkten Gesichter, rief den Oberkellner und sagte, er wolle in den Saal hinüber, er wolle den Saal für sich haben, was es koste, sei schnuppe; man möge mal gleich zwanzig Flaschen Kupferberg ins Eis legen. Er holte drei Hundertmarkscheine hervor und schleuderte sie dem Befrackten verächtlich hin. Damit war die Situation geklärt; der Befrackte schmeichelte sich durch eine würdige Amtsmiene ein; zwei Minuten später war der Saal festlich erleuchtet.

Es erschienen die Dirnchen; es erschienen junge Männer, Schmarotzer von Beruf; die frühverdorbenen Burschen mit dem Aussehen lungensüchtiger Lakaien; die unterstandslosen Kommis in ihrer buntscheckigen Eleganz; die zweifelhaften Existenzen mit dunkler Vergangenheit und noch dunklerer Zukunft; der »Flinke Gottlieb« hatte reichlichen Vorrat an ihnen. Sie pochten kordial auf alte Freundschaft mit dem Veranstalter des Gelages; er erinnerte sich keines einzigen, wies aber keinen zurück.

Er saß in der Mitte der langen Tafel. Er hatte den Filzhut in den Nacken geschoben, die Beine übereinandergelegt, die Zähne aufeinandergebissen. Er war weiß im Gesicht wie das Linnen auf dem Tisch. Freche Lieder wurden gesungen; man plärrte, schrie, kreischte, kicherte, witzelte, soff, wälzte und beschmatzte sich; Zoten wurden gerissen, mit Erlebnissen wurde geprahlt, auf Stühle wurde gestiegen, Gläser wurden zerschmettert: das Bacchanal räumte im Verlauf einer halben Stunde mit aller Nüchternheit und Steifheit auf. So gut traf es sich nicht oft, daß einer hereingeschneit kam und Kapitalien ausschüttete.

Niels Heinrich thronte kalt. Von Zeit zu Zeit rief er gebieterisch: »Sechs Flaschen Greno! ne Schokoladentorte! Neun Flaschen Witwe! ne Ladung Baisers!« Mehr sagte er nicht. Die Befehle wurden hurtig erfüllt und von der Versammlung mit Hoch und Hallo aufgenommen. Eine schwarzhaarige Person schlang den Arm um seine Schulter; er stieß sie brutal von sich. Sie muckste nicht. Eine feiste, übermäßig Geschminkte, bis an den Nabel Dekolletierte hielt ihm das Kelchglas an den Mund; er spuckte ingrimmig hinein. Beifall prasselte.

Er trank nicht. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein riesiger Spiegel. Er erblickte im Spiegel den Tisch und die Zecher. Er erblickte auch die rote Draperie, die die Wand in seinem Rücken bedeckte; ferner einige kleine Tischchen vor dieser Draperie, an denen niemand saß außer Christian. Durch den Spiegel blickte Niels Heinrich hinüber und musterte scheu den Abgesonderten, dessen stumme Gegenwart der Gesellschaft anfangs aufgefallen war, um den sich aber längst niemand mehr kümmerte.

Zur Linken von Niels Heinrich spielten vier Kerle »Meine Tante, deine Tante«. Sie lockten Publikum und Teilnehmer an. Niels Heinrich warf bisweilen ein paar Goldstücke auf den Tisch. Er verlor jeden Einsatz. Gleichzeitig griff er immer wieder in die Tasche und warf Goldstücke hin.

Er sah in den Spiegel und erblickte sich selbst: fahl, dürr, verschrumpft.

Er warf einen Hundertmarkschein hin. »Kleen Vieh macht ooch Mist,« renommierte er. Der Spiegel war verdeckt durch die Zuschauer. »Platz.« brüllte er sie an, »ick muß da durchgucken können.« Sie rückten gehorsam weg.

Er sah in den Spiegel und erblickte Christian, der schlank aufgerichtet vor der Draperie saß, horchend und unbeweglich.

Er warf zwei Scheine hin. »Die jehn Wasser holen,« brummte er.

Und wie er abermals in den Spiegel schaute, erblickte er einen nackten Rumpf, einen jungfräulichen Leib, strahlend in einer irdischen und in einer andern noch, einer überirdischen Reinheit. Die kaum geschwellten Brüste mit ihren rosigen Knospen hatten eine Süßigkeit der Form, die Bangen erzeugte, und ihr Enthülltsein war Schmerz. Nur der Rumpf war es, ohne Glieder, ohne Haupt. Wo der Hals endigte, war ein Ring aus geronnenem Blut; unten aber war das dunkle Dreieck der Scham als ein Mysterium.

Niels Heinrich stand auf. Der Stuhl hinter ihm stürzte zu Boden. Alle schwiegen. »Hinaus!« schrie er; »hinaus! hinaus! hinaus!« und deutete mit schwankendem Arm nach der Türe.

Die Tafelrunde erhob sich erschrocken. Einige zögerten, andre drängten bereits zum Ausgang. Außer Fassung griff Niels Heinrich nach dem Stuhl, schwang ihn über dem Kopf und schritt auf die Zögernden zu. Da stoben sie davon, die Dirnen kreischend, die Männer murrend. Nur die Kartenspieler waren sitzengeblieben, als ginge sie der Zwischenfall nicht an. Niels Heinrich strich mit der Hand über das Tischtuch, und die Karten flogen nach allen Richtungen. Die Spieler sprangen empor, entschlossen, sich zu wehren. Aber vor dem Anblick, den ihr Gegner bot, wichen sie zurück, und einer nach dem andern verließ den Saal. Gleich darauf kam der Befrackte, vornehm erstaunt, die Rechnung in der Hand. Niels Heinrich hatte sich, mit dem Rücken gegen den Spiegel, auf die Tischkante gesetzt. Dünner Schaum hing an seinen Lippen.

Er bezahlte. Die Höhe des Trinkgeldes milderte die abfällige Verwunderung des Befrackten. Ob der Herr noch Wünsche habe? Er wolle jetzt mal alleine saufen, antwortete Niels Heinrich; man möge ihm eine Flasche von der feinsten Marke bringen und Kaviar dazu. Eine der puppenhaften Kellnerinnen beeilte sich, brachte die Flasche, entkorkte sie. Niels Heinrich leerte gierig das Glas. Man solle die überzähligen Lichter auslöschen, gebot er, er brauche es nicht so helle. Man drehte die Lichter bis auf wenige Birnen ab, und es wurde düster im Saal. Kaviar wurde gebracht. Er verzog ekelnd den Mund. Man solle die Tür schließen und nur hereinkommen, wenn er am Knopf drücke, gebot er, und warf wieder Goldstücke hin. Es wurde ihm willfahrt.

Auf einmal war es still.

Niels Heinrich hockte noch auf der Tischkante.

Christian sagte: »Das hat lange gedauert.«

30

Niels Heinrich glitt von der Tischkante und fing an, durch die ganze Länge des Saals auf und ab zu gehen. Der Blick Christians folgte ihm unablässig.

Er habe mal ein Buch gelesen, sagte er, eine Geschichte von einem französischen Grafen, der habe ein unschuldiges Bauernmädchen umgebracht, habe ihr das Herz aus der Brust geschnitten, es gekocht und verspeist. Dadurch habe er die Fähigkeit erlangt, sich unsichtbar zu machen. Ob Christian glaube, daß an der Geschichte was dran sei?

Nein, er glaube es nicht, antwortete Christian.

Er seinerseits glaube ja auch nicht daran, aber daß in der Unschuld der Jungfrauen ein Zauber stecke, könne man doch nicht ableugnen. Vielleicht seien es verborgene Kräfte, die sie einem mitteilen. Es scheine sich ihm so zu verhalten, daß in den Schuldigen ein Trieb nach der Unschuld sei. Der Gedanke, welcher der Geschichte zugrunde läge, scheine ihm darauf hinauszulaufen, daß die Unschuld verborgene Kräfte verleihe. Ob er das leugne?

Nein, er leugne es nicht, antwortete Christian, dessen ganze Aufmerksamkeit durch dieses Verhör in Anspruch genommen wurde.

Der Herr habe aber doch behauptet, daß es keine Schuldigen gebe, wie sich das zusammenreime? Gebe es keine Schuldigen, so gebe es auch keine Unschuldigen.

»So ist es nicht aufzufassen,« entgegnete Christian, in die Enge getrieben und der Sonderbarkeit des Ortes, der Stunde, der Umstände in Nerv und Nieren bewußt; »Schuld und Unschuld stehen nicht in der Beziehung von Wirkung und Ursache. Eines leitet sich nicht vom andern her. Schuld kann nicht Unschuld, Unschuld nicht Schuld werden. Licht ist Licht, Finsternis ist Finsternis, aber eines wird nicht ins andre verwandelt, eines nicht vom andern gemacht. Licht geht von einem Körper aus, vom Feuer, von der Sonne, vom Gestirn; aber wovon geht Finsternis aus? Sie ist da. Sie hat keine Quelle. Keine sonst als die Abwesenheit von Licht.

Niels Heinrich schien nachzudenken. Immer auf und ab gehend, stieß er die Worte in die Luft: man sei beschwatzt; man sei von Kindesbeinen an heillos beschwatzt. Da habe es immer geheißen Sünde und Unrecht, und alles sei darauf angelegt gewesen, einem ein böses Gewissen zu machen. Habe man aber mal das böse Gewissen, so helfe kein Beichten und Gezüchtigtwerden mehr, kein Pastor und keine Absolution. Und man sei im Grunde doch bloß eine erbärmliche Kreatur. Eine geschlagene Kreatur sei man, in die Verdammnis hineinverdammt. Das habe ihm eingeleuchtet, was der Herr gesagt – und ohne Christian anzublicken, streckte er Arm und Zeigefinger nach ihm aus –, das habe ihm eingeleuchtet, daß keiner sollte richten dürfen. Das sei wahr, er habe auch noch keinen gesehen, zu dem man sagen könne, du sollst richten. Jeder trage das Schandmal, das Diebsmal, das Blutmal, jeder sei behaftet und jeder in die Verdammnis hineinverdammt. Aber wenn nicht mehr gerichtet werde, dann sei es Matthäi am letzten mit der bürgerlichen Welt, mit der kapitalistischen Welt, denn die beruhe auf Gericht, und daß sich Schuldige fänden, um die Schuld auf sich zu nehmen, und Richter, die nicht von Gnade wüßten.

Christian sagte: »Wollen Sie nicht das Auf- und Abwandern lassen? Wollen Sie sich nicht zu mir setzen? Kommen Sie zu mir. Setzen Sie sich zu mir.«

Nein, er wolle sich nicht zu ihm setzen. Er wolle das alles mal erklärt haben. Er wolle sich nicht wie 'n Schuljunge aufs Bänkchen ducken; der Herr sei ihm unverständlich, der Herr foppe ihn wieder mal mit Redensarten, der Herr solle ihm was Sicheres in die Hand geben, er verlange was Sicheres, woran er sich halten könne.

»Was meinen Sie damit: etwas Sicheres?« fragte Christian ergriffen; »ich bin ein Mensch wie Sie; ich weiß nicht mehr wie Sie; ich habe gefehlt wie Sie; ich bin hilflos und ratlos wie Sie; was soll ich Ihnen da geben? Ich Ihnen?«

»Aber ich,« stieß Niels Heinrich außer sich hervor, »was soll ich denn geben? Sie wollten doch was von mir haben; was denn? Was wollen Sie denn haben? Sie von mir?«

»Spüren Sie es nicht?« fragte Christian. »Wissen Sie es noch immer nicht?«

Sie sahen einander stumm in die Augen, denn Niels Heinrich war stehengeblieben. Ein Schauder, fast sichtbar, überrieselte ihn. Sein Gesicht war wie verbrannt von der Begierde eines Menschen, der an Gittern rüttelt, um frei zu werden.

»Hören Sie mal,« sagte er plötzlich mit einer verzweifelten und krampfhaften Gelassenheit, »ich habe da Ihre Perlen stibitzt, bei Ihnen zu Hause. Habe sie einfach in die Tasche gesteckt. Eine hab ich bereits verkitscht und das Lumpenvolk von dem Gelde besoffen gemacht. Sie können sie wieder haben, wenn Sie wollen. Die kann ich Ihnen geben. Wenns das ist, die kann ich Ihnen geben.«

Christian schien überrascht, aber seine leidenschaftlich gespannte Miene veränderte sich kaum.

Da griff Niels Heinrich in die Hosentasche und zog, da die Schnur sie nicht mehr hielt, die Hand mit Perlen gefüllt hervor. Er reichte sie Christian hin. Christian regte sich nicht. Er machte keine Anstalten, die Perlen an sich zu nehmen. Dies schien Niels Heinrich seltsamerweise zu erbittern, er öffnete die Hand, bis sie flach wurde und ließ die Perlen auf den Boden fallen. Weiß und glitzernd rollten sie auf dem Parkett hin. Und als sich Christian nach immer nicht regte, schien Niels Heinrichs Zorn zu wachsen, er kehrte den Taschensack nach außen, so daß alle übrigen Perlen auf einmal auf die Erde fielen.

»Warum tun Sie das?« fragte Christian, mehr verwundert als tadelnd.

Nun, vielleicht wolle sich der Herr ein bißchen Bewegung verschaffen, war die freche Antwort. Und wieder trat dünner Schaum, wie Eiweiß, auf seine Lippen.

Christian senkte die Augen. Dann geschah dies: er erhob sich, atmete tief, lächelte, bückte sich, ließ sich auf die Knie nieder und begann die Perlen zusammenzuklauben. Er nahm eine jede einzeln, um sich die Hände nicht zu sehr zu beschmutzen; er rutschte auf den Knien weiter und las Perle für Perle auf. Er langte unter den Tisch und unter die Stühle, wo vergossener Wein in kleinen Pfützen stand, und auch aus den ekligen kleinen Pfützen klaubte er die Perlen. Mit der rechten Hand sammelte er, und immer, wenn die linke halb gefüllt war, schob er die aufgelesenen Perlen in die Tasche.

Niels Heinrich schaute zu ihm nieder, dann floh sein Blick das Schauspiel, irrte durch den Raum, traf den Spiegel, floh den Spiegel, suchte ihn von neuem, bebte zurück. Der Spiegel war glühend geworden. Er sah sein Bild nicht mehr darin. Der Spiegel gab kein Bild mehr. Und er schaute wieder auf den Boden, wo Christian kroch, und Ungeheures ging in ihm vor. Es entrang sich ihm ein röchelnder Laut. Christian hielt inne in seiner Beschäftigung und sah zu ihm auf.

Er sah, und er begriff. Endlich! Endlich! Eine zitternde Hand streckte sich ihm entgegen. Er faßte sie. Sie hatte kein Leben. So hatte er noch niemals begriffen: den Leib, den Geist, die Zeit und die Ewigkeit. Die Hand hatte keine Wärme: es war die Hand der Tat, die Hand der Untat, die Hand der Schuld. Aber als er sie berührte, zum erstenmal, da fing sie an zu leben und sich zu erwärmen, da strömte Glut in sie hinein, Glut vom Spiegel, Glut des Dienstes, Glut des Erkennens, Glut der Erneuung.

Es war nicht mehr als die Berührung.

Niels Heinrich, heruntergezogen, sank in die Knie. In der Sache mit Joachim Heinzen, da ließe sich darüber reden, stammelte er kaum vernehmlich, mit einem gebrochenen Blick und erlöschenden Mienen. Und sie knieten, einer vor dem andern.

Sich selbst entrissen durch Berührung, gab der Mörder seine Schuld dem Menschen, der ihn richtete, ohne zu verdammen.

Er war frei. Und auch Christian war frei.

Der Saal hatte einen Nebenausgang, durch den man auch das Haus verlassen konnte. Sie verabschiedeten sich voneinander. Wohin Niels Heinrich ging, wußte Christian. Er selbst wandte sich zur Stolpischen Straße, stieg in Karens Wohnung hinauf, sperrte sich ein und schlief, in Kleidern, bis zum andern Mittag, dreiunddreißig Stunden lang.

Ein starkes Läuten weckte ihn auf.

31

Lorm war krank auf den Tod. Er lag in einem Sanatorium. Eine Darmoperation war vorgenommen worden; die Hoffnung, daß er genese, war gering.

Die Freunde besuchten ihn. Der treueste, Emanuel Herbst, verbarg seinen Schrecken und seinen Schmerz unter fatalistisch unveränderlicher Ruhe. Seit dem Tage, wo er auf dem Antlitz des geliebten Menschen die ersten Spuren von dem Vernichtungswerk des Schicksals wahr genommen hatte, widerte ihn das Getriebe an, in dessen Mitte er sich bewegte, diese Schattenwelt des Theaters; da das zentrale Feuer in seinem Körper erstickt war, ahnte er Nähe des Endes in vielen Dingen.

Auch Crammon kam oft. Er sprach gern von frühen Zeiten mit Lorm; Lorm ließ sich gern erinnern und lächelte. Er lächelte auch, wenn man ihm erzählte, wie zahlreich die Anfragen nach seinem Befinden seien, daß ununterbrochen aus allen Städten des Landes Telegramme einliefen und man daraus erfahre, wie tief sein Bild und Wesen in das Herz des Volkes gedrungen sei. Er glaubte es nicht; er glaubte es im Innersten nicht. Er verachtete die Menschen zu sehr.

Er glaubte nur an die Liebe eines einzigen Menschen, und das war Judith. An ihre Liebe glaubte er unerschütterlich, trotzdem ihm jede Stunde den Beweis hätte liefern können, daß er sich täuschte, jede Stunde des Tages, wo er das Verlangen äußerte, sie zu sehen, jede Stunde der Nacht, wo er sein Schmerzenswimmern verbiß, um die Ohren der bezahlten fremden Frauen, die ihn pflegten, nicht zu peinigen.

Denn Judith kam höchstens einmal eine halbe Stunde am Morgen oder eine halbe Stunde am Nachmittag, suchte durch Überzärtlichkeit und Übereifer ihre Unlust zu bemänteln, sagte: »Möpschen, wirst du nicht bald gesund?« oder »Schnuckchen, schäm dich doch, so lange faul zu liegen, während sich die arme Judith zu Hause nach dir sehnt,« erfüllte das Krankenzimmer mit Lärm und hundert unnützen Ratschlägen, zankte mit der Wärterin, kanzelte den Arzt ab, war kokett mit dem Professor, berichtete von den Nichtigkeiten ihres Lebens, von einer Reise ins Bad, von dem Diebstahl, den eine neue Köchin begangen, und hatte immer Gründe für die Beschönigung der kurzen Dauer ihres Bleibens.

Lorm bekräftigte diese Gründe. Er zweifelte an keinem einzigen. Er legte sie ihr in den Mund. Er war geradezu erfinderisch an Entschuldigungen für sie, wenn er in den Mienen andrer Erstaunen oder Mißbilligung über ihr Verhalten bemerkte. Er sagte: »Laßt sie; sie ist ein Luftwesen; sie hat ihre besondere Art von Anhänglichkeit, und ihre besondere Art von Kummer; man darf sie nicht mit gewöhnlichem Maß messen.«

Crammon sagte zu Lätizia: »Ich wußte nicht, daß diese Wahnschaffe eine so seelenlose Porzellanfigur ist. Es war immer meine Meinung, daß das Gerede von dem höheren Empfindungsleben des Weibes, so ungefähr lautet ja der Fachausdruck, eine jener verlogenen Fabeln ist, durch die wir zarteren und edleren Organe der Schöpfung zur Nachsicht bestimmt werden sollen. Aber eine solche Gemütsroheit kann einen Hausknecht schamrot machen. Geh zu ihr und rüttle ihr das Gewissen wach. Der herrlichste Künstler wird sterben, und sein letzter Seufzer wird einem Popanz gelten, der seinen Namen trägt wie ein Narr das Kleid eines Königs. Sie soll wenigstens der Form Genüge tun, sonst verdient sie, daß man sie steinigt. Man müßte wie im alten Indien die Witwe mit der Leiche des Gatten verbrennen. Schade, schade, daß es diese hübschen Gesetze nicht mehr gibt.«

Als Lätizia zu Judith kam, machte sie ihr sanfte Vorwürfe. Judith schien zerknirscht. »Das ist alles richtig, Kind,« antwortete sie, »aber sieh mal, ich kann und kann bei kranken Leuten nicht sein. Sie haben immer eine Maske. Sie sind gar nicht dieselben Menschen mehr. Es riecht so furchtbar bei ihnen. Sie erinnern einen an das Schauerlichste der Welt, an den Tod. Du wirst mir sagen: es ist doch dein Mann, dein ehelich angetrauter Mann. Um so schlimmer. Ich bin da wirklich in einem tragischen Konflikt. Man sollte eher Mitleid mit mir haben, als mich anschuldigen. Er hat nicht das Recht, zu fordern, daß ich meine Natur vergewaltige, und er fordert es auch nicht, er ist zu fein, er denkt zu groß dazu, nur die andern Menschen fordern es; aber was wissen die von uns? Was wissen sie von unsrer Ehe? Was wissen sie von meinen Opfern? Was wissen sie von einer Frau? Und sieh mal,« fuhr sie hastig fort, da sie Lätizias Befremden spürte, »es ist auch in diesen Tagen so viel los, so viel Unangenehmes. Mein Vater ist heute gekommen. Ich habe ihn nicht gesehen seit der Hochzeit mit Imhof. Weißt du übrigens, daß Imhof ein verlorener Mann ist? Er soll sich ganz zugrunde gerichtet haben. Da ist mir noch etwas erspart geblieben. Könnte man nicht glauben, daß es Unglück bringt, mich zu lieben? Woher mag das sein? Mein Leben ist so harmlos wie das Spiel von kleinen Mädchen, und doch . . . Woher mag das sein?« Sie zog die Stirn kraus und schüttelte sich. »Nun, mein Vater ist also da; es steht mir eine Zusammenkunft mit ihm und Wolfgang bevor. Und es ist eine sehr häßliche Angelegenheit, meine Liebe, die da besprochen werden wird.«

»Es handelt sich um Christian, nicht wahr?« fragte Lätizia, und es war das erstemal, daß sie Christians Namen vor Judith nannte. Sie hatte vergessen, immer wieder vergessen, den Vorsatz immer wieder vertan, hatte Judiths rätselhaften Trotz und Haß gegen den Bruder gefühlt und nicht Mut genug besessen, sich dawider zu wenden, und immer war dann Wichtigeres über die bunte Bühne geschwebt, Lustigeres. »Nicht wahr, um Christian handelt es sich?« wiederholte sie zaghaft.

Judith schwieg düster.

Von der Stunde an wurde aber Lätizia von einer heimlichen Neugier gequält, und diese Neugier bewirkte, daß sie nicht mehr vergaß. Sie hatte sich verirrt, seit langem schon verirrt und kam mit jedem Schritt tiefer ins Pfadlose. Verirrt, verwirrt, verstrickt, so erschien sie sich, und sie hatte flüchtige Minuten der Traurigkeit. Die Ereignisse wuchsen ihr über den Kopf, all das kleine Flick- und Stückwerk des Tages, alles verlief so eigen im Sand, ohne Gestalt, ohne Ruf, ohne Bestimmung. Und in den flüchtigen Minuten der Traurigkeit hatte sie die Illusion von einem neuen Anfang und die Sehnsucht nach einer Hand, die sie aus dem Dickicht führte. Sie gedachte einer Nacht, in der ihr volles Herz verworfen worden war, schwärmerisch gläubig hielt sie es für möglich, daß das verbrauchte und ein wenig müde genommen werden würde.

Aber sie zauderte noch, spielte noch mit der schönen Einbildung. Da hatte sie einen Traum. Sie träumte, daß sie sich in der Halle eines vornehmen Hotels unter einer Menge Menschen befand. Sie war im Hemd und vermochte sich vor Scham kaum zu rühren. Aber niemand schien zu bemerken, daß sie im Hemd war. Sie wollte fliehen und sah nirgends einen Ausgang. Während sie gepeinigt um sich schaute, sank der Lift aus den oberen Stockwerken herab, sie stürzte darauf zu, die Tür schloß sich, und die Maschine stieg empor. Aber ihre Bangigkeit wich nicht, sie hatte das Gefühl nahenden Unglücks. Stimmen von außen schrien: Ein Toter! Ein Toter ist im Haus! Um die Maschine zum Halten zu bringen, tastete sie nach dem elektrischen Knopf, fand ihn nicht, und der Lift stieg höher und höher, die Stimmen verhallten. Ohne zu wissen, wie es geschehen war, stand sie in einem langen Korridor, auf den viele Zimmer mündeten. In einem der Zimmer lag ein Kruzifix, etwa zwei Ellen groß, aus Bronze, stark patiniert. Sie ging hinein. Männer machten ihr respektvoll Platz. Sie trug auf einmal ein weißes Gewand aus Atlas. Sie kniete neben dem Kruzifix nieder. Jemand sagte: es ist ein Uhr, man muß zur Table d'hote. Ihre Brust war vor Mitleid und Sehnsucht innen wund. Sie drückte die Lippen auf die Stirn des Christusbildes, da regte sich der metallene Körper, wuchs und wuchs, erstand zu natürlicher Größe, und sie, zärtlicher und immer zärtlicher hingegeben, flößte ihm Blut ein, verlieh der Haut Lebensfarbe, daß sich sogar die Narbe unter der Rippe rötete. Ihr Gefühl steigerte sich zu heißester, dankbarster Inbrunst, kniend umschlang sie den Leib, die Schenkel, die Füße des sich Erhebenden, der sie mit sich heben wollte; aber einer der Herren sagte: Der Gong ruft zum drittenmal, und bei diesen Worten erwachte sie in schmerzlicher Beseligung.

Am andern Morgen ging sie zu Crammon und überredete ihn, mit ihr in die Stolpische Straße zu fahren.

32

Als Christian die Tür öffnete, stand sein Vater vor ihm. Er war es, der geläutet hatte.

Die Bewegung, die der unerwartete Anblick in ihm hervorrief, war äußerlich so gering, daß sich die Augen des Geheimrats nach einem raschen Aufblitzen wieder verfinsterten.

»Darf man eintreten?« fragte er und schritt über die Schwelle.

Er ging in die Mitte des Zimmers, nahm den Hut ab, legte ihn auf den Tisch und schaute sich mit zurückhaltender Verwunderung um. Es war besser, als er es sich vorgestellt hatte, und es war schlimmer. Es war reinlicher, bürgerlicher, wohnlicher, aber es war auch einsamer und trostloser. »Hier hausest du also,« sagte er.

»Ja, hier hause ich,« bestätigte Christian etwas befangen, »hier und in der Stube überm Hof habe ich bis jetzt gehaust. Das hier war Karens Wohnung.«

»Wieso bis jetzt? Hast du im Sinn, dich abermals zu verändern?«

Da Christian mit der Antwort zögerte, fuhr der Geheimrat fort, auch seinerseits nicht ohne Befangenheit: »Ich muß um Verzeihung bitten, daß ich dich überfalle. Man konnte nicht wissen, ob du dich zu einer Auseinandersetzung wie die heute notwendige stellen würdest, und so unterblieb eine Ansage. Du wirst begreifen, daß der Schritt nicht leicht für mich war.«

Christian nickte. »Willst du nicht Platz nehmen?« bat er höflich.

»Danke. Ich möchte vorläufig nicht. Gewisse Dinge lassen sich nicht besprechen, wenn man sitzt. Man hat sie auch nicht im Sitzen gedacht.« Der Geheimrat schlug den Pelz gegen die Schultern zurück. Seine Haltung war von überlegener Würde. Der silberweiße, geeckte, gepflegte Bart stach malerisch gegen das seidigschwarze Fell des Mantels ab.

Eine drückende Pause entstand. »Befindet sich die Mutter wohl?« erkundigte sich Christian.

Im Gesicht des Geheimrats zuckte es. Der unerhobene Ton machte, daß er die Frage als Frivolität empfand.

Von dem lästigen stummen Aufruf zu wesenlos gewordenen Lebensgesetzen ermüdet, sagte Christian: »Erlaube, daß ich mich fünf Minuten zurückziehe. Du hast mich aus dem Schlaf geweckt, ich glaube, ich habe sehr lang geschlafen, noch dazu in Kleidern, und ich muß mich in Ordnung bringen. Ich möchte dich auch bitten, ein kleines Paket für die Mutter mitzunehmen; es enthält einen Gegenstand, der für sie von Wert ist. Leider bin ich nicht berechtigt, dir nähere Aufklärung darüber zu geben. Sie wird es vielleicht selbst tun, wenn du es wünschest, die Sache gehört ja der Vergangenheit an. Entschuldige mich also, ich stehe gleich wieder zu deiner Verfügung.«

Er ging ins Nebenzimmer. Der Geheimrat sah ihm mit seinen großen blauen Augen betroffen nach. Während der Zeit, wo er allein war, rührte er sich nicht vom Fleck, und kein Muskel bewegte sich an ihm.

Christian trat ein. Er war gewaschen, die Haare waren befeuchtet und glattgekämmt. Er reichte dem Geheimrat ein mit Bindfaden verschnürtes Päckchen. Auf der weißen Papierhülle stand geschrieben: »Für meine Mutter. Am Tag meines letzten Abschieds dankbar zurückerstattet. Ein einziges Stück fehlt durch die Schuld unvermeidlicher Umstände. Sein Wert ist mir hundertfach aufgewogen worden. Gruß und Lebewohl. Christian.«

Der Geheimrat las. »Rätsel?« fragte er kalt. »Wozu solch plakatiertes Rätsel? Fehlt zu einem Brief die Zeit? Du hattest einst Umgangsformen.«

»Die Mutter wird es verstehen,« antwortete Christian.

»Sonst habe ich ihr nichts auszurichten?«

»Nichts.«

»Darf ich wissen, was die Wendung bedeutet: am Tage meines letzten Abschieds –? Du machtest schon vorhin eine Anspielung . . .«

»Es wäre praktischer, du teiltest mir zuerst den Zweck deines Besuchs mit.«

»Immer noch die alte Technik des Ausweichens bei dir.«

»Nein, du irrst,« sagte Christian, »ich weiche nicht aus. Du kommst wie ein Feind und sprichst wie ein Feind. Ich vermute, daß du mit mir verhandeln, etwas wie einen Vertrag zwischen uns schließen willst. Würde es das Verfahren nicht abkürzen, wenn du mir einfach deine Vorschläge machst? Möglicherweise stimmen sie mit meinen Absichten überein. Ihr wollt mich aus dem Weg haben, vermute ich. Ich glaube, ich kann euch aus dem Weg gehen.«

»Es verhält sich in der Tat so,« erwiderte der Geheimrat mit starrer Miene ohne Blickziel; »längeres Zuwarten ist nach Lage der Dinge ausgeschlossen. Dein Bruder fühlt sich gehemmt und in vitalen Interessen bedroht. Deiner Schwester bist du ein Anstoß und eine Alteration. Obgleich sie selbst in ihrer Bahn entgleist ist, krankt sie an dir wie an einer Verunstaltung. Verwandte und Verschwägerte erklären den Namen und die Ehre der Familie für verunglimpft und fordern Eingriff. Von deiner Mutter schweige ich. Von mir sollte ich schweigen. Daß du mich am verwundbarsten Punkte getroffen hast, kann dir nicht unbekannt sein. Man hat auf Gewaltmittel gedrungen. Ich habe mich dagegen gesträubt. Sie sind peinlich und zweckwidrig, strafen den, der sie anwendet. Der Plan, daß du von hier verschwindest – ich entsinne mich nicht, wer ihn zuerst aufs Tapet brachte –, hat vieles für sich. Andre Kontinente bieten einen günstigeren Boden für offensichtlich abstruse Ideen wie die deinigen. Die Stätte deiner Wirksamkeit zu verlegen, dürfte dir ein leichtes sein. Für uns wäre es Befreiung von einem Alpdruck.«

»Genau dasselbe habe ich vor,« sagte Christian; »verschwinden; zufällig hatte ich es mit demselben Wort gedacht. Wärst du gestern gekommen, so wäre ich wahrscheinlich nicht imstande gewesen, dich so vollständig zu befriedigen, wie ich es heute kann. Es hängt mit den Ereignissen zusammen. Zufällig treffen wir uns zur selben Zeit am selben Punkt.«

»Ich kann dir leider nicht folgen, denn ich weiß nicht, welche Ereignisse du dabei im Auge hast,« bemerkte der Geheimrat frostig.

Ohne auf den Einwurf zu achten, fuhr Christian mit Blicken fort, die sich verloren: »Es ist zwar schwierig, zu verschwinden; in unsrer Welt zu verschwinden, ist eine schwierige Aufgabe. Es heißt, die Person abtun, die Heimat abtun, die Freunde abtun und zuletzt noch den Namen abtun, was das schwierigste ist. Aber ich will es versuchen.«

Argwöhnisch gestimmt durch den mühelosen Sieg, fragte der Geheimrat: »Das also hast du mit dem letzten Abschied gemeint?«

Christian bejahte.

»Und wohin hast du beschlossen zu gehen?«

»Ich bin noch unklar. Besser, du erfährst es nicht.«

»Und ohne Mittel, in schmählicher Abhängigkeit und Dürftigkeit?«

»Ohne Mittel. In Dürftigkeit, aber nicht in Abhängigkeit.«

»Hirngespinst.«

»Was sollen die harten Worte noch, Vater?«

»Und ist es denn unabänderliche Notwendigkeit?«

»Ja, unabänderliche.«

»Unabänderliche Trennung zwischen uns und dir?«

»Ihr wollt es, ich muß es; unabänderlich.«

Der Geheimrat verstummte. Ein leises Schwanken des Oberkörpers war das einzige Zeichen seines inneren Zerbrechens. Bis zu diesem Augenblick hatte er gehofft. Er hatte an das Unabänderliche nicht geglaubt. Er war einem schmächtigen Lichtstrahl nachgegangen, dieser erlosch und ließ ihn in der Finsternis. Sein Herz zerrieb sich in vergeblicher Liebe zu dem Sohn, der ihm das Unabänderlich zugerufen hatte, das er nicht verstand. Alles was er errungen, Macht, Reichtum, Ehren, der goldne Thron in einer Welt voll Überfluß, hatte eine entsetzliche Sinnlosigkeit und Öde.

»Du wolltest mich an das Erbe binden,« hörte er die klare und sanfte Stimme Christians sagen; »du wolltest mich kaufen durch das Erbe. Ich habe erkannt, daß man sich dem entziehen muß. Man muß mit der Liebe derer brechen, die sich darauf berufen: du gehörst uns, du bist unser Eigentum, du mußt fortsetzen, was wir angefangen haben. Ich konnte nicht Erbe sein. Ich konnte nicht fortsetzen, was du angefangen hast. Ich war in einer Schlinge. Alle lebten in Freuden, und alle lebten in Schuld. Aber trotzdem Schuld da war, war niemand schuldig. Folglich steckte irgendein Fundamentalfehler in der ganzen Lebenskonstruktion. Ich sagte mir: die Schuld, die aus dem erwächst, was die Menschen tun, ist gering und berechenbar gegen die, die aus ihrem Nichttun stammt. Denn was sind es schließlich für Menschen, die durch ihr Tun schuldig werden? Arme, armselige, verhetzte, verzweifelte, halbwahnsinnige Leute; sie bäumen sich auf und beißen in den Fuß, der sie tritt. Sie werden verantwortlich gemacht, sie werden gezüchtigt und bestraft; Quälerei und kein Ende. Aber die nicht tun, die werden verschont, die sind immer in Sicherheit, die haben ihre triftigen Ausreden und Entschuldigungen. Und sie sind nach meiner Meinung die wahren Verbrecher. Von ihnen kommt das Übel. Ich mußte aus dieser Schlinge heraus.«

Der Geheimrat rang nach einem Ausdruck seiner verworrenen und schmerzlichen Gefühle. Es war alles anders, als er es erwartet hatte. Da sprach ein Mensch, ein Mann. Da trafen ihn Worte, mit denen man sich abfinden mußte. Sie enthielten Erinnerung an jüngst geschlagene Wunden, die noch nicht geheilt waren. Argumente verweigerten sich. Es war falsch, es war wahr: je nachdem; je nachdem man sich dazu stellte; je nach dem Maß von Willigkeit und Phantasie; je nach Einsicht und Furcht; je nach Verstocktheit oder dem Mut zur Rechenschaftsleistung. Das Terrain, das schon lange geschwankt hatte, zerriß in gähnende Klüfte. Der Trotz der Kaste warf in der Eile noch Schanzen auf und suchte nach Abwehrwaffen. Sie hatten keine Schlagkraft.

Ohne Hoffnung auf ein Ja fragte er: »Blutsbande existieren also nicht mehr für dich?«

»Wenn du vor mir stehst und ich dich sehe, fühle ich, daß sie existieren,« war die Antwort, »wenn du handelst und sprichst, spür ich sie nicht.«

»Gibt es eine Abrechnung zwischen Vater und Sohn?«

»Warum nicht? Wenn Aufrichtigkeit und Wahrheit entstehen soll, warum nicht? Vater und Sohn müssen neu beginnen können, scheint mir, einer dem andern gleichgestellt. Sie dürfen sich nicht auf das Gewesene verlassen, auf das, was verbucht ist, was die Gewohnheit vorschreibt. Ist Bewußtsein da, so muß es Achtung wecken. Es sollte ein zarteres Verhältnis sein als irgendeines; es ist ja auch verletzlicher als irgendeines. Aber weil es von der Natur geschaffen ist, glaubt man, es kann grenzenlos belastet werden. Mir kam es darauf an, für Entlastung zu sorgen, und du sahst eine Sünde darin. Es sind nur die Begriffe der Welt, die dich gegen mich erkältet und verblendet haben.«

»Bin ich erkältet und verblendet?« warf der Geheimrat kaum hörbar ein, »hatte es diesen Anschein?«

»Seit ich mich losgesagt, gewiß. Du warst beständig in Versuchung, deine ganzen Machtmittel gegen mich zu organisieren. Du stehst vor mir mit dem Anspruch beleidigter Autorität. Nur weil ich mich unterfangen habe, mit den Grundsätzen des Besitzes und Erwerbs und mit den Anschauungen der Klasse zu brechen, in der ich aufgewachsen bin. Einerseits wagst du nicht, mich zu vergewaltigen, weil neben dem Sozialen und Äußerlichen noch ein herzlicher Zusammenhang zwischen uns ist; Vorurteile und Gewohnheit haben ihn vielleicht mehr befestigt als Erkenntnis und Mitgefühl, fürchte ich, aber er ist da, und ich achte ihn; andrerseits kannst du dich dem Einfluß deiner Umgebung und deiner Stellung nicht entziehen und mutest mir Häßliches, Einfältiges und Zweckloses zu. Was ist denn das Häßliche, das du glaubst, das Einfältige und Zwecklose? Woran hindert es dich, worin stört es dich, wenn es wirklich so ist, so häßlich, einfältig und zwecklos? Worin stört es Judith, woran hindert es Wolfgang außer in einigen eitlen Gedanken und eingebildeten Vorteilen? Und wenn es mehr ist, kommt es in Betracht? Nein, es kommt nicht in Betracht, kein Verdruß, der ihnen daraus entsteht, kommt in Betracht. Und wodurch habe ich dich verwundet, wie du sagst, wodurch deine Autorität beleidigt? Sohn bin ich, du bist Vater. Heißt das Knecht und Herr sein? Ich bin nicht mehr von deiner Welt. Deine Welt macht mich zu deinem Widersacher. Sohn und Widersacher, anders kann deine Welt nicht anders werden. Gehorsam ohne Überzeugung, was ist das denn? Die Wurzel von allem Übel. Du kannst mich nicht sehen; der Vater sieht nicht den Sohn. Die Welt der Söhne muß sich gegen die Welt der Väter erheben, anders kann es nicht anders werden.«

Er hatte sich am Tisch niedergesetzt und den Kopf auf die Hände gestützt, die Form außer acht lassend, seiner konventionellen Höflichkeit auf einmal bar. Seine Worte hatten sich aus Nüchternheit zur Leidenschaftlichkeit gesteigert; das Gesicht war erblaßt, die Augen glänzten fiebernd. Der Geheimrat, der ihn solchen Ausbruchs, solcher Verwandlung nicht für fähig gehalten, blickte erstarrt auf ihn nieder. »Diese Behauptungen können schwer widerlegt werden,« murmelte er und knöpfte mit zitternden Fingern den Pelzmantel zu; »was soll eine Debatte auch fruchten. Du sprachst von denen, die nicht tun; und du, was willst du tun? Es wäre mir wichtig, das von dir zu hören. Was willst du tun, und was hast du bis jetzt getan?«

»Bis jetzt war alles nur Vorbereitung,« antwortete Christian ruhiger; »genau besehen war es nichts. Bloß an meinen Kräften und an meiner Fähigkeit gemessen, war es etwas. Ich hafte noch zu sehr an der Oberfläche. Mein Charakter steht mir entgegen. Es gelingt mir nicht, die Kruste durchzustoßen, die mich von der Tiefe trennt. Die Tiefe, ja, was ist das, die Tiefe? Man kann unmöglich darüber reden. Jedes Wort ist wie Vorwitz und Lüge. Ich will keine Werke tun, ich will nichts Gutes oder Nützliches oder gar Großes tun, ich will hinein, hinauf, hinaus, hinunter; ich will nichts von mir wissen, ich bin mir gleichgültig, aber ich will alles von den Menschen wissen, denn die Menschen, siehst du, die Menschen, das ist das Geheimnisvolle, das Furchtbare, das, was quält und schreckt und leiden macht . . . Immer einen, immer zu einem, dann zum nächsten, dann zum dritten, und wissen, aufsperren jeden, das Leiden herausnehmen wie die Eingeweide aus einem Huhn . . . Aber man kann unmöglich darüber reden, es ist zu grauenhaft. Die Hauptsache ist, daß das Herz nicht müde wird. Nur kein müdes Herz, das ist die Hauptsache. Was ich zunächst tun will, weißt du ja nun,« er lächelte gewinnend knabenhaft, »verschwinden.«

»Es wäre eine Art von Tod,« sagte der Geheimrat.

»Oder eine andre Art von Leben,« erwiderte Christian; »ja, das ist die richtige Bezeichnung und eigentlich auch der Zweck: eine andre Art von Leben; denn diese,« er stand auf und sein Blick erglühte, »diese ist unerträglich. Eure ist unerträglich.«

Der Geheimrat trat näher. »Und du wirst, nicht wahr, du wirst leben? Die Sorge braucht mich nicht zu foltern?«

»O,« sagte Christian lebhaft, »ich muß. Wo denkst du hin! Ich muß leben.«

»Du sprichst mit einer Heiterkeit davon, und ich . . . und wir . . . Christian!« rief der Geheimrat verzweifelt, »ich hatte nur dich! Weißt du es nicht? Wußtest du es nicht? Ich habe nur dich, nur dich. Was soll nun werden? Was soll sein?«

Christian streckte seinem Vater die Hand entgegen, und dieser nahm sie mit der Gebärde eines Gebrochenen. Er raffte sich gewaltsam zusammen. »Wenn es denn unabänderlich ist, dann kein langes Hinziehen,« sagte er. »Gott schütze dich, Christian. Du warst mir eigentlich ein unbekannter Mensch, du bist es noch. Es ist hart, sich sagen zu müssen: Ich hatte einen erstgeborenen Sohn, er lebt und ist mir gestorben. Ich will mich fügen. Ich sehe, es ist etwas in dir, dem man sich zu fügen hat. Vielleicht genügt es aber nicht einmal, wie? Vielleicht verlangst du mehr? Nun, ich bin zweiundsechzig, da muß es genügen. Gott schütze dich, Christian.«

Beherrscht aufgereckt wandte er sich zum Gehen.

33

Amadeus Voß sagte: »Er wird den Kampf nicht aufnehmen. Es ist eine endgültige Wahl, vor die er gestellt ist. Sie meinen, es sei nur die Familie, die ihn unschädlich machen will. Zugegeben. Aber die Familie ist heute die ausschlaggebende Macht im Staate. Sie ist der Grundpfeiler und der Schlußstein tausendjähriger Schichtungen und Kristallisation. Wer ihr trotzt, ist ein Geächteter. Er hat nicht, wo er sein Haupt hinlegen kann. Er ist in einen dauernden Anklagezustand versetzt. Das macht den Stärksten mürbe.«

»Die Herrschaften scheinen Ihnen gehörig imponiert zu haben,« bemerkte Lamprecht.

»Ich spreche von einem Prinzip, Sie sprechen von Personen,« erwiderte Voß gereizt. »Schlagen Sie mich auf meinem Feld, wenns beliebt. Im übrigen hab ich von den Leuten niemand zu Gesicht bekommen als Wahnschaffes Bruder Wolfgang. Er bat mich zu sich, angeblich, um Auskünfte von mir zu erhalten, in Wirklichkeit, um mir auf den Zahn zu fühlen. Ein wackerer Knabe. Ein Repräsentant. Von dem unerschütterlichen Ernst derer durchdrungen, die alle Sprossen der sozialen Stufenleiter gezählt, alle Distanzen ausgemessen und bis auf den Millimeter im Kopfe haben. Bereit zu allem. Käuflich zu allem. Zurückschreckend vor nichts. Grausam aus natürlicher Anlage. Konsequent aus Mangel an Geist. Ich leugne es nicht, so etwas imponiert mir. Ein Exemplar in Reinzucht. Man kann sich keinen besseren Anschauungsunterricht über den heutigen Zustand der Gesellschaft wünschen.«

»Und Sie haben sich selbstverständlich zu Christian bekannt, haben Ihre Unzugänglichkeit für alle diplomatischen Bestechungsversuche deklariert?« fragte Johanna in einem Ton von perfider Beiläufigkeit; »nein?« Sie ging auf und ab, um den Tisch für Christian zu decken, denn in einer inneren Ungeduld sehnte sie ihn herbei.

Michael wandte keinen Blick von Amadeus Voß' Gesicht.

»Ist mir nicht im entferntesten eingefallen,« antwortete Amadeus. »Ich bin Forscher und nicht Moralist. Ich habe aufgehört, mich für Phantome zu opfern. Ich glaube nicht mehr an Ideen und an den Sieg von Ideen. Für mich ist die Schlacht entschieden und der Friede geschlossen. Warum soll ich es nicht offen einräumen? Ich habe paktiert. Nennen Sie es nicht Zynismus, was ich sage; es ist ein ehrliches Bekenntnis zu mir selbst. Es ist die Frucht gewonnener Einsicht in das Nützliche, das Tüchtige, in das, was den Menschen praktisch und greifbar hilft. Es gab weit und breit keine Notwendigkeit für mich, ein Märtyrer zu werden. Märtyrer verwirren die Welt; sie reißen die Hölle der Schmerzen auf, und das vergeblich; wann und wo wäre Schmerz durch Schmerz gelindert oder beseitigt worden? Einst ging ich den Seufzerweg, den Passionsweg; ich weiß, was es heißt, für Träume leiden, für das Unerreichbare sein Blut verspritzen. Ich weiß, was ein Sakrament ist und was Versuchung ist; ich habe Brust an Brust mit dem Teufel gerungen, bis mir endlich klar wurde: du kannst ihn nur abtun, wenn du dich der Welt ergibst, gänzlich und ohne Markten, und du darfst nicht zurückschauen, sonst geht es dir wie Loths Weib, du erstarrst zur Salzsäule. So hab ich den Teufel besiegt; oder mich selbst besiegt, wie man will.«

»Es war jedenfalls eine schicksalsreiche Wandlung,« sagte Johanna, die Semmeln entzweischnitt und mit Butter bestrich. Ihre Gesten waren von einer gleichsam erdachten Lässigkeit und Lieblichkeit.

»Und was sagten Sie also zu Wolfgang Wahnschaffe?« fragte Botho von Thüngen. Er saß am Fenster und hielt von Zeit zu Zeit Ausschau über den Hof, denn auch ihn verlangte nach Christians Gegenwart. Es war ein dunkles Gefühl von seiner Nähe in jedem.

»Ich sagte ungefähr, was ich mir denke,« entgegnete Voß. »Ich sagte: Es ist am besten, ihr laßt die Dinge laufen, wie sie laufen. Er verstrickt sich in seinen eignen Netzen. Widerstand stützt; Verfolgung gibt Gloriole. Wozu wollt ihr ihm eine Gloriole um das Haupt legen? Paradoxie muß durch sich allein zu Fall kommen, und sämtliche Visionen des heiligen Antonius haben nicht die umbiegende Gewalt einer einzigen Sekunde der Erkenntnis. Keine Wand darf mehr um ihn sein, keine Brücke; dann wird er Wände aufrichten und Brücken schlagen wollen. Habt Geduld, sagte ich, habt Geduld. Ich, der ich der Geburtshelfer seiner Neuwerdung war, getraue mich zu prophezeien. Ich prophezeie, der Tag ist nicht mehr fern, wo er wieder nach dem Kuß eines Weibes gieren wird; das, ich gestehe es, war es hauptsächlich, was mich stutzig gemacht hat, dies Leben ohne Eros. Denn es war nicht Überdruß, nein, das war es nicht, es war Verzicht, wahr und wahrhaftig Verzicht. Aber laßt den Eros erwachen, und die Umkehr wird geschehen. Der Tag ist nicht mehr fern.« Sein Gesicht hatte einen Ausdruck fanatischer Rechthaberei.

»Ein andrer Eros wird es sein, nicht der, den Sie meinen,« sagte Thüngen.

Da erhob sich Michael, schaute Voß mit glühenden Augen an und rief ihm zu: »Verräter.«

Amadeus Voß gab es einen Ruck. »Ei, du Kröte,« murmelte er geringschätzig, »was ficht dich an?«

»Verräter,« sagte Michael.

Voß ging drohend auf ihn zu.

»Michael! Amadeus!« mahnte Johanna flehend und legte die Hand auf Vossens Arm.

Währenddem hatte sich die Tür sacht aufgetan und die kleine Stübbe war unhörbar ins Zimmer geschlüpft. Sie war adrett gekleidet wie immer; die blonden Zöpfe waren um den Kopf geflochten und ließen das leidvolle Kindergesicht noch älter, noch madonnenhafter erscheinen. Sie schaute sich um, gewahrte Michael, ging zu ihm hin und reichte ihm einen Brief. Danach verließ sie die Stube wieder.

Michael entfaltete das Blatt, las, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Der Brief fiel aus seiner Hand. Lamprecht hob ihn auf. »Geht es auch uns an?« fragte er ahnend, »ist es von ihm?«

Michael nickte und Lamprecht las vor: »Lieber Michael. Ich verabschiede mich auf diesem Weg von dir und bitte dich, die Freunde zu grüßen. Ich muß nun fort. Ihr werdet keine Nachricht von mir erhalten. Es soll mir niemand nachforschen. Es ist mir zweckmäßiger und einfacher erschienen, auf diese Weise fortzugehen, als das Unausweichliche durch Aussprache und Fragen hinauszuschieben und zu zerreden. Was von meinen Sachen in Karens Wohnung war, habe ich mitgenommen. Es hatte Platz in der kleinen Reisetasche. Meine übrigen Habseligkeiten kannst du in den Koffer packen, der drüben steht; es ist einiges schwer Entbehrliches dabei, wie Wäsche und ein Anzug. Vielleicht findet sich Gelegenheit, daß ich es mir schicken lassen kann. Aber es ist ungewiß. Für dich, Michael, habe ich an Lamprecht tausend Mark anweisen lassen, damit der Unterricht für die nächste Zeit fortgesetzt werden kann. Es ist auch ein Notpfennig. Für Johanna erliegen zweihundertfünfzig Mark im Kuvert beim Hausverwalter; von morgen ab, ich muß es erst hinschicken. Sie möge so freundlich sein und mit dieser Summe die Verbindlichkeiten lösen, die ich zurücklasse. Nochmals: Grüß die Freunde. Halte dich an sie. Lebewohl. Sei tapfer. Denk an Ruth. Dein Christian Wahnschaffe.«

Alle waren aufgestanden und hatten sich um Lamprecht gruppiert. Lamprecht sagte erschüttert: »Ihm gehöre ich, ihm will ich gehören, im Herzen und im Geiste.«

»Was mag der Sinn sein, was mag der Grund sein?« fragte Thüngen in die scheue Stille.

»Echt Wahnschaffe!« ließ sich Amadeus Voß vernehmen, »platt und hölzern wie eine Polizeivorschrift.«

»Schweig!« hauchte ihm Johanna gepeinigt zu, »schweig, Judas.«

Es fiel kein Wort mehr. Alle standen um den Tisch; aber der Platz, der für Christian gedeckt war, blieb leer. Es fing an zu dämmern, und einer nach dem andern ging fort. Amadeus Voß näherte sich Johanna und sagte: »Der Judas, den du dem Bürschchen nachgeredet hast, wird dich noch auf die Seele brennen, das kann ich dir versprechen.«

Michael, wie ein Entrückter, schaute mit seherisch glänzenden Augen in die Höhe.

In ermatteter Schwermut sprach Johanna zu sich selbst: »Wie heißt es doch immer in den alten Komödien? Exit. Ja: exit. Kurz und bündig. Exit. Johanna. Troll dich.« Sie warf noch einen Blick in die halbfinstere Stube, und hager schlich sie als letzte aus der Tür.

34

Als Lätizia und Crammon zwei Tage nachher in die Stolpische Straße kamen, erfuhren sie, daß Christian Wahnschaffe dort nicht mehr war. Die beiden Wohnungen waren von Möbeln bereits geräumt und zur Vermietung ausgeschrieben. Wohin er sich gewendet hatte, wo er sich befand, darüber konnte ihnen niemand Aufschluß geben. Der Hausverwalter sagte, er habe seinen Bekannten mitgeteilt, daß er die Stadt verlassen habe. Es entstand, zu Crammons Unbehagen, eine kleine Volksversammlung um das Auto, und spöttische Bemerkungen wurden laut.

»Zu spät,« sagte Lätizia, »ich werde es mir nie verzeihen.«

»Doch; du wirst, mein Kind, du wirst,« versicherte Crammon. Und sie kehrten in die Bezirke der Lustbarkeiten zurück.

Lätizia verzieh es sich schon am nämlichen Abend; was hätte sie auch mit einer so fragwürdigen Gewissensbürde anfangen sollen? Eine läßliche Sünde; der erste Gläserklang, der erste Geigenton, der erste Blumenduft zehrte sie auf.

Aber an Crammon nagte das Versäumnis, je länger, je mehr. In seiner naiven Unwissenheit bildete er sich ein, er hätte das Äußerste hintanzuhalten vermocht, wenn er zwei Tage früher gekommen wäre. Jetzt war der Verlust besiegelt und endgültig. Er stellte sich etwa vor, er hätte Christian die Hand auf die Schulter gelegt und ihn ernst und mahnend angeschaut; da hätte Christian beschämt zu ihm gesprochen: Ja, Bernhard, du hast recht, es war eine Verirrung, wir wollen uns mal zu einer Flasche Wein setzen und beraten, wie wir uns künftig am besten amüsieren.

Wenn er in seinen Erinnerungen wühlte, einem Sammler vergleichbar, der seine eifersüchtig behüteten Schätze mustert, war es stets Christians Gestalt, die vor allen andern verklärt emporstieg. Der Christian des Anfangs, nur der; unter den Hunden im Park; in der Mondnacht unter der Platane; im erlesen geschmückten Saal der Tänzerin; Christian lachend, schöner lachend als der Eseltreiber in Cordova; Christian verführend, Christian verschwendend, Christian der Herr; Eidolon.

So sah er ihn. So trug er ihn durch die Zeit.

Und es drangen Gerüchte zu ihm, an die er nicht glaubte. Es kamen Leute, die erzählen gehört hatten, man habe Christian Wahnschaffe bei der großen Grubenkatastrophe in Hamm während der Bergungsarbeiten gesehen; er sei in die Schächte mitgefahren und habe geholfen, Leichen zu befördern. Und andre Leute kamen, die behaupteten, er lebe im Londoner Ost-Ende in Gemeinschaft der Niedrigsten und Verworfensten. Und es kamen wieder Leute, welche wissen wollten, er sei in der Chinesenstadt von Neuyork aufgetaucht, dieser ekelsten Kloake der bewohnten Erde.

Crammon sagte: »Unsinn, das ist nicht Christian, das ist sein Doppelgänger.«

Er hatte Furcht vor den Jahren, die sich grau heranwälzten wie Nebel auf dem Wasser.

»Was würdest du zu einem Häuschen in einem kärntnerischen Alpental sagen?« redete er eines Tages Lätizia an, »zu einem niedlichen, bescheidenen Häuschen? Man pflanzt sein Gemüse, man züchtet seine Rosen, man liest seine Lieblingsschmöker, mit einem Wort, man bringt sich in Sicherheit.«

»Reizend,« antwortete Lätizia, »ich könnte ja dann und wann zu dir kommen.«

»Warum dann und wann? Warum nicht ganz und gar?«

»Ja, würdest du denn auch die Zwillinge aufnehmen und die Dienerschaft und das Tantchen?«

»Da müßte ich allerdings einen Flügel anbauen. Unmöglich.«

..Und außerdem . . . ich will dir nämlich gestehn, ich bin mit Egon Rochlitz übereingekommen, daß wir uns heiraten. Das wäre also vorläufig eine Person mehr.«

Crammon schwieg eine Weile, dann sagte er verdrossen: »Ich fluche dir. Es bleibt mir nichts andres übrig.«

Lätizia bot ihm lächelnd die Wange.

Er küßte sie väterlich enthaltsam und seufzte: »Du hast Sammet auf der Haut wie eine Aprikose.«


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