Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Jedesmal, wenn Christian Johanna Schöntag sah, war sie abgezehrter und verhärmter. Unter seinem beobachtenden Blick lächelte sie, und das Lächeln sollte täuschen. Sie glaubte sich genügend geborgen hinter ihrem Witz und den kleinen Harlekingrimassen.
Sie kam meist gegen Abend, um eine Stunde oder länger bei Michael zu sitzen. Es war ihr zur Pflicht geworden. So leichtsinnig sie sich gab, so pedantisch war sie in der Erfüllung der Aufgaben, denen sie sich unterzogen hatte. An dem Tag, wo sie merkte, der Zustand des Knaben wende sich zum Bessern und erfordere daher ihre Betreuung nicht mehr, malte sich das Gefühl, nutzlos zu sein, so lebhaft in ihren Zügen, daß Michael sie prüfend anschaute und einen Begriff ihres Wesens in sich bildete. In seinen Augen schimmerte, durch Trotz und die alte Menschenangst noch zurückgedämmt, Dankbarkeit für ihre Opfer. Sie fing an, ihn zu beschäftigen; ihre Art war so fremd und so verwandt; Vertrauen bis zum offenen Wort konnte er nicht fassen, aber wenn sie fortgehen wollte, bat er sie, noch zu bleiben; wenn das übliche Schweigen zwischen ihnen war und Johanna das Buch aufschlug, das sie mitgebracht hatte, einen französischen oder englischen Roman, und, ohne recht zu lesen, den innen gequälten Blick über die Zeilen gleiten ließ, stellte er eine Frage, nach einer Weile wieder eine und wieder eine, und so entstanden Gespräche, in denen sie einander suchten und erforschten. Johanna war überlegen oder spöttisch oder mütterlich oder abweisend, je nachdem, sie hatte Waffen und Hüllen die Menge, und er war lehrhaft oder scheu oder zufahrend hitzig. Was sie sagte, klang vieldeutig; es verwirrte ihn; brach sie darüber in ihr spitzes Lachen aus, so war er ernüchtert und verletzt.
Sie sollte erzählen, wo sie herkam, wer sie war, was sie trieb; und sie erzählte von ihrer Jugend und von ihrem Elternhaus. Für ihn, der nur die Armut kannte, war es ein Märchen. Er sagte: »Sie sind schön,« und er fand sie wirklich schön, es war eine naive Huldigung, die sie erröten machte, fast verlieh sie ihr ein wenig Lebensfreude; nur ihre Hände, fügte er hinzu, seien nicht die Hände einer Reichen. Sie schien überrascht und antwortete mit dem Ausdruck des Selbsthasses, ihre Hände seien, was der Buckel beim Buckligen und der Bocksfuß beim Teufel sei, ein Wahrzeichen, woraus man ihre eigentliche Beschaffenheit ersehen könne.
Michael schüttelte den Kopf. Aber er verstand nun ihre frierende Seele, die unendliche Sehnsucht darin und die unendliche Enttäuschung. Auf seine Frage nach ihrem Ziel und Tun schaute sie trüb-verwundert; gab es das, für ein Geschöpf wie sie, Ziel? Betätigung? Zu andrer Stunde dann offenbarte sie flagellantisch die vollkommene Inhaltslosigkeit ihres Lebens; alles war nur ein übler Spaß, den sich das Schicksal mit ihr erlaubte, eine Medizin, die man schlucken mußte, um geheilt zu werden. Die Heilung war dort, wo das Leben nicht mehr war.
Sie plauderte dergleichen so hin; es sollte nicht bitter sein; nicht einmal der Mühe, bitter zu sein, lohnte es, dies Nichtige, Graue, Erbärmliche. »Wenn nur wenigstens nicht so viele Menschen auf der Welt wären,« seufzte sie und verzog die Stirn in ihrer komischen Weise. Doch schämte sie sich auch vor dem Knaben, ward sich bewußt, daß sie in Worten frevelte, denn ihr Gefühl war ja Qual für sie, und sie konnte nicht spüren, was es an Wärme spendete. Furchtsam maß sie das Verständnis des kaum Fünfzehnjährigen an seinem düsteren Erlebnis, von dem sie keine Kunde besaß, an seinem düsteren Geist, der ihn reifer erscheinen ließ, und sank noch mehr in ihrer eignen Achtung, als sie ihn nachdenklich und bewegt sah.
Aber gerade ihre hingeworfene, heimlich blutende Schwäche, der zerfleischende Kampf, den sie fast wie eine Wahnsinnige gegen sich selbst führte, brachte ihn zum Erwachen und entzündete den Willen zur Welt in ihm. Er sagte: »Sie hätten Ruth kennen müssen.« Seltsamer Schatten Ruths trat aus Johanna hervor, Widerspiel Ruths. »Sie hätten Ruth kennen müssen,« sagte er immer wieder, und ihrem Warum antwortete nur sein aufleuchtendes Auge, in dem Ruths Bild bis jetzt geschlummert zu haben schien, um nun, in eine Flamme verwandelt, ihn zu führen.
Johanna sagte zu Christian: »Ich glaube, dein Schützling braucht mich nicht mehr. Du brauchst mich erst recht nicht; also bin ich hier überflüssig und drücke mich einstweilen.«
»Ich möchte gern mit dir sprechen,« sagte Christian; »schon längst wollte ich dich darum bitten. Willst du morgen um dieselbe Stunde kommen? Oder soll ich zu dir kommen? Mach einen Vorschlag, ich füge mich dir.«
Sie erblaßte und erwiderte, sie wolle kommen.
Sie kam um fünf Uhr; es war schon dunkel. Sie gingen in die Wohnung im Vorderhaus, da im Hofzimmer Michael war. Zur Überraschung Christians hatte der Knabe heute plötzlich den Wunsch nach Unterricht und einem Lehrer geäußert; auch hatte er gefragt, wie er künftig sein Leben einrichten, wohin er gehen, zu wem er gehen solle, wer ihn ernähren, wer ihn kleiden würde, er könne Christian nicht länger zur Last fallen. Seine Worte und sein Wesen waren von einer gewissen Entschlossenheit durchtränkt, die er bisher nie gezeigt. Christian hatte eine befriedigende Antwort nicht gleich zu geben vermocht; der Umschwung erregte zunächst seine Bestürzung, und während er Johanna voranschritt und in der ersten Stube Licht machte, überlegte er die schwierige Entscheidung noch.
Die Tür zur andern Stube, Karens Sterbezimmer, war versperrt. Im Ofen brannte schwaches Holzfeuer, das Isolde Schirmacher auf Christians Geheiß angeschürt. Sie kam auch jetzt, legte Scheite nach und verschwand trippelnd.
Johanna saß auf dem Sofa und blickte wartend. Sie zitterte vor dem ersten Wort, das sie hören, dem ersten, das sie sprechen würde. Den Mantel hatte sie nicht abgelegt; Hals und Kinn versanken im Pelzkragen.
»Es ist ein bißchen unheimlich hier,« sagte sie endlich leise, da Christian so lange schwieg.
Christian setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. »Du siehst leidend aus, Johanna,« begann er; »woran leidest du? Würde es dich nicht erleichtern, darüber zu sprechen? Sprich mit mir darüber. Du wirst natürlich sagen, ich könnte dir nicht helfen. Und das ist wahr. Man kann niemals helfen. Aber die Dinge stocken und verfaulen doch nicht so in einem, wenn man sich einem Freund mitteilt. Findest du nicht?«
»Du kommst spät,« erwiderte Johanna flüsternd, schaudernd, und zog die Schultern in die Höhe, »du kommst sehr, sehr spät.«
»Zu spät?«
»Zu spät.«
Christian sann eine Weile betroffen. Er umschloß die Hand Johannas fester und fragte schüchtern: »Er quält dich? Was geht vor zwischen euch beiden?«
Sie fuhr auf, starrte ihn an, knickte wieder zusammen. Sie lächelte kränklich und sagte: »Ich wäre jedem dankbar, der eine Hacke nähme und mich erschlüge. Mehr bin ich nicht wert.«
»Warum, Johanna?«
»Weil ich mich weggeworfen habe, weggeschmissen, weil ich mich im Unrat wälze, wo er am dicksten und gemeinsten ist,« brach es schneidend und jammernd aus ihr, und mit bebenden Lippen schaute sie in die Höhe.
»Du siehst dich falsch und siehst Menschen falsch,« entgegnete Christian; »alles ist verzerrt in dir. Was du sagst, straft dich, was du verschweigst, erstickt dich. Hab doch ein wenig Mitleid mit dir selbst.«
»Mit mir?« sie lachte hölzern, »mit mir? Mit so einem Abschaum? Das verlange nicht. Eine Hacke; bloß eine Hacke zum Erschlagen!« Ihre Worte verwandelten sich in ein wildes Aufschluchzen; dann schwieg sie eisig.
»Was hast du getan, Johanna, daß du so außer dir bist? Was hat man dir getan?«
»Du kommst zu spät. Hättest du früher einmal gefragt, nur gefragt. Es ist zu spät. Es war zu viel Zeit. Die Zeit hat mir den Garaus gemacht. Ich hab mein Herz vertan.«
»Sag mir, wie.«
»Einmal ist einer gewesen, der hat das schwere dunkle Tor ein Spältchen weit aufgemacht, da dachte man: jetzt wird es schön. Aber er schlug das Tor gleich wieder zu. Den Knall spür ich noch in allen Gliedern. Es war unvorsichtig, eine unvorsichtige Narrheit. Ich hätte nichts ahnen dürfen von der Schönheit hinterm Tor.«
»Du hast recht, Johanna. Es trifft mich. Aber sage mir, was ist jetzt mit dir? Warum bist du so zerstört?«
Johanna blieb eine Weile still. Dann antwortete sie: »Kennst du die Geschichte von der Gänsemagd, die in den eisernen Ofen kriecht, um ihr Leid zu klagen? O Falada, da du hangest, o Jungfer Königin, da du gangest, wenn das deine Mutter wüßt, das Herz im Leib tät ihr zerspringen. Ich habe nicht zu schweigen gelobt und kann in keinen Ofen schlüpfen, aber jemand ansehen und mich ansehen lassen, das geht nicht. Setz dich ans Fenster und schau hinaus. Schau mich nicht an, dann will ich klagen.«
Folgsam und ernst erhob sich Christian und setzte sich mit dem Rücken gegen Johanna ans Fenster.
Mit hoher, fast singender Stimme begann Johanna. »Du weißt, daß ich dem Menschen ins Garn gelaufen bin, der dein Freund war. Es war eben zu viel Zeit und nichts drinnen in der Zeit. Er hat sich aufgeführt, als ob er umkommen müßte, wenn er mich nicht hätte. Er hat mich eingeschläfert mit seinen Worten, hat mir den Willen gebrochen, den Willen, lieber Himmel, das Rudiment von Willen, und hat mich genommen wie man etwas nimmt, das herrenlos am Weg liegt. Und als er mich dann hatte, da ging das Elend an. Tag und Nacht folterte er mich mit Fragen, Tag und Nacht, immerfort, als wär ich sein gewesen schon im Mutterleib. Kein Frieden war mehr in mir, wie blind bin ich geworden vor Scham, und eines Tages bin ich auf und davon, da bin ich hierhergegangen zu dir, da kam gerade der Knabe, und jenes Schreckliche war geschehen, und du hattest natürlich gar keine Augen für mich, und ich, ich sah erst, wie tief ich gesunken war und was ich aus meinem Leben gemacht hatte.«
Sie blickte eine Weile leer vor sich hin; dann schloß sie die Augen und fuhr fort. Sie habe sich an jenem Abend so entsetzlich verlassen gefühlt, daß sie jeden Pflasterstein beneidet habe, weil er neben andern Pflastersteinen lag. Da habe sie sich auf einmal ein Kind gewünscht, mit aller Kraft, mit aller Sehnsucht, wie das zugegangen sei, könne sie nicht erklären. Aber mit aller Sehnsuchtswut ein Kind, etwas aus Fleisch und Blut zum Lieben. Und wie sie vorher in Christians Stube beim Warten auf ihn ein heimlich-neidisches Probestück veranstaltet, ob er dem Jammer des Knaben, dem Fürchterlichen, um das sie noch nicht gewußt, standhalten würde, o, ihre Brust sei ja eine wahre Pestgrube von Neid, das müsse er jetzt erfahren, nun, so habe sie auch sich selbst vor die Entscheidung gestellt und alles davon abhängig gemacht, ob sie ein Kind bekommen könne oder nicht. Und als Amadeus zu ihr gekommen, habe sie sich ihm wieder an den Hals geworfen, nur aus Berechnung, nur zum Zwecke. Käme so was öfter vor in der Welt? Sei so was schon mal passiert? Und als die Zeit um war, habe sichs gezeigt, daß auch dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen wollte, und daß sie nicht einmal zu dem gut war, was das erstbeste Weib aus dem Volk fertig bringe. Nicht einmal zu dem war sie gut. Inzwischen aber habe das Schicksal so tückisch gespielt, daß sie angefangen habe, den Mann zu lieben. Er sei ihr so ähnlich erschienen mit ihr selbst, es habe nicht anders kommen können; so voll Neid, so gemieden von Menschen, so verkrampft und verstrickt; das Gleichartige habe sie bezwungen. Freilich, ob es Liebe gewesen sei oder etwas andres, Schreckliches, was in keinem Buch stehe und wofür es keine Bezeichnung gebe, das könne sie nicht sagen. Wenn es Liebe sei, sich anklammern ans Letzte und verstört hinhorchen aufs Ende, ausgelöscht werden und wieder angezündet werden, daß zwischen Brand und Asche kein Atemzug einem selbst gehöre, fremdes Gesicht tragen, fremdes Wort reden, sich schämen und bereuen und auftrotzen und das Bewußtsein fliehen und in Sinnenangst und Geistesangst sich hinschleppen, und nichts mehr besitzen, nicht Freund, nicht Schwester, Blume nicht und Träume nicht, wenn das Liebe sei, nun, dann sei es ihre Liebe gewesen. Aber es habe nicht lange gedauert, da habe Amadeus Überdruß und Kälte merken lassen, da sei er lahm geworden. Wie er alles an ihr aufgefressen, was sie ihm zum Verschlingen hingelegt, sei er satt gewesen und habe ihr zu verstehen gegeben, daß sie ihm im Wege sei. Da habe sie ein Schauder angefaßt und sie sei weggegangen. Und der Schauder sitze ihr noch im Herzen. Alles an ihr sei kalt und alt. Sie vergesse nicht sein rohes Gesicht in der letzten Stunde, seinen Hohn, seine Zufriedenheit. Sie könne nicht mehr lachen, nicht mehr weinen. Sie schäme sich. Sie möchte sich am liebsten hinlegen und warten, bis es aus sei. Sie sei grauenhaft müde, und es ekle ihr durch und durch.
Sie schwieg. Christian rührte sich nicht. Es verflossen lange Minuten, dann erhob sich Johanna und trat zu ihm. Ohne sich zu rühren schaute sie durchs Fenster in die Dunkelheit hinaus wie er. Dann legte sie ihm geisterartig die Hand auf die Schulter. »Wenn das meine Mutter wüßt, das Herz im Leib tät ihr zerspringen,« flüsterte sie.
Er verstand das animalische Anschmiegen und stumme Flehen. Das Kinn auf die Faust gestützt, sagte er: »Ihr Menschen, was tut ihr!«
»Wir verzweifeln,« antwortete sie trocken, mit eckigen Lippen.
Christian stand auf und faßte ihren Kopf zwischen beiden Händen. »Du mußt dich hüten, Johanna, vor dir hüten,« sprach er.
»Der Teufel hat mich geholt,« gab sie zurück, empfand aber im gleichen Augenblick die Macht seiner Berührung. Sie wurde bleich, schwankte, sammelte sich wieder, sah ihm in die Augen, erst unsicher, dann fester, versuchte zu lächeln, lächelte weh, dann ergeben, dann, nach einem Aufatmen, mit leiser Freudigkeit.
Er ließ sie. Er wollte noch etwas sagen, fühlte aber, wie unzulänglich und dürftig Worte waren.
Sie ging mit gesenktem Kopf, aber immer noch mit dem erkämpften Lächeln von vielen Bedeutungen.
Es geschah, daß Christian in einer Nacht oben schlief und durch das gellende Geschrei der Stübbeschen Kinder aufgeweckt wurde. Er zog sich hastig an und ging hinüber.
Auf dem Tisch stand eine dick schwelende Petroleumlampe, daneben lag, in schmierigen Lumpen, ein Säugling. Zwei Kinder, zwei- und dreijährig, hatten sich auf dem Strohsack emporgerichtet, mit Fetzen von Hemden bekleidet, und stießen, während sie sich krampfhaft umklammert hielten, ein entsetzliches Angstgebrüll aus. Ein viertes Kind, ein fünfjähriger Knabe, der ungemein verwahrlost aussah, kniete vor einem Haufen zerbrochener Teller und Gläser, hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt und heulte in sich hinein. Das fünfte Kind, ein acht- bis neunjähriges Mädchen, stand bei der regungslos auf dem Boden liegenden Mutter und hatte die magern nackten Ärmchen mit bittend gefalteten Händen gegen den Unhold erhoben, der ihr Vater war und der ununterbrochen, mit viehischer Wut auf das Weib losschlug. Er bediente sich hierzu eines abgebrochenen Stuhlbeins, und unter den mit größter Wucht geführten Hieben bildeten sich furchtbare Wunden; die Frau gab keinen Laut mehr von sich; sie zuckte nur noch bisweilen, ihr Gesicht war graublau; der Kittel und der rote Unterrock, den sie trug, war zerfetzt, und aus allen Öffnungen rieselte das Blut.
Die Tollwut Stübbes wuchs mit jedem Schlag. Seine Augen fluoreszierten gespenstisch; über seinen Bart troff Schleim und Geifer; seine Haare waren gesträubt und schweißverklebt, die Züge aufgequollen und violett bis ins Schwärzliche; Laute, halb Gelächter, halb Gegurgel, dann wieder gestöhnte Flüche, irres Röcheln und Pfeifen kamen aus seinem Schlund. Ein Schlag traf das flehende Kind; es stürzte aufs Gesicht nieder und ächzte.
Da packte Christian den Menschen. Mit beiden Händen umdrosselte er ihm den Hals; mit verzehnfachter Kraft rang er ihn nieder. Es graute ihm unsäglich vor dem Fleisch, das er spürte; in seinem Grauen wurde ihm der Raum mit dem Elend drin zur kugeligen Wölbung; er und das Tier schwebten haltlos im Leeren; er roch den Schnaps, der aus dem aufgesperrten Rachen des Tiers in Schwaden aufstieg, und das Grauen erhielt Geruch und Geschmack, brannte ins Auge hinein, und wie er noch weiter rang, die Krallen des trotz der sinnlosen Trunkenheit noch bärenstarken Menschen an der Kehle, den Bauch an seinem Bauch, die Knie an seinen Knien spürte, dauerte dies und dauerte, eine Stunde, einen Monat, ein Jahr, das Schicksal schraubte ihn in ein vorbereitetes Loch hinein; und jede Nähe rückte dichter her, alles wurde Berührung; Menschheit, Welt, Himmel, alles war hautnah bei ihm, und das war auch der Sinn: tiefer, tiefer, enger, enger, grauenhafter, gefährlicher noch: das war der Sinn.
Ein Stimmchen: »Lassen Sie doch Vater; bitte, bitte, tun Sie doch Vater nichts!« Es war die Stimme des Mädchens; es hatte sich erhoben, war herangetreten und hing sich an Christians Arm.
Stübbe, nach Luft schnappend, brach zusammen. Christian stand totenbleich. Er roch und fühlte Blut an sich. Leute kamen, die der Lärm aus den Betten gescheucht hatte. Ein Weib nahm sich der kleinen Kinder an und beruhigte sie. Ein Mann kniete bei der erschlagenen Frau. Ein andrer Mann brachte Wasser. Einige schrien und gebärdeten sich erregt. Andre sahen gleichmütig zu. Nach einer Weile erschien ein Schutzmann. Stübbe lag im Winkel und schnarchte. Die Petroleumlampe schwelte noch. Ein zweiter Schutzmann tauchte auf und beriet mit dem ersten, ob Stübbe bis zum Morgen hiergelassen oder gleich transportiert werden solle.
Christian stand totenbleich. Plötzlich schauten ihn alle an. Eine taube Ruhe trat ein. Der erste Schutzmann räusperte sich. Das Kind sah atemlos zu ihm empor. Es hatte ein fahles, strenges, schon altes Gesicht mit übergroßen, geränderten Augen, in denen der unermeßliche Kummer des Lebens lag, das es leben mußte. Es war gebannt durch den Blick Christians, das Gestaltchen schien höher zu werden, es schien sich wie ein Stengel um diesen Blick zu ranken, fror nicht mehr, litt nicht mehr, siechte nicht mehr hin und war ohne Furcht.
Christian erkannte die heldenhafte Seele des kleinen Wesens, und er sah die Unschuld, die Nichtschuld, das unvertilgbare, unsterbliche Herz.
»Geh mit mir, ich hab drüben ein Bett für dich,« sagte er zu dem Kind und führte es an den Leuten vorbei aus der Stube.
Willig ging das Mädchen mit ihm, und in seiner Stube faßte er es an und hob es auf; kaum konnte er glauben, daß so zarte Glieder und Gelenke der Bewegung fähig seien. Als er es aufs Bett gelegt und zugedeckt hatte, fiel es sogleich in tiefen Schlaf.
Er saß und schaute in das fahle, strenge und schon alte Gesicht.
Und wieder, während er saß, ward eine Landschaft um ihn.
Zu beiden Seiten eines sumpfigen Wegs ziehen sich kahle Baumstrünke hin, deren Äste zackig und verworren in die Luft gespreizt sind. Das Licht ist dämmerig, ungefähr der fünften Morgenstunde im Herbst entsprechend. Die Wolken hängen schwer herab, in Tümpeln spiegeln sie sich noch zerrissener. Da und dort stehen Gebäude aus Ziegeln; sie sind fast alle in halbfertigem Zustand. Bei einem fehlt das Dach, bei andern die Fenster; überall sind Mörtelgruben voll weißer Kalkmassen, und Werkzeuge liegen herum, Schöpfkellen, Hämmer, Meßstäbe, Schaufeln, Spaten; auch Karren und Balken. Nirgends ist aber ein Mensch zu sehen. Es ist eine feuchte, moderige, häßliche Einsamkeit, die auf den Menschen zu warten scheint. Alles ringsherum hat dieselbe gespannte und drohende Stimmung des Wartens: das von den zerfetzten Wolken rieselnde karge Licht; die morastige Flüssigkeit in den Wagengeleisen; die wie auf den Rücken geworfene riesige Insekten sich spreizenden Strünke; die unvollendeten Ziegelbauten mit den Mörtelgruben und Werkzeugen.
Das einzige Lebewesen ist eine Krähe, die am Rand des Weges hockt und Christian mit boshaften Blicken beobachtet. Jedesmal, wenn er ein paar Schritte macht und sich nähert, fliegt sie lautlos auf, entfernt sich ein Stück und hockt sich dann wieder auf einen Baumstrunk. Da wartet sie, bis er sich genähert hat. In den runden Augen, die braun glänzen wie lackierte Bohnen, ist teuflischer Spott, und Christian wird des Verfolgens müde. Die Nässe dringt ihm durch die Kleider, die Schuhe sind voll Kot und bleiben bei jedem Schritt stecken, das unheimliche Zwielicht verwischt die Umrisse und täuscht über die Ferne der Dinge. Er lehnt sich erschöpft an einen kurzen Stamm und wartet nun auch seinerseits. Die Krähe hüpft und fliegt, bald weiter weg, bald näher her; sie ist unwillig über sein Warten, endlich sitzt sie still am Wegrand gegenüber, und die lackierten Bohnenaugen verlieren den tückischen Ausdruck und erlöschen langsam.
Da schauert es ahnungsvoll durch den Raum; Ruths Name ist der Atem der Landschaft, Ruths Schicksal will sich verkündigen.
Und Christian wartete.
Niels Heinrich zögerte ein paar Minuten, bevor er ins Zimmer trat.
Es geschah, daß er einige Minuten allein in der Stube blieb. Während dieser kurzen Zeit gelang es ihm, sich der Perlenschnur zu bemächtigen.
Christian war eben im Begriff gewesen, den Studenten Lamprecht, dem er Michaels Unterricht anvertrauen wollte, ein Stück zu begleiten, da er in Gegenwart des Knaben nicht so offen sprechen konnte, wie er wünschte, als Niels Heinrich kam. Er stutzte und konnte seine Erregung kaum bemeistern. Sich in diesem Augenblick zu entfernen, dünkte ihm nicht unbedenklich; erstens konnte Niels Heinrich, der ja ein kaum berechenbarer Mensch war, aus irgendeiner Laune wieder fortgehen, ohne Christians Rückkunft abzuwarten; zweitens war es nicht geraten, ihn in Michaels Gesellschaft zu lassen. Andrerseits verlangte es Christian, sich für diese ihm vor allem wichtige Unterredung, auf die er Tag um Tag mit elektrisch zitternden Nerven geharrt, erst einmal zu sammeln und die Blutwallung zu beschwichtigen, die Niels Heinrichs stummes Hereintreten in ihm erzeugt hatte. Das konnte so schnell nicht geschehen, und Unschlüssigkeit und Beklommenheit wuchsen, indes er Niels Heinrich artig begrüßte und ihn aufforderte, Platz zu nehmen. Da öffnete sich abermals die Tür, und Johanna Schöntag erschien. Christian ging lebhaft auf sie zu und ersuchte sie in etwas überstürzten Worten, bei Michael zu bleiben, bis er zurückkomme, er werde dann mit Herrn Engelschall, mit dem er einiges zu besprechen habe, in die Vorderhauswohnung gehen. Johanna war verwundert über sein Ungestüm und blickte auch Niels Heinrich verwundert an. Ihr Gesichtsausdruck sagte deutlich, daß sie nicht wußte, wer er war, und Christian sah sich genötigt, die beiden einander vorzustellen, was ihm selbst so widersinnig vorkam, daß er die Namen bloß scheu hinmurmelte. Niels Heinrich grinste, und als ihn Christian bat, er möge ihn für eine Weile entschuldigen, zuckte er die Achseln.
Christians und des Studenten Lamprechts Schritte waren noch nicht im Hof verklungen, da wandte sich Johanna zu Michael und sagte: »Ich wollte Sie abholen. Ich wollte mit Ihnen nach Charlottenburg in die Gedächtniskirche; dort werden Kantaten von Bach gesungen. Begleiten Sie mich doch; Sie haben so etwas sicher nie gehört. Der Herr wird so freundlich sein, Herrn Wahnschaffe auszurichten, wohin wir gegangen sind.« Sie schaute Niels Heinrich an, senkte jedoch den Blick gleich, von einem außerordentlich heftigen Unbehagen bezwungen. Sie hatte das Unbehagen mit dem Moment verspürt, wo sie ins Zimmer getreten war, und nachdem Christian es verlassen hatte, wurde es so quälend, daß sie Michael den Vorschlag nur machte, um diesem ihr aufgedrungenen Beisammensein um jeden Preis zu entrinnen. Allerdings hatte sie noch am Nachmittag die Absicht gehabt, das Konzert zu besuchen, hatte sie aber wieder aufgegeben. Der Gedanke, den Knaben mitzunehmen, war ihr erst jetzt gekommen.
»Charlottenburg, Gedächtniskirche, jawoll, werds bestellen,« sagte Niels Heinrich, und schlug die Beine übereinander. Den Blick hatte er ununterbrochen auf Michael geheftet, und seine Miene verfinsterte sich dabei immer mehr.
Von einem ähnlichen Gefühl wie Johanna ergriffen, hielt Michael jedoch den gelb herübergleißenden Augen mutig stand. Seine Finger zerknitterten nervös ein Blatt Papier auf dem Tisch; er suchte innerlich eine Bindung, ein Bild, eine Führung; er nickte bei Johannas Worten, ohne sie anzusehen, er folgte ihr schweigend, als sie ihn am Arm anrührte; sie hatte seinen Hut und Mantel vom Haken genommen, und nun gingen sie.
Aus dem Haus tretend, gewahrten sie Christian an der nächsten Straßenecke; er stand mit Lamprecht unter einer Laterne. Sie entfernten sich hastig nach der andern Seite.
Niels Heinrich erhob sich. Er zündete eine Zigarette an und marschierte mit hackenden Schritten auf und ab. Dann blieb er vor der Kommode stehen und probierte, ob sich die Laden öffnen ließen. Er tat es mechanisch, hatte weder Neugier, noch eine bestimmte Erwartung dabei. Die Kommode hatte einen Aufsatz aus dünnen, gedrehten Säulen, der ebenfalls eine Lade enthielt. Auch diese zog er heraus, zuckte aber auf einmal, wie wenn ihn etwas gestochen hätte; vor seinen Augen lag ein Haufen haselnußgroßer Perlen.
Sie waren von Christian in dem nichtverschlossenen Behälter nahezu vergessen worden. Einige Tage nach Karens Tod hatte ihm Botho von Thüngen mitgeteilt, daß er nach Frankfurt reisen müsse; Mitglieder seiner Familie befänden sich dort, und er wolle mit ihnen verhandeln. Christian glaubte die Gelegenheit benutzen zu können, seiner Mutter die Perlenschnur zu schicken; sie durch die Post zu senden, widerstrebte ihm in einer verbliebenen Vorstellung ihres großen Wertes. Thüngen hatte sich bereit erklärt, den Auftrag zu übernehmen; aber es kam zur Reise nicht, die Verwandten hatten sich unterdessen schroff von ihm losgesagt, das Entmündigungsverfahren war eingeleitet, die wider ihn angezettelte Hetze trieb ihn aus jeder Ruhe, aus jedem Heim, aus jeder Arbeit; alle Geldmittel waren ihm entzogen, die Frau, die er geheiratet, hatte er nicht zu halten vermocht, sie war noch tiefer gefallen, als wie er sie vordem aufgehoben hatte, um sie zu retten. In dieser zerrüttenden Not war Christian sein einziger Halt und Helfer.
Das war mit Botho Thüngen geschehen, und an die Perlen hatte Christian in all den Tagen kaum gedacht. War ihm auch die dunkle Vorstellung ihres Wertes verblieben, so trieb ihn doch nichts, sie sicherer zu verwahren als in der unversperrten Lade, wo sie Niels Heinrich mit witterndem Instinkt entdeckt hatte.
Ein leiser, langer, erstaunter Pfiff. Ein Schlottern der eingefallenen Backen. Ein Blick des Hungers, ein andrer des verbrecherischen Entschlusses. Ein Zaudern, als sei das Wunder von einem Schatz doch von keinem Belang mehr. Und wieder Brand in den Augen; Genüsse, unerhört, versprachen sich. Und wieder Ekel daran: was solls? Auszufechten ist der Streit gegen den Menschen. Hinter einem die Meute: die Zeugen, die Spitzel, die Indizien, der Komplize, die corpora delicti, der Hund, der Keller, das Blut, der Leichnam, der Kopf, die kleine Made, an ihrer Unterrockschnur erhängt; und vor einem der Mensch. Wir wollen sehen, Mensch; messen wollen wir uns!
Überlegungen einer Sekunde. Ein Griff mit beiden Händen; die Perlen waren Besitz; ein Klirren, Zusammenraffen, Schieben, Stopfen, und sie verschwanden im Hosensack. Es bauschte beträchtlich, aber die Joppe verbargs. Schaute der Mensch in der Lade nach und schlug Lärm, so konnte man ihm ja das Zeug wieder hinschmeißen.
Als Christian zurückkam, saß Niels Heinrich auf dem Stuhl und rauchte.
»Verzeihen Sie,« sagte Christian, »es war eine dringende Abmachung . . .« Er unterbrach sich, da er Niels Heinrich allein in der Stube sah.
»Das Fräulein läßt melden, daß sie mit dem Jungen nach Charlottenburg in die Kirche jejangen is,« sagte Niels Heinrich.
Christian war überrascht. Er antwortete: »Um so besser, dann sind wir ungestört und können hierbleiben.«
»Stimmt, denn sind wir unjestört.« Eine Pause entstand; sie blickten einander an. Christian ging zur Schwelle der kleinen Kammer, um sich zu vergewissern, daß niemand drinnen war, dann zur Tür, die in den Hausflur führte. Er drehte den Schlüssel um.
»Weswegen sperren Sie denn zu?« fragte Niels Heinrich mit erhobenen Brauen.
»Es ist notwendig,« erwiderte Christian; »die Leute, die zu mir kommen, sind gewohnt, die Tür offen zu finden.«
»Denn sollten Sie aber ook die Lampe ausblasen,« höhnte Niels Heinrich; »wäre vielleicht das Gescheiteste. Im Dunkeln is jutt munkeln. Und munkeln tun wer doch, oder meenen Sie nich?«
Christian setzte sich an die andre Seite des Tisches. Er überhörte die zynische Bemerkung geflissentlich. Sein Schweigen und seine gespannte Miene erregten Niels Heinrichs Wut. Herausfordernd lehnte er sich im Stuhl zurück und spuckte in weitem Bogen ins Zimmer. Beide saßen einander gegenüber, als dürfe keiner den andern nur eine halbe Sekunde aus den Augen lassen, doch zeigte Christians Gesicht immer denselben verbindlichen und freundlichen Ausdruck. Nur ein Beben der Stirnmuskeln und die Angestrengtheit des Blickes ließ, was in ihm vorging, ungefähr ahnen.
»Sie haben nichts Neues in Erfahrung gebracht?« fragte er endlich in zuvorkommendem Ton.
Niels Heinrich zündete wieder eine Zigarette an. »Ja doch,« versetzte er; es sei ihm inzwischen gelungen, das Frauenzimmer zu ermitteln, das den Judenjungen so lang bei sich gehalten hatte. Molly Gutkind sei es gewesen, die kleine Made genannt, wohnhaft im Hause bei Adelens Aufenthalt. Er sei der Chose nachgegangen und habe dem Mädchen das Geständnis abgelockt, aber am nämlichen Tage habe sich der Teufel dreingemischt, und die Gerichtspersonen hätten sie vorgenommen. Das dumme Aas habe wahrscheinlich zu viel gequasselt, sie sei in Verdacht gekommen, man habe sie ins Kittchen gesteckt, im Kittchen sei ihr das bißchen Verstand vollends aus der Fasson geraten, sie habe sich aufgehängt und sei mausetot, das Schaf. Dies habe er berichten gewollt, weil der Herr sich so dafür interessiert. Nun wisse es der Herr also und könne hieraus seine Gutmütigkeit ersehen.
Er paffte Dampf um sich und zwirbelte mit den Fingern der Linken am Kinnbärtchen.
»Ich wußte es schon,« sagte Christian. »Ich wußte, wo sich Michael aufgehalten hat. Er hat es mir selbst bekannt. Von dem Tod des Mädchens weiß ich seit heute morgen. Jedenfalls danke ich Ihnen für Ihre Bemühungen.«
Keine Ursache; hätte nichts zu bedeuten; er stehe gern zu Diensten. Der Herr scheine übrigens den Nachrichtenbezug flott zu betreiben; vielleicht wolle sich der Herr später ganz dem Fache widmen? Ob der Herr sonst noch etwas wisse? Er sei nun mal aufgelegt, Rede und Antwort zu stehen, er habe heute seinen spendablen Tag, und wenn der Herr noch was zu fragen habe, solle er sich nicht genieren und man losschießen.
Er blinzelte und starrte wachsam auf Christians Lippen.
Christian besann sich und senkte den Blick. »Da Sie sich freiwillig zu Auskünften bereit erklären,« entgegnete er leise, »so sagen Sie mir doch, weshalb Sie die Schraube von der Maschine entfernt haben, dort bei Pohl & Pacheke, Sie werden sich ja erinnern . . .«
Niels Heinrichs Mund öffnete sich wie eine Klappe. Das scheue Entsetzen bewirkte, daß die Kinnlade einfach heruntersank.
»Sie wundern sich, daß ich davon Kenntnis habe,« fuhr Christian fort, dem es eine unangenehme Empfindung war, daß der andre glauben könne, er wolle ihn durch Geheimniskrämerei gefügig machen; »es geht aber ganz natürlich zu. Gisevius, dessen Sohn bei Pohl & Pacheke Werkführer ist, erzählte, daß Sie dort zwei Tage in Arbeit waren und daß während dieser Zeit die Beschädigung der Maschine geschah. Die beiden Tatsachen hatten bei ihm gar keinen Zusammenhang, er sprach erst von Ihnen, dann von der Geschichte mit der Maschine; auch äußerte er keinen Verdacht. Nur mir selbst war es sofort klar, daß Sie es getan haben mußten; den Grund kann ich nicht angeben; es stand klar vor mir. Ich sah Sie heimlich an der Maschine hantieren und die Schraube lockern. Ich mußte fortwährend daran denken, sah es fortwährend. Wenn ich unrecht haben sollte, so verzeihen Sie mir.«
Verstehe er nicht, kam es schwer und in keuchender Haßangst aus Niels Heinrichs Mund, verstehe er nicht . . .
»Ich hatte das Gefühl, daß Ihnen die Maschine wie ein lebendiges und geordnetes Wesen und deshalb wie ein Feind erschien, und da wollten Sie sie ermorden. Ja, ganz deutlich und unabweisbar hatte ich das Gefühl von Mord. Irre ich mich darin?«
Niels Heinrich gab keinen Laut von sich. Er konnte sich nicht rühren. Es wuchsen Wurzeln von unten her um den Stuhl, auf dem er saß, schlangen sich um seine Beine und hielten ihn eisern fest.
Christian stand auf. »Es hat keinen Zweck, das,« sagte er tiefatmend.
Was? Was habe keinen Zweck? murmelte Niels Heinrich; Was? Was denn? Das Blut in seinem Leibe wurde kalt.
Die Arme an die Seite gepreßt, unten die Fingerspitzen gegeneinander, stand Christian da. »Sprechen Sie. Sagen Sie es mir,« flüsterte er.
Was sprechen? Was sagen? Was denn? Niels Heinrichs Hals glich einem Schlauch, der entleert wird; er war schlaff, und die Haut bebte.
Blick wider Blick. Worte starben. Die Luft sauste.
Auf einmal blies Christian die Lampe aus. Die Finsternis, die jäh eintrat, war wie eine stumme Explosion. »Sie hatten recht,« sprach seine Stimme, »das Licht verrät uns jedem, der vorübergeht. Jetzt sind wir vollkommen sicher. Nach außen wenigstens. Was hier geschieht, geht nur uns an. Sie können tun, was Ihnen beliebt. Sie können wieder den Revolver aus der Tasche ziehen wie neulich und abdrücken. Ich bin darauf gefaßt. Da ich mich nicht vom Fleck bewegen werde, kann es Ihnen keine Schwierigkeit sein, mich zu treffen. Vielleicht aber warten Sie noch, bis Sie gesagt haben, was zu sagen ist und was ich wissen muß.«
Schweigen.
»Sie haben Ruth ermordet.«
Schweigen.
»Sie haben Sie in das Haus gelockt, wo die Schenke ist, in den Keller gelockt und dort getötet.«
Schweigen.
»Sie haben den einfältigen Menschen, den Joachim Heinzen, zum Mithelfer gemacht und ihn durch ein überlegtes Spiel so in Furcht und Verstörung versetzt, daß er allein der Mörder zu sein glaubt, sich nicht einmal getraut, Ihren Namen auszusprechen. Wie ging das zu?«
Schweigen.
»Und wie ging es zu, daß Ruth keine Gnade vor Ihnen fand? Ruth! Diese! Daß Sie das Messer . . . daß das Messer in der Hand gehorchte . . . daß Sie nachher noch reden, trinken, Beschlüsse fassen, von einem Haus ins andre gehen konnten? Mit dem Bild! Mit der Tat! Ist es denn möglich?«
Schweigen.
Christians Stimme hatte nichts mehr von der sonstigen Verhaltenheit und Kühle; sie klang heiser, leidenschaftlich und aufgedeckt. »Was wollten Sie von ihr? Was war denn die letzte Absicht? Warum mußte Ruth sterben? Warum? Was konnte sie geben, wenn sie starb? Was war durch Mord zu gewinnen?«
Da schrie Niels Heinrich, kreischte, brüllte es aus sich heraus: »Die Jungfernschaft, Mensch!«
Nun war es an Christian, zu schweigen.
Keiner konnte den andern wahrnehmen. Die dickstoffigen Vorhänge an den Fenstern schufen eine so undurchdringliche Dunkelheit, daß auch Umrisse von Gegenständen nicht hervortraten. Keiner konnte die Bewegungen des andern sehen, aber sie hatten voneinander das grellste Bewußtsein, ein schauerliches Körpergefühl, ein Gefühl von Verkettetsein und Haft, von Stirn wider Stirn-, Hauch wider Hauchstehen; sie entbehrten nicht das Licht; sie brauchten es nicht.
Dem Niels Heinrich schuf die Finsternis Freiheit. Sie verlieh ihm einen Auftrieb des Trotzes, der Prahlsucht, der Selbstentblößung. Sie war Zusammengeballtes, eine scheußliche Uniform, der er die Forderung, Rechenschaft abzulegen, nicht mehr verweigerte. Sie zerspaltete Klötze in seinem Innern und entband aus ihnen das Wort. Er wagte nicht zu höhnen; er gab es auf, sich zu wehren.
Ein Maul war die Finsternis, das seine Tat ausspie. Da konnte er einmal selber hören, was geschehen war. Manches ließ sich sonderbar neu an. Der Gedanke: da drüben sitzt einer und horcht, da drüben sitzt der Mensch und weidet dich aus wie ein Stück Wild, hatte sogar einen gewissen Kitzel. Nun sollte mal alles von der Leber weg, dann hatte man wenigstens Ruhe vor dem Menschen. Seine Maßregeln konnte man dann immerhin noch treffen.
Wie gesagt, die Jungfernschaft. Daran sei ja nicht viel herumzutüfteln. Das wisse jeder, wie so 'n Junge aufwachse und mit welchen Menschern. Mal kämen solche, mal solche, mal rothaarige, mal schwarzhaarige, mal weinerliche, mal lustige, mal bessere, mal schlechtere, aber Hurenmenscher seien es fast immer. Und wenn auch nicht gerade Hurenmenscher, so doch auf der Kante und mit der Nase daran, in elegant oder in dreckig, fünfzehnjährig oder dreißigjährig, so oder so, den Stich hätten sie mal. Und wenn auch nicht den Stich, so würden sie einem unter den Fingern ranzig, und was man kriege, dem traue man nicht mehr, und habe man sie mal erst in der Kralle, so seien sie auch schon hin. Da gehe der Betrieb so weiter, Montag die Male und Dienstag die Lotte und Mittwoch die Trine, aber den Unterschied, den könne ein Waisenknabe klavierspielen; da werde man endlich wie das Vieh und fresse alles, den Weizen und die Streu, die Kleie und die Disteln. Brenne es, so brenne es, schmecke es, so schmecke es.
Ja, es habe auch Jungfern. Gewiß habe es das. Aber es sei mickriges Zeug, Ramsch sei das, Pofelware. Das quaßle von Ausgang und Kostfrau, von Heiraten und Möbelanschaffen und sei am dritten Sonntag schon gelehrig wie 'n Pudel. Schließlich wisse man doch nie, wer vorher in die Suppe gespuckt; das sei alles zweifelhaft, man habe von vornherein keinen rechten Glauben dran. Und sei es mal was Höheres, so sei es doch das Höchste nicht; das ziere sich, koofmich und etepetete, da sei keine Natur mehr drin und keine Ehrlichkeit, man müsse sie erst kuranzen und kirre machen, und wenn sie es mit der Angst vor dem dicken Bauch bekämen, dann kriegte man den Frost in Koppe und möchte sie am liebsten massakrieren.
Manche Matrosen, die lange auf See gewesen, erzählen von dem krankhaften Überdruß an salzigem, abgelegenem Fleisch. Käme so einer dann an Land und laufe ihm ein lebendiges Lamm oder Karnickel vor die Beine, da sei ihm, als müsse er es geradeswegs in Stücke reißen und das frische warme Fleisch hinunterschlingen. So könne es auch einem Mann mit den Weibern ergehn, und so sei es ihm ergangen, wie er die Jüdin gesehen. Das sei ihm durch und durch gefahren, wie ne glühende Stahlnadel durch nen Eisenpflock, das habe ihn um und um gewirbelt, zeit seines Lebens habe er so was nicht gespürt. Wie verdonnert sei er gewesen, wie behext, als habe er einen Hektoliter Spiritus gesoffen. Beständig das Zucken in den Fingerspitzen, als ob Samt darüber streiche; die Gier nach dem Griffigen, was sich bewegt und was zittert und heiß ist, wenn man hinlangt, die Hügelchen und die gespannte Haut, und das Entsetzen in den Augen und das wunderbare Zappeln, und die feuchten Lippen und die feuchten Zähne und der zurückgebogene Hals und das Winseln aus der tiefen Seele heraus, und das Weinen und Bitten; und wie so eine schreite, so nichts wissend, im Schimmer drin, so hochmütig hoch droben; wie man sich hinlegen möchte, daß sie einem auf die Brust steige und man an ihr hinaufsehen könne wie an ner schlanken Säule, Jesus und alle Heiligen, das haue einen zusammen, da wisse man, das mußt du haben und gehts gleich um die ewige Seligkeit, nach der ohnehin kein Hahn kräht.
Daß so ein Gewächs nicht für ihn gewachsen war, das habe er von vornherein kapiert. Daß so was wie das Allerheiligste sei, wo nur der Priester ran dürfe, habe er sich klargemacht. Aber darum allein habe sichs auch nicht gehandelt. Es sei um mehr gegangen, um viel mehr. Es sei um Leben und Tod gegangen, von Anfang an. Es sei beschlossene Sache gewesen von Anfang an: du stirbst mir. Mir stirbst du, mir! Er habe ihr aufgelauert, und sie sei geflohen wie 'n Reh. Da habe er hinter ihr her gelacht; du rennst mir ja ins Garn, habe er gesprochen und habe Tag und Nacht die Augen und die Gedanken auf sie gerichtet, daß sie nicht mehr aus noch ein konnte. Sie sei ihm erschienen, jawoll, erschienen sei sie ihm, wenn er ihr befohlen habe, zu kommen; erschienen sei sie leibhaftig und habe gebettelt, er solle von ihr lassen. Das sei ganz und gar unmöglich, habe er ihr gesagt, sie müsse her, ihr Blut müsse seines werden, ihren Leib müsse er in Armen halten, ein Ende machen müsse er mit ihr, dann erst habe er sie, sonst sei kein Frieden mehr auf der Welt, für ihn nicht und für sie nicht. Dann habe er seinen Kriegsplan entworfen, habe den Idioten beschwatzt, daß er Feuer und Flamme war für die Jüdin und annehmen mußte, der Gimpel, sie sei auch in ihn verschossen. Da sei er närrisch geworden und habe keinen vernünftigen Gedanken mehr im Schädel gehabt und sei weich gewesen wie Appelmus und habe alles für bare Münze genommen, jeden Schwindel und Phantasmus. Und dann hätten sie die Geschichte beraten und ausgekocht, hätten der Jüdin einen Zettel geschickt, das Mädchen, das ihn überbracht, hätten sie ein paar Tage drauf nach Pankow zu einem alten Pensionisten verdungen, und auf dem Zettel habe man der Jüdin geschrieben, ein Todkranker verlange nach ihr, und sein Seelenheil hänge davon ab, daß sie komme. Da sei sie auch richtig gekommen, es sei schon dunkel gewesen, der Idiot habe sie in den Keller geführt, und die Kellertür habe man zugesperrt. Den Idioten habe er dann in den Verschlag nebenan gelotst und eine Flasche Schnaps hingestellt und ihm gesagt, wenn er sich muckse, könne er seine Knochen numerieren lassen. Er solle bloß abwarten, die Chose mit der Jüdin werde schon für ihn gerichtet werden. Hierauf sei er wieder hinübergegangen, und die Jüdin sei dagestanden . . .
Er unterbrach sich und merkte, wie das ganze Wesen seines unsichtbaren Gegenübers atemberaubtes Lauschen wurde, Einsaugen und Umklammern jeder Silbe. Dies befriedigte ihn nur matt, aber es trieb ihn weiter. Die Geschehnisse wurden in seiner zurückwühlenden Vorstellung über die natürlichen Maße groß; sie waren in brandroten und violetten Dunst getaucht; er redete nicht so sehr von ihnen als sie zu ihm redeten und sich dadurch aufbauten, wie er sie bisher nicht erblickt. Indem er fortfuhr, veränderte sich seine Stimme, wurde zackiger, hohler und verriet zum erstenmal eine innere Regung, wild aufziehende Urqual.
Sie sei dagestanden. Und wie sie dagestanden sei, das habe ihm den letzten Rest gegeben.
»Wie denn?« fragte Christian kaum vernehmlich aus der Schwärze, »wie?«
Er könne es nicht beschreiben. Sie habe geschaut. Mit einem stolzen Staunen und Angstzucken um den Mund. Habe gefragt, wo der sei, zu dem man sie gerufen habe. Der sei auf dem Mond; der sei auf dem Stück Papier. Was man von ihr wolle? Warum die eiserne Tür dort versperrt sei? Habe seine Gründe. Man werde sie ihr doch mitteilen können, die Gründe. Was für ein Stimmchen, was für ein Glöckchen in der Kehle, ein Silberglöckchen! Das ging ins Ohr, als könne das Ohr Liebliches saufen. Gründe seien nicht viele, eigentlich gebe es nur einen einzigen. Verstehe sie nicht. Habe man deutlicher werden müssen. Verstehe sie noch immer nicht. Schaute. Habe man sie beim Arm gepackt, um die Schulter genommen, ^um den Hals genommen. Habe sie aufgeschrien; zu zittern angefangen; sei in den Winkel gerannt; habe die Hände vorgestreckt; sei das Kerzenlicht gerade auf ihr Gesicht gefallen; wie ne weiße Rose vorm Feuer; sei er auf sie zu; habe sie sich hintern Tisch geflüchtet. Habe gerufen: Schonung. Habe man gelacht. Sei aber bereits außer Rand und Band gewesen. So 'n Silberglöckchen in der Kehle. So 'n Weib! Herrgott, so 'n Weib! Kind noch, jedes Fäserchen rein, und so 'n Weib! Das traf; ins Mark schraubte sich das. Konnte man nicht mehr davon lassen, und wenn einen im nächsten Augenblick die Hölle verschluckt hätte.
Habe er sie beruhigt; bißchen schön getan. Gesagt, sie möge einen anhören. Gut, sie wolle hören. Habe er gesprochen. Vor dem Tisch mit der Kerze er, hinter dem Tisch, gegen die Mauer, sie. Habe er gesagt, es sei ein grauliches Muß. Es gebe keinen Ausweg, für sie nicht und für ihn nicht. Er sei in der Verdammnis, sie müsse ihn erlösen. Er lechze und verdorre nach ihr, nach Fleisch und Seele, Mund und Leib, Blut und Atem, und so sei es bestimmt, seit die Welt bestehe. Er müsse zu ihr hin und in sie hinein, sonst käme die Welt ins Rasen und alles Leben werde Gift. Er müsse ihrer Unschuld habhaft werden, ob sie wolle oder nicht, gutwillig oder mit Gewalt, da könne ihr kein Herrgott helfen, das sei Gesetz über ihnen beiden und zur Stunde solle es wahr werden. Sie möge sie fahren lassen, die Unschuld, damit er mal was vom Himmelreich zu spüren kriege.
Darauf habe sie mit einer starren Miene geflüstert: Nein, niemals, nimmermehr.
Da habe er sie lange angesehen.
Da habe sie von Zeit zu Zeit, mit feuchten Blicken nach oben, immer wieder geflüstert: Nein, niemals, nimmermehr.
Er habe gesagt, sie solle die Hoffnung begraben, es werde, widerstrebe sie, nur um so fürchterlicher. Und er habe das Messer auf den Tisch gelegt.
Christian stöhnte in unmenschlichem Schmerz in sich hinein, als er dieses vernahm.
Darauf habe sie, fuhr Niels Heinrich mit seiner tatbeladenen Ruhe fort, ihn zu erweichen versucht. Er vergesse die Worte nie, aber er könne sie nicht wiederholen. Habe wie eine Fiebernde geredet, mit heißleuchtenden Augen, die Haare über den Wangen, flehentlich die Hände gebogen, über den Tisch gelehnt, mit der tiefen süßen Glockenstimme, habe von Menschen erzählt, die auf sie warteten, von Arbeit und Pflichten, wer alles sie brauche und was alles sie vor sich habe an Schwierigem, und was einen alles erfreue, und ob nichts da sei, was ihn erfreue, und ob er das Verbrechen vor Gott und den Menschen auf sich nehmen wolle, ob ihm sein Leben nichts mehr gelte und so weiter. Aber es seien andre Worte gewesen, bessere, festere, genauere. Da habe ihn der Grimm gepackt, und er habe sie angeschrien, das sei hirnrissiges Gewäsche, und sie solle man aufmerken, Jüdin verdammte, die sie sei, solle aufmerken, was er ihr drauf zu antworten habe.
Da sei sie stille geworden, habe die Lippen herabgebogen und habe aufgemerkt. Er habe ihr gesagt, Verbrechen und solchen Quark, damit solle sie ihm gefälligst vom Halse bleiben. Verbrechen kenne er nicht. Das sei von den Leuten ausgedacht, die die Soldaten und die Gerichte dafür bezahlten, ihnen den Willen zu tun; die, wenn sie es für nützlich befänden, eben die Verbrechen selber begingen, im Namen des Staats, der Kirche, des Fortschritts oder der Freiheit. Habe einer die nötige Muskulatur und Schlauheit, so pfeife er auf die Gesetze. Die gälten bloß für die Dummköpfe und Feiglinge. Müsse der einzelne sich der Gewalt fügen, so müsse es ihm auch freistehen, sie auszuüben. Riskiere er die Rache und Strafe der Gesellschaft, so habe er auch das Recht, seine Gelüste zu befriedigen. Frage sich nur, was er auf seine Schultern nehmen könne, und ob er sich durch die Flausen und das von Lehrern und Pfaffen vorgekaute Larifari nicht ins Bockshorn jagen lasse. Käme es auf ihn an, Niels Heinrich Engelschall, so bliebe kein Stein auf dem andern stehen, alle Regel würde ausgerottet, alle Ordnung über den Haufen geworfen, alle Städte in die Luft gesprengt, alle Brunnen zugeschüttet, alle Brücken zerbrochen, alle Bücher verbrannt, alle Wege zerstört, und Vernichtung würde gepredigt, einer gegen alle, alle gegen einen, alle gegen alle. Mehr sei die Menschheit nicht wert; das könne er wohl behaupten, denn er habe sie studiert und durchschaut. Er kenne bloß Lügner und Gauner, erbärmliche Narren, Geizhälse und Streber; er habe die gemeinen Hunde kriechen sehen, wenn sie hochkommen wollten, nach oben kriechen und nach unten kläffen. Er kenne die Reichen mit ihren satten, faulen Redensarten und die Armen mit ihrer niederträchtigen Geduld. Er kenne die Bestechlichen und die Nackensteifen, die Prahler und die Düsterlinge, die Flaumacher und die Blümeranten, die Diebe und die Fälscher, die Weiberhelden und die Kopfhänger, die Dirnen und ihre Zuhälter, Kupplerinnen und junge Herren, die Bürgermadams mit ihrer Scheinheiligkeit und ihrer Geilheit, den Neid da und die Heuchelei dort, und die Maskeraden und das Getue, er kenne alles, und ihm imponiere nichts, und er glaube an nichts außer an den Gestank und an den Jammer und an die Habsucht und an die Freßsucht und an die Tücke und an die Bosheit und an die Wollust. Eine Schandenwelt sei es, und hin werden müsse sie, und wer zu solcher Einsicht mal gelangt sei, der müsse den letzten Schritt tun, den allerletzten, wo die Verzweiflung und der Hohn durch sich selber erstickt werde, wo es nicht weiter gehe, wo man an der stumpfen Hautwand den Engel des Jüngsten Tages pochen höre, wo das Licht nicht mehr hindringe und auch die Nacht nicht mehr, wo man allein sei mit seiner Wut, daß man sich doch endlich spüre und vergrößere und was Heiliges packe und zerschmettere; was Heiliges, darum handle sichs; was Reines, darum handle sichs; und Herr werden darüber, es niederzwingen, es auslöschen.
Furchtbareres hatte Christian nie vernommen. Er starrte ins zerschellte All. Die Furie des Hasses stieg, auch in Wiedergabe ihres Ausbruchs noch, in kochender Lohe empor und äscherte die Blüten der Erde ein. Es konnte Greuelhafteres nicht ausgedacht werden. Das Schicksal des zehntausend Jahre alten Menschengeschlechts war gleichsam besiegelt. Aber daß er hergekommen war, daß er vermocht hatte, sich zu enthüllen, daß er da saß, im Finstern saß und sich wand, vom Ungeheuren berichtete und dabei in die Tiefe stürzte, die er aufgerissen hatte, das war ein Schimmer geheimnisvollster Hoffnung für Christian, ein erster Dämmerstreifen auf dem bisher noch ungewissen, unbekannten Weg.
Und Niels Heinrich fuhr fort: die Jüdin habe langsam begriffen; habe ihn mit großen Kinderaugen angeschaut. Sie habe eine Frage an ihn gerichtet, welche, wisse er nicht mehr. Dann habe sie gesagt, sie sehe ein, daß sie verloren sei und daß sie als sein Opfer fallen müsse. Er habe geantwortet, es mache ihrem Verstand Ehre, daß sie es einsehe. Und sie wieder: ob er denn wisse, daß er damit sich selber vernichte? Darauf er: an Vergeltung glaube er nicht, das übrige sei seine Sache. Jetzt sei es des Schwatzens genug, die Zeit dränge, es müsse Schluß gemacht werden. Und sie: was sie tun solle? Diese Frage habe ihn ziemlich aus der Fassung gebracht, und er habe nichts erwidern gekonnt. Sie habe die Frage wiederholt, und er habe gemurmelt, die Kerze brenne schon herunter. Nun habe sie gefragt, ob er ihr Sicherheit des Todes geben könne? Ja, die könne er geben. Ob sie nicht vorher sterben dürfe, ehe er sie angreife? Nein. Sie habe nach dem Messer gefaßt. Er habe ihr das Messer entwunden. Die Berührung ihrer Hand habe ihn dermaßen rabiat gemacht, daß ihm gewesen sei, als knirsche die Kellermauer und als dröhne das Haus. Er solle sie doch sterben lassen durch ihren Willen, habe sie gebeten. Das könne er nicht, habe er geantwortet, er müsse an ihr lebendiges Herz heran, sonst sei ihm nicht geholfen. So möge er ihr eine Viertelstunde Zeit gönnen, sie wolle ihre Gedanken sammeln und ihn dann bitten, daß er sie töte. Das habe er bewilligt. Sei inzwischen hinausgegangen, um nach dem Idioten zu sehen. Der sei dagelegen, besoffen wie 'n Stint und habe alle viere von sich gestreckt. Das sei ihm lieb gewesen; mit dem habe man nun anstellen können, was immer man gewollt. Habe sich auch später erwiesen, wie er ihn hinübergeschleppt habe; und das Vieh sei immer noch der Meinung, man werde ihn heraushauen, wenn er bis zuletzt seinen, Niels Heinrichs Namen, nicht in den Mund nehme. Als er nun zur Jüdin zurückgekehrt, sei sie an die Mauer gelehnt gewesen, mit geschlossenen Augen. Sie habe ein bleiches Gesicht gehabt, aber von Zeit zu Zeit habe sie gelächelt. Von ihm befragt, warum sie lächle, habe sie geschwiegen, habe ihn aber höchst sonderbar angesehen, als besinne sie sich auf etwas. Er sei hingegangen, hinter den Tisch, sie habe sich nicht von der Stelle gerührt und er habe sie an der Schulter gepackt. Sie habe die Hände aufgehoben, und er habe bemerkt, daß sie, während er draußen gewesen, die Adern an ihren Handgelenken durchgeschnitten habe. Das Blut sei dick heruntergeronnen. Sie müsse es mit einer Glasscherbe getan haben, die zwischen Mauersteinen gesteckt. Da sei er in die helle Tobsucht geraten, wie wenn es drauf und dran gewesen wäre, daß sie ihm einer wegnähme. Er habe sie an den Haaren zu Boden gerissen.
Sie habe geschrien. Einen einzigen, langen Schrei. Den Schrei höre er noch jetzt.
Glied um Glied, Hauch um Hauch, Zuckung um Zuckung sei sie sein geworden. So nur könne man besitzen; so und nicht anders. Himmels-, Gottes-, Erdenseligkeit.
Er habe nicht bereut, er werde nicht bereuen. Aber den Schrei, den höre er immerfort und immerfort.
Er verstummte. Die Lautlosigkeit in dem finstern Gemach war so groß, daß sie sich in den Ecken drohend zu sammeln schien, um die Wände zu sprengen.
Mehr als eine halbe Stunde war in völligem Schweigen verflossen, da erhob sich Christian und zündete die Lampe wieder an. Sturz und Zylinder klirrten unter seinen zitternden Händen. Er fürchtete sich vor den Funktionen seiner Sinne, Gesicht, Gehör, Geruch. Jede Wahrnehmung wurde eine Wunde des Bewußtseins und sickerte wie Gift in den Lebenskern. Langsam formten sich die trüben Umrisse zum Bild einer Wirklichkeit.
In ihm und von außen her drängte alles zur Entscheidung.
Krampfig hintübergebeugt, lag auf dem Stuhl vor ihm ein Mensch, dessen Gesicht ohne bezeichenbare Farbe war. Die Augen waren geschlossen, der Mund halboffen. Die kariösen Zähne und der matt hängende Kinnbart verliehen ihm einen Ausdruck von Bestialität. Die spitzfingrigen Hände mit blaugeschwollenen Adern regten sich wie Reptilien.
Die Stirn aber war über und über von Schweiß bedeckt. Wie die Tropfen aus dem Deckel eines erhitzten Gefäßes voll Flüssigkeit brach der Schweiß hervor und stand in dicken Perlen auf der Haut.
Dieser Anblick war so beängstigend, daß Christian sein Taschentuch nahm und Stirn und Schläfen mit vorsichtiger Gebärde abwischte. Und indem er es tat, fühlte er auch seine eigne Stirne naß. Er zögerte, mit demselben Tuch seine Stirn abzuwischen, aber da öffnete Niels Heinrich die Augen und sah ihn an: finster, tief und kalt. Er überwand seinen Abscheu und trocknete seine Stirn mit demselben Tuch.
Es wurde an die Tür gepocht. Niels Heinrich fuhr auf wie von einem Faustschlag getroffen und stierte wild, mit bleichen, leeren Augen.
Christian ging, um zu öffnen. Die Zurückkehrenden waren es, Michael und Johanna.
Niels Heinrich, taumelnd, suchte mit Blicken seine Mütze. Christian reichte sie ihm, mit einer vollkommen undurchschaubaren Artigkeit immer noch, und schickte sich an, Niels Heinrich zu begleiten. Dieser hatte nur einen Blick dumpf-entsetzten Nichtbegreifens. Dann zog er die Schultern hoch und wankte, mit allmählich sich festigendem Schritt, von Christian gefolgt, zur Schwelle.