Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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Die Lehre des Meisters war: Erziehe deinen Leib zur Furcht vor dem Geist; was du ihm über die Notdurft gewährst, macht dich zu seiner Sklavin. Sei nie die Verführte, verführe du, dann bleibt dir immer der Weg bekannt. Sei allen ein Geheimnis, sonst wirst du dir gemein; nur dem Werk gib dich hin, Leidenschaften der Sinne verwüsten das Herz. Was ein Mensch vom andern wirklich empfängt, ist niemals die Fülle der Stunde und der Seele, sondern ein Bodensatz, der erst spät und unmerkbar befruchtet wird.

Als sie im Alter von zwölf Jahren, von Gauklern beschwatzt und von ihrem Schicksal gerufen, die Heimat verließ, das weltentlegene fränkische Städtchen, war es noch weit bis zum Meister hin, aber der Weg war vorbestimmt.

Sie verlor sich nie. Sie glitt über Bedrängnisse und Erniedrigungen hinweg, wie die Gemse über Abgründe und Geröll. Wer sie unter den Mitgliedern der wandernden Truppe sah, hielt sie für ein geraubtes Kind von vornehmer Geburt. Dabei war sie die Tochter eines unbekannten Musikers, der Daniel Nothafft hieß, und einer Dienstmagd; mit dem Vater war sie nur durch ein Traumgefühl von Mitleid und Verehrung verbunden, die Mutter hatte sie niemals gesehen und deren mißklingenden Namen hatte sie abgeworfen.

In Zelten und Scheunen zu nächtigen, war sie gewohnt. In Orten am Meer hatte sie oft zwischen Klippen geschlafen, eingehüllt in eine Decke. Sie kannte den Nachthimmel, seine Wolken und seine Sterne. Sie war unter Tieren gelegen, Eseln und Hunden, im Stroh, und war auf der gebrechlichen, mit Menschen bepackten Karre bei Regen oder Schneegestöber über die Landstraßen gefahren. Es war eine Romantik, die im Widerspruch zum Zeitalter stand.

Sie hatte ihre theatralischen Kostüme nähen und täglich unter der Fuchtel des Oberhaupts der Gesellschaft ihre anstrengenden Übungen machen müssen. Aber sie lernte auch die fremde Sprache und kaufte auf Jahrmärkten heimlich die Bücher der Poeten, die in dieser Sprache gedichtet hatten. Heimlich las sie, manchmal auf herausgerissenen Seiten, die sich leicht verbergen ließen, Beranger, Musset, Victor Hugo und Verlaine.

Sie ging auf dem hohen Seil, das ohne Schutznetz über einen Dorfplatz von First zu First der Häuser gespannt war, und ging so sicher wie auf Brettern. Sie war die Partnerin eines dressierten Tanzbären und trat mit fünf Pudeln auf, die Purzelbäume machten. Sie turnte am Trapez, und ihre große Nummer war, sich in Karriere von einem Pferd aufs andre zu schwingen. Hierbei stellte der Leierkastendreher die Musik ein, um die Zuschauer zu verständigen, daß Ungewöhnliches geschah. Sie trug den Sammelteller am Strick entlang und nötigte manchen, durch einen Blick nur, in die Tasche zu greifen, der sich tückisch davonstehlen wollte.

Sie beklagte sich nicht nur nicht, sondern sie nahm die vielfachen Obliegenheiten aus eigenem Antrieb auf sich. Es war ihr bewußt, daß alles dies nur Schule war und Vorbereitung. Sie hatte die Gabe zu warten, in niedriger Sphäre sich innerlich schaffend zu gedulden.

In einigen Dörfern und kleinen Städten an der Rhone geschah es, daß sie unter dem Publikum häufig einen Mann bemerkte, der sich an zwei Krücken mühselig fortschleppte. Er folgte der Truppe von Ort zu Ort, und da seine ganze Aufmerksamkeit jedesmal bloß auf Eva gerichtet war, litt es keinen Zweifel, daß er es um ihretwillen tat.

Es war in der Nähe von Lyon, als sie, nach zweijährigen Wanderzügen, am Typhus erkrankte. Ihre Leute mußten sie ins Hospital bringen, sie konnten nicht warten, der Führer wollte nach gemessener Zeit zurückkehren und sie holen. Als er kam, war sie erst im Beginn der Genesung; plötzlich tauchte neben ihrem Bett der Mann mit den Krücken auf. Er winkte den Gauklerchef beiseite; man sah an den Mienen, daß es sich bei dem Gespräch um Geld handelte. Aus dem Händedruck ihres bisherigen Herrn spürte Eva, daß sie ihn zum letzten Male sah.

9

Lukas Anselm Rappard hieß der mit den Krücken. Er wurde Evas Retter und Erwecker; er lehrte sie ihre Kunst, er nahm sie in seine Obhut, und diese Obhut war von tyrannischer Art. Er gab sie erst wieder frei, als sie geworden war, wozu er sie hatte formen wollen.

Seit langem hatte er sich in Toledo zur Ruhe gesetzt, weil drei oder vier Gemälde dort waren, denen nah zu sein er die Weltabgeschiedenheit nicht scheute. Dann auch, weil die spanische Sonne ihn am meisten durchwärmte, und weil das Volk ihm gefiel.

Ungeachtet seines Gebrechens reiste er alljährlich nach Norden an die See. Er reiste wie die Altvordern, langsam von Ort zu Ort. Seine Schwester Susanne war seine stete Begleiterin.

Auf der Rückkehr war er diesmal zufällig von Evas Auftreten Zeuge geworden. Die dörflichen Jahrmärkte dieser Gegend hatten ihn schon oft verlockt. Da fand er unversehens, was ihn reizte, ein Werk zu schaffen. Es war ein Bildhauergelüst; die Form schwebte ihm vor, der Stoff war gegeben; der Anblick des Lebens entzündete Ideen, die zu gestalten er bereits verzichtet hatte.

Anfangs nannte er es eine Laune; als er sich in die Aufgabe versenkt hatte, wurde es zur Leidenschaft eines Pygmalion.

Er mochte vierzig Jahre zählen oder etwas mehr. Sein bartloses Gesicht war derbknochig, bäurisch-brutal. Je genauer man es aber betrachtete, je geistiger erschien es. Die grüngrauen Augen, tief in starken Höhlen liegend, hatten eine Blickgewalt, die überraschte, ja erschreckte.

Der merkwürdige Mann hatte eine merkwürdige Herkunft und ein merkwürdiges Schicksal. Sein Vater war ein holländischer Sänger gewesen, seine Mutter eine Dalmatinerin; sie waren beide nach Kurland verschlagen worden und während einer Epidemie fast zu gleicher Zeit gestorben. Die Geschwister waren schon als Kinder in die Ballettschule des Rigaer Theaters ankommen. Lukas Anselm gab zu großen Hoffnungen Anlaß. Durch eine unvergleichliche Elastizität und Leichtigkeit stellte er alles in den Schatten, was man bisher an jungen Tänzern gesehen hatte. Mit siebzehn Jahren entfesselte er das Publikum der Mailänder Skala durch seine Wirbel und Sprünge zu einer selten gehörten Beifallsraserei. Seine Wirkung erschien unzeitgemäß, verspätet oder verfrüht. Seine ganze Person hatte etwas Befremdendes, Überpflanztes, und bald wurde er auch an sich irre oder an den Elementen, die ihn trugen. Mit zwanzig Jahren wurde er von einer krankhaften Schwermut erfaßt.

Da begab es sich, als er in Petersburg gastierte, daß sich eine junge und jungverheiratete Dame vom Hof in ihn verliebte. Sie bewog ihn dazu, sie eines Nachts in ihrer Villa außerhalb der Stadt zu besuchen. Jedoch ihr Gatte war hiervon benachrichtigt worden; er schützte eine Reise vor, um die Frau in Sicherheit zu wiegen, drang mit mehreren Dienern in ihr Schlafgemach, riß den Liebhaber von ihrer Seite, ließ ihn von seinen Leuten blutig peitschen, sodann binden und nackt in den Schnee hinaustragen. Hier, im Schnee, bei strenger Kälte, mußte der Unglückliche bis zum Morgen, sechs Stunden lang, liegen.

Gefährliche Krankheit und unheilbare Lähmung waren die Folgen der Gewalttat. Susanne pflegte ihn und verließ ihn nicht eine Stunde. Sie hatte ihn stets bewundert und geliebt, jetzt vergötterte sie ihn. Ein kleines Vermögen hatte er bereits erworben, es vermehrte sich durch eine Erbschaft von mütterlicher Seite. So war er in den Stand gesetzt, unabhängig zu leben.

Ein neuer Mensch wuchs in ihm. Die Krüppelhaftigkeit verlieh seinem Gehirn jene Schwungkraft, die vordem sein Körper besessen hatte. Auf wunderlichem Weg durchmaß er die Weite modernen Daseins von einem Endpunkt bis zum andern und spannte, über Schmerz, Enttäuschung und Verzicht, den Bogen vom Sinnlichen zum Geistigen. In seiner Verwandlung vom Tänzer zum Krüppel schien ihm eine tiefe Bedeutung zu liegen; er forschte nach der Idee und nach dem Gesetz, und das schroffe Widerspiel von äußerer Ruhe und innerer Bewegung, von innerer Ruhe und äußerer Bewegung dünkte ihm wichtig zur Erklärung der Menschheit und der Zeit.

Mit zweiundzwanzig Jahren lernte er Lateinisch, Griechisch und Sanskrit. Er trieb die Studien eines Schülers und hörte Vorlesungen an deutschen Universitäten. Der fremdartige Student, der mühsam an Stöcken humpelte, bildete häufig den Gegenstand neugieriger Nachfrage. Als er dreißig alt war, reiste er in Susannes Begleitung nach Indien und lebte vier Jahre lang in Delhi und in Benares. Er verkehrte mit gelehrten Brahmanen und wurde von ihnen in Mysterien eingeweiht, die kein Europäer vor ihm erfahren. Eines Tages stand er einem sagenhaften tibetanischen Lama gegenüber, der achtzig Jahre lang in einer Höhle im Gebirg gelebt und den die ewige Finsternis blind, die ewige Einsamkeit zum Heiligen gemacht hatte. Der Anblick des Hundertjährigen erschütterte ihn, zum erstenmal in seinem Leben, bis zu Tränen. Er verstand nun Heiligkeit und glaubte an Heiligkeit. Und dieser Heilige tanzte. Beim Sonnenaufgang tanzte er, die blinden Augen dem Gestirn zukehrend.

Er sah die religiösen Feste in den Tempelsiedlungen am Ganges und fühlte die Nichtigkeit des Lebens und die Gleichgültigkeit des Todes, wenn die Pestleichen zu Hunderten und aber Hunderten den Fluß hinunterschwammen. Er ließ sich in die Urwälder und die Dschungeln tragen und sah überall Tod und Leben so ineinander verstrickt, daß eines Art und Züge des andern annahm, Verwesung die der Geburt, Fäulnis die der Zeugung. Man erzählte ihm von der Marmorstadt eines Rajahs, in der nur Tänzerinnen lebten, die von Fakiren unterrichtet wurden; wenn die Zeit kam, wo sie verblühten und ihre Gelenke die Kraft einbüßten, wurden sie getötet. Sie hatten das Gelübde der Keuschheit abgelegt, und wenn sie es brachen, wurden sie getötet. Er ging hin, doch erhielt er keinen Einlaß. In der Nacht sah er Feuer auf den Dächern und hörte die Gesänge der jungfräulichen Tänzerinnen. Bisweilen glaubte er auch einen Todesschrei zu hören.

Diese Nacht mit den Feuern und den Gesängen, den geahnten Tänzen und dem ungewissen Schrei speicherte neue Energien in ihm auf.

10

Er brachte Eva nach Toledo. Er hatte dort ein Haus gemietet, in welchem, wie es hieß, einst der Maler Greco gewohnt hatte.

Das Gebäude war ein grauer Würfel, im Innern ziemlich öde. Es lebten Katzen darin, Eulen, Fledermäuse und Ratten.

Mehrere Räume waren angefüllt mit Büchern; die Bücher wurden Evas stumme Freunde in den Jahren, die nun kamen und in denen sie fast keinen andern Menschen sah als Rappard und Susanne.

In diesem Hause lernte sie die Einsamkeit kennen, die Arbeit und die völlige Hingebung an eine Idee.

Sie betrat es mit der Furcht vor ihm, der sie durch seinen Willen hergezwungen. Seine Sprache und sein Wesen schüchterten sie so ein, daß sie Angstvorstellungen hatte, wenn sie an ihn dachte. Sie zu beschwichtigen, war Susanne eifrig bemüht.

Susanne erzählte vom Bruder, abends und nachts, wenn Eva mit einem bis zur Verzweiflung erschöpften Körper dalag, vor Erschöpfung nicht schlafen konnte. Sie war nicht verweichlicht, das Leben bei der Truppe hatte sie an die härtesten Anstrengungen gewöhnt, aber dieser unaufhörliche Drill, diese eintönige Plage der ersten Monate, in der alles wüst und schmerzlich war, ohne Lockung, ohne Licht, ohne Begreifen fast, machte sie krank und ließ sie ihre Glieder hassen.

Susanne beschwor sie mit dumpfer Stimme; Susanne streichelte ihre Arme und Beine; Susanne trug sie ins Bett und las ihr vor. Und sie schilderte ihn, der in ihren Augen ein Zauberer war, ein ungekrönter König, an dessen Blick und Atemhauch sie hing und aus dessen Vergangenheit sie Szenen und Worte wiedergab, weitschweifig und wirr oft, zuweilen auch so packend und bildvoll, daß Eva das Glück der Fügung zu ahnen begann, welches ihn auf ihren Weg geführt.

Dann kam ein Tag, wo er zu ihr redete. »Glaubst du dich zur Tänzerin geboren?« – »Ich glaube es.« Und er sprach zu ihr über den Tanz. Das schwankende Gefühl wurde fest. Sie spürte den leichter und leichter werdenden Körper. Als er sie verließ, schaute sie mit Augen, in denen schon der Ehrgeiz flammte.

Er hatte sie gelehrt, mit aufgereckten Armen zu stehen, und kein Muskel durfte zittern; sich auf den Fußspitzen zu halten, daß der Scheitel einen hängenden spitzen Pfeil berührte; mit nackten Füßen bestimmte Figuren zwischen aufgespießten Nadeln zu gehen, und wenn jede Wendung den Gliedern eingefleischt war, mit verbundenen Augen die Gefahr zu meiden; sich um einen vertikal gespannten Strick zu wirbeln und ohne Hilfe der Arme auf hohen Stelzen zu schreiten.

Sie hatte vergessen müssen, wie sie bisher gegangen, geschritten, gelaufen, gestanden war, und sie mußte lernen, zu gehen, zu schreiten, zu laufen, zu stehen. Es mußte neu werden, wie er sagte; Glieder, Knöchel und Gelenke mußten sich zu neuen Funktionen entschließen, so wie ein Mensch, der im Straßenschmutz gelegen ist, neue Kleider anzieht. »Tanzen heißt Neusein,« sagte er, »in jedem Augenblick frisch aus Gottes und seiner Engel Hand.«

Er weihte sie ein in den Sinn und das Gesetz aller Bewegung, in die Struktur und den Rhythmus jeglicher Gebärde.

Er schuf die Gebärde mit ihr. Er dichtete um jede Gebärde ein Erlebnis. Er zeigte ihr, was Flucht war, was Verfolgung, was Abschied, was Begrüßung; was Erwartung, was Triumph; was Freude, was Angst. Es gab keine Regung eines Fingers, an der nicht der ganze Körper teilzunehmen hatte; Spiel der Augen und der Mienen kam so wenig in Frage, daß man das Gesicht getrost verhüllen konnte, ohne daß der Ausdruck litt.

Er schälte alles aus dem Überflüssigen; er forderte den Extrakt.

»Kannst du trinken? So trinke.« Es war falsch. »Phrase; so hat der Mensch nicht getrunken, der noch nie einen Trinkenden gesehen hat.«

»Kannst du beten? Kannst du pflücken, die Sense schwingen, Körner sammeln, einen Ring darreichen, einen Schleier binden? Gib das Bild davon! Stell es dar!« Sie konnte es nicht. Er lehrte es sie.

Wenn sie sich in die Wirklichkeit verirrte, schäumte er vor Zorn. »Die Wirklichkeit ist ein Vieh!« schrie er und schleuderte eine seiner Krücken an die Wand, »die Wirklichkeit ist ein Mörder!«

Er erklärte ihr an Statuen und vor den Gemälden großer Künstler die wesentliche und geadelte Linie und wie das Gedachte und Erbaute wieder mit der Natur und ihrer Unmittelbarkeit in Harmonie gebracht war.

Er sprach über die Musik als Helferin. »Du brauchst die Melodie nicht, kaum den Ton. Wichtig ist allein die geteilte Zeit, das hörbar abgesetzte Maß, das die heftige, wilde, leidenschaftliche oder die sanfte, getragene, liebliche Bewegung leitet und eindämmt. Hierzu genügt ein Tamburin oder eine Wasserpfeife. Alles übrige ist Schwindel und Trübung. Hüte dich vor Poesie, die nicht aus deiner Leistung kommt.«

Er ging des Nachts mit ihr in Schenken und Tanzlokale, wo Mädchen aus dem Volk ihre kunstlosen und aufgeregten Tänze vorführten. Er enthüllte den Kern davon und ließ sie einen Bolero, einen Fandango, eine Tarantella tanzen, die nun wie geschliffene Edelsteine wirkten.

Er rekonstruierte die alten Waffentänze für sie, die Pyrrhiche und die Karpeia; den Tanz der Musen auf dem Helikon um den Altar des Zeus; den Tanz der Artemis mit ihren Gespielinnen; den Geranostanz von Delos, welcher den Weg des Theseus durch das Labyrinth nachahmte; den Tanz, den die Mädchen von Karyai zu Ehren der Artemis von Karyai tanzten, wobei sie einen kurzen Chiton und ein korbartiges Weidengeflecht auf dem Haupte trugen; den Keltertanz, der durch die Schale des Hieron überliefert ist und bei welchem alle bei der Weinlese und beim Keltern vorkommenden Handlungen dargestellt werden. Er zeigte ihr Abbildungen der Francoisvase, der geometrischen Vase vom Dipylon, vieler Reliefs und Terrakotten und ließ sie die Figuren studieren, die eine hinreißende Anmut und einen unvergleichlichen Schwung der Bewegung hatten. Er verschaffte ihr die Musik dazu, die er mit Susannes Hilfe aus alten Notenschriften auszog und den Tänzen anpaßte.

Von da an führte er sie höher; veranlaßte sie, selbst zu erfinden, selbst zu fühlen und das Gefühl zu formen; löste den hypnotisch aufs Technische oder nur Schöne gebannten Blick, machte ihre Sinne frei, ließ sie das Feld übersehen, auf dem sie wirken sollte, den tauben, blinden Schwarm und Haufen; flößte ihr die Liebe zu den unsterblichen Werken ein und wappnete ihr Herz gegen die niedrige Verführung, gegen das Spiel ohne höchsten Einsatz, das Tun ohne Maß, das Sein ohne Gewicht.

Erst als sie von ihm ging, faßte sie ihn ganz.

Er gab ihr Susanne mit, als er sie reif fand, sich der Welt zu zeigen, außerdem Empfehlungen, die den Anfangsweg ebneten. Er wollte einsam leben. Für die Pflege, deren er bedurfte, hatte Susanne einen jungen Kastilier abgerichtet. Ob er in Toledo bleiben oder einen andern Wohnsitz wählen würde, sagte er nicht. Seit sie ihn verlassen, hatte weder Eva noch Susanne von ihm gehört; Briefe und Nachrichten hatte er sich verbeten.

11

Susanne saß oft in der Nacht in einem finstern Winkel und nannte aus tiefem Brüten heraus seinen Namen. Ihre Gedanken drehten sich um die Wiedervereinigung mit ihm. Der Dienst bei Eva war bloß eine gewaltsame Unterbrechung des Lebens an seiner Seite.

Sie liebte Eva; aber sie liebte sie als Lukas Anselms Werk und Werkzeug. Wenn Eva Ruhm gewann, so war es für Lukas Anselm; wenn sie Schätze sammelte, es war für Lukas Anselm; wenn sie mächtig wurde, für Lukas Anselm wurde sie's. Die sich Eva nahten und sich ihr unterwarfen, waren Kreaturen Lukas Anselms, seine Hörige und Sendlinge.

Ach, dachte sie, als sie nach dem Auftritt mit Christian Wahnschaffe in Evas Gemach ihr zu Füßen kauerte, wie so oft, und ihre Knie umklammert hielt, ach, er hat ihr eine unwiderstehliche Seele eingehaucht, er hat sie schön und strahlend gemacht.

Aber es war auch eine abergläubische Befürchtung in ihr. Insgeheim zitterte sie davor, daß diese unwiderstehliche Seele plötzlich einmal aus Evas Körper entweichen, die strahlende Schönheit schwinden würde, und daß dann nichts übrigblieb als eine leere, tote Hülle. Geschah es, dann wußte sie, daß Lukas Anselm nicht mehr war.

Darum freute sie sich, wenn Überschwang und Ausgelassenheit, Glanz und Tumult in Evas Leben herrschten, und wurde niedergeschlagen und von schlimmen Ahnungen geplagt, wenn die Schöne sich zurückzog und still und allein blieb. So lang Eva tanzte, so lang Eva liebte, so lang sie Feste feierte und sich schmückte, brauchte Susanne nicht um den Bruder zu bangen, und darum saß sie da und blies in die Flamme, aus welcher Lukas Anselm zu ihr redete.

»Hast du den Engländer gewählt, so mußt du deswegen dem Deutschen nicht den Laufpaß geben,« sprach sie. »Nimm den einen, und den andern kannst du noch schmachten lassen. Man weiß nicht, wie die Dinge sich verändern. Es sind viele da; sie steigen, sie fallen. Mit Cardillac gehts auch bergab; man munkelt allerlei.«

»Eidolon,« flüsterte Eva hinter den Händen, die ihr Gesicht verbargen.

»Wie denn?« sagte Susanne ärgerlich, »erst höhnst du ihn, dann rufst du ihn. Wer wird daraus klug?«

Mit einem Ruck schnellte Eva empor. »Du sollst mir nicht von ihm sprechen, du sollst ihn mir nicht preisen, Kupplerin,« rief sie mit glühenden Wangen, und der spöttisch leichte Ton, in dem sie immer mit Susanne redete, wurde drohend.

»Golpes para besos,« murmelte Susanne spanisch, »Schläge für Küsse.« Sie stand auf, um Evas Haar weiterzukämmen und für die Nacht zu flechten.

Am andern Tag kam Crammon. »Ich habe einen gefunden, dessen Lachen die Eseltreiber in Cordoba schamrot macht,« begann er mit komischer Feierlichkeit; »aus welchem Grund wird er verworfen?«

Sein Herz blutete, aber er warb für den Freund. Wie sehr er Denis Lay auch bewunderte und liebte, Christian stand ihm näher; Christian war sein Fund, auf den er eitel war, Christian war sein Held.

Eva sah ihn mit blitzenden Augen an und entgegnete: »Es ist wahr, er versteht zu lachen wie jener Eseltreiber in Cordova, aber er hat auch nicht mehr Herzensbildung als der Eseltreiber in Cordova, und das, mein Lieber, ist mir zu wenig.«

»Und was soll nun aus uns werden?« seufzte Crammon.

»Ihr könnt mit mir nach England gehen,« antwortete Eva heiter. »Ich tanze im Theater Seiner Majestät. Eidolon soll mein Page sein, soll Ehrfurcht lernen und nicht um Pferde feilschen, wenn man mir schöne Gedichte vorliest. Sagen Sie es ihm.«

Abermals seufzte Crammon, griff nach ihrer Hand und küßte andächtig die Fingerspitzen. »Ich will es ausrichten, süßer Ariel,« entgegnete er.

12

Cardillac fiel in Ungnade bei Eva; damit verlor er den letzten Halt. Die Gefahr, mit der er verwegen gespielt, umstrickte ihn; der Abgrund zog ihn hinunter.

Den äußeren Anstoß zu seinem Sturz gab ein junger Ingenieur, der einen Wassermesser erfunden hatte. Cardillac hatte ihn durch großartige Versprechungen überredet, ihm die Nutzbarmachung der Erfindung zu überlassen. Es dauerte nicht lange, so erkannte der Ingenieur, daß er betrogen und um den Ertrag seiner Arbeit gebracht war. Er sammelte in der Stille Material gegen den Spekulanten, deckte seine betrügerischen Geschäfte auf und überreichte bei Gericht eine Reihe vernichtender Anklagen. Obwohl ihm Cardillac schließlich fünfmalhunderttausend Franken anbieten ließ, wenn er die Klagen zurückziehe, weigerte sich der hartnäckige Verfolger.

Andre Umstände kamen hinzu; die Katastrophe war nicht mehr aufzuhalten. An einem einzigen Vormittag fielen die Kurse seiner Papiere um Hunderte von Franken. Dreihundert Millionen wurden in zweimal vierundzwanzig Stunden verloren. Die Ernte des Baissiers war gekommen. Zahllose Existenzen gerieten mit der Geschwindigkeit eines Lawinensturzes ins Elend, achtzehnhundert Kleingewerbetreibende büßten ihr ganzes Hab und Gut ein, siebenundzwanzig bedeutende Firmen mußten den Konkurs anmelden, Senatoren und Abgeordnete des Parlaments wurden in den Strudel gerissen, und unter den Angriffen der Opposition wankte die Regierung.

Felix Imhof kam nach Paris, um aus dem Zusammenbruch zu retten, was noch zu retten war. Der empfindliche Verlust, den er erlitten hatte, hinderte ihn nicht an entzückten Äußerungen über das imposante Schauspiel, welches der Untergang Cardillacs der Welt darbot.

Crammon sagte: »Ich war keusch wie Joseph, als mich diese Potiphar verführen wollte.« Er deutete mit dem Zeigefinger kichernd auf Imhof und rieb sich selbstzufrieden die Hände.

Am darauffolgenden Abend ging Imhof mit den Freunden zu Eva Sorel. Sie hatte das Palais verlassen, das ihr Cardillac eingerichtet, und ein schönes Haus an der Chaussee d'Antin gemietet.

Imhof sprach von der besonderen Tragik moderner Schicksale, und als ein Beispiel erzählte er, wie Cardillac drei Tage vor seinem Sturz im Hauptquartier seiner erbittertsten Gegner erschienen sei, nämlich in der Bank von Paris. Der Verwaltungsrat der Bank war vollzählig versammelt. Mit gefalteten Händen, mit tränenüberströmtem Gesicht flehte der gehetzte Mann um ein Darlehn von zwölf Millionen Franken. Es war ein drastisches Zeichen seiner Naivität, von denen Hilfe zu verlangen, die er seit Jahr und Tag an der Börse geschröpft, deren Verluste er eingeheimst und die er mit dem neuen Darlehn noch weiter bekämpfen wollte.

Christian hörte zerstreut zu. Er stand Arm in Arm mit Crammon vor einem chinesischen Wandschirm; ihnen gegenüber saß Eva, eigentümlich verträumt, und dicht neben ihr Sir Denis Lay. Auch andre waren anwesend, aber ihnen schenkte Christian keine Aufmerksamkeit.

Auf einmal entstand an der Tür eine Bewegung. »Cardillac,« flüsterte jemand. Alle blickten hin.

In der Tat war es Cardillac, der eingetreten war. Seine Stiefel waren beschmutzt, Kragen und Krawatte in einer Unordnung, als habe er sie schon eine Woche lang am Leib. Er hatte die Fäuste zusammengedrückt, seine Augen wanderten unstet von Gesicht zu Gesicht.

Eva und Sir Denis blieben ruhig sitzen. Eva stützte den Fuß auf den Rand eines kupfernen, mit weißen Lilien gefüllten Gefäßes. Auch die andern rührten sich nicht. Nur Christian machte, unwillkürlich, ein paar Schritte auf Cardillac zu.

Cardillac gewahrte ihn. Er ergriff ihn am Ärmel des Fracks und zog ihn zur Tür des Nebenraums. Sie waren kaum über die Schwelle gelangt, als Cardillac gepreßten Tones flüsterte. »Ich muß zweitausend Franken haben, sonst bin ich verloren. Strecken Sie mir zweitausend Franken vor, Monsieur, retten Sie mich, ich habe Frau und Kind.«

Frau und Kind, dachte Christian erstaunt, wie geht das zu, kein Mensch hat davon gewußt. Und weshalb wendet er sich gerade an mich? Da ist Wiguniewski, da ist d'Autichamps, da sind viele, die er besser kennt.

»Ich muß in einer halben Stunde am Ostbahnhof sein,« hörte er Cardillac sagen. Er griff nach seiner Brieftasche.

Frau und Kind, fuhr es ihm durch den Kopf, und der heftige Widerwille gegen Bettler erwachte in ihm; was hab ich damit zu schaffen? Er nahm die Geldnoten heraus. Zweitausend Franken, dachte er, und erinnerte sich der Millionensummen, die man gewohnt war, in Verbindung mit dem Namen des Mannes zu nennen, der bettelnd vor ihm stand.

»Ich danke Ihnen,« vernahm er Cardillacs Stimme wie durch eine Wand.

Mit gesenktem Kopf schritt Cardillac an ihm vorüber; im andern Zimmer hatten sich indessen zwei fremde Männer eingefunden. In der offenen Doppeltür hinter ihnen standen die Diener mit verlegenen Gesichtern. Es waren Polizeibeamte. Sie suchten Cardillac, sie waren ihm bis ins Haus gefolgt.

Cardillac, sie erblickend und was sie hergeführt erratend, prallte gurgelnd zurück. Seine rechte Hand verschwand in der Rocktasche; mit einem Sprung waren die beiden Leute neben ihm und hatten seine Arme gepackt. Es gab ein kurzes, lautloses Ringen; plötzlich war er gefesselt.

Eva hatte sich erhoben. Ihre Gäste scharten sich um sie. Sie lehnte sich an Susannes Schulter und drehte den Kopf zur Seite, als graue ihr ein wenig. Aber sie lächelte noch, wenngleich mit entfärbten Wangen.

»Er ist grandios, auch in diesem Moment grandios,« sagte Imhof leise, zu Crammon gewendet.

Christian starrte auf Cardillacs mächtigen Rücken; wie der Rücken eines Ochsen, der zur Schlachtbank gezogen wird, mußte er denken. Die zwei Männer, in deren Mitte der Gefesselte ging, hatten fettglänzende Nacken und darüber am Hinterkopf schlecht abgeschnittene, unsaubere Haare.

Ein übler Geschmack im Gaumen quälte Christian. Er rief einen der Diener und verlangte ein Glas Sekt.

Cardillacs Worte: »Ich habe Frau und Kind« wollten ihm nicht aus dem Sinn. Im Gegenteil, sie klangen immer greller, und da fragte auf einmal eine zweite Stimme, neugierig, einfältig: wie mögen sie aussehen, diese Frau, dieses Kind? Wo mögen sie sein? Was wird mit ihnen geschehen?

Es war störend und peinigend wie Zahnschmerz.

13

In der Grafschaft Devonshire, südlich von Exeter, hatte Sir Denis Lay seinen Landsitz. Das Herrenhaus lag inmitten eines Parks mit uralten Bäumen, tiefgrünen Rasenplätzen, kleinen Seen, in deren Spiegel der Himmel ruhte, und Blumenbeeten, denen das mildeste Klima der Erde alle Kraft entlockte.

»Wir sind in der Nähe des Golfstroms,« sagte Crammon erklärend zu Eva und Christian, die gleich ihm Sir Denis Gäste waren, und er machte ein Gesicht, als ob er nur um der Freunde willen den Golfstrom eigenhändig aus dem Busen von Mexiko an die englische Küste geleitet hätte.

Mit einer Miene schwesterlicher Zärtlichkeit ging Eva stundenlang zwischen den eben erblühten Veilchen umher. Weite Flächen strahlten blau; es war im März.

Mehrere junge Lords und Ladies wurden erwartet, aber erst am dritten Tag.

Auf einem Spaziergang waren die vier vom Regen überrascht worden und kehrten naß zurück. Als sie sich umgekleidet hatten, trafen sie im Bibliotheksraum wieder zusammen und nahmen hier den Tee. Es war eine große Halle, deren Wände mit dunkler Eiche getäfelt waren; mächtige Balken trugen die Decke. In halber Höhe lief eine Galerie mit geschnitztem Geländer, und an einer Schmalwand sah man zwischen den Bogenfenstern die vergoldeten Pfeifen einer Orgel.

Es dämmerte, und der Regen rauschte. Eva hatte ein Album mit Kopien Holbeinscher Bilder vor sich; langsam schlug sie Blatt um Blatt um. Christian und Crammon spielten Schach. Sir Denis schaute ihnen eine Weile zu, dann setzte er sich an die Orgel und begann zu spielen.

Eva ließ die Blätter ruhen und lauschte.

»Die Partie ist verloren,« sagte Christian, stand auf und ging die Treppen zur Galerie empor. Er lehnte sich über die Brüstung und blickte hinunter. Auf einem Vorbau des Geländers lag, wie ein Ei in einem Becher, ein Erdglobus in metallenem Gestell.

»Was ist es, was spielen Sie?« fragte Eva, als Sir Denis eine Pause machte.

Sir Denis wandte sich um. »Ich habe eine Stelle aus dem Hohen Lied zu komponieren versucht,« antwortete er. Er begann wieder und sang mit wohllautender Stimme: »Erhebe dich, du Schöne, und komm mit mir, der Winter ist vorüber.«

Der Klang der Orgel erregte in Christian ein Gefühl von Haß. Sein Auge umfaßte die Gestalt Evas; in einem meergrünen Kleid, schlank, fern und fremd, saß sie dort drunten, und wie er sie anschaute, vermischte sich mit dem Haß gegen die Musik ein andres Gefühl, ein wehes, lastvolles, und sein Herz fing heftig an zu schlagen.

»Erhebe dich, du Schöne, und komm mit mir,« sang Sir Denis. Crammon brummte die Melodie leise mit. Eva sah empor und begegnete dem Blick Christians; in ihrem Gesicht war ein rätselhafter Ausdruck von Hoheit und von Liebe.

Christian nahm den Globus aus dem Gestell, um mit ihm zu spielen. Er ließ ihn, als sei es ein Gummiball, auf der flachen Brüstung zwischen seinen Händen hin und her rollen. Aber da entglitt ihm die Kugel, stürzte in die Tiefe und rollte auf dem Boden weiter, gerade vor Evas Füße.

Sir Denis kam herbei, auch Crammon; Christian stieg die Treppe von der Galerie herunter.

Eva hob die Kugel auf und ging mit ihr Christian entgegen; er nahm sie, aber sie griff gleich wieder danach. Und sie hielt sie so, daß sie auf den Fingerspitzen ihrer rechten Hand lag. Die Linke hielt sie mit gespreizten Fingern daneben, der Kopf war vorgebeugt, die Lippen waren geöffnet.

»Das ist also die Welt,« sagte sie; »das ist eure Welt! Das Blaue ist der Ozean und das Schmutzige, Gelbe, das sind die Länder. Wie häßlich die Länder! Wie unförmlich! Wie ein Käse, an dem die Mäuse geknabbert haben! Pfui! O Welt, was alles auf dir kriecht! was alles auf dir geschieht! Das also bist du, Welt, so halt ich dich, so trag ich dich. Das gefällt mir.«

Die drei jungen Leute, obschon sie lächelten, verspürten einen leisen Schauder. Sie konnten auf dieser kleinen runden Erdkugel nicht mehr aufrecht stehen, sie stürzten vor dem Atemhauch der Tänzerin in die schwarze, unermeßliche Tiefe des Kosmos.

Und Christian sah, daß Sir Denis ihn anschaute, mit einem Entschluß ringend. Plötzlich ging der Baronet auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Christian gab ihm seine Hand, dem bevorzugten Rivalen, gegen den sich sein heimlichstes Gefühl doch im Vorteil wußte; denn zwischen Evas Antlitz und dem bunten Globus glaubte er ein geisterhaftes Figürchen wahrzunehmen, das sie mit bannendem Blick umfing, ein winziges Ebenbild seiner selbst, Eidolon.

Im Sommer wollten sie nach Exeterhall zurückkehren, um den Hirsch zu Pferde zu jagen, wie es dort Herrenbrauch war. Aber im Sommer war schon alles anders; im Sommer war Sir Denis schon von der runden Kugel geglitten.

14

Eines Tages, es war in London, kam Crammon zu Christian, setzte sich vertraulich zu ihm und sagte: »Ich reise ab.«

»Wohin willst du reisen?« fragte Christian erstaunt.

»In den Norden, Lachse zu fischen,« antwortete Crammon, »ich komme wieder zu dir, oder du kommst zu mir.«

»Aber warum reist du denn?«

»Mein Leben geht vor die Hunde, wenn ich diesem Weib noch länger sehen muß, ohne sie zu besitzen. That's all.«

Christian schaute Crammon flammend an und unterdrückte eine Gebärde zorniger Eifersucht. Dann wurde seine Miene wieder freundlich-spöttisch.

Und Crammon reiste.

Eva Sorel war die unbestrittene Beherrscherin der Londoner Modemonate. Alles war voll von ihrem Namen; die Frauen trugen Hüte à la Eva Sorel, die Männer Krawatten mit ihren Lieblingsfarben. Die umworbensten Größen der Zeit sahen sich neben ihr in den Schatten gestellt, sogar der Negerboxer Jackson. Sie konnte den Ruhm in vollen Zügen schlürfen und das Gold mit Eimern schöpfen.

15

Der Mai in London war sehr heiß. Sir Denis und Christian verabredeten den Plan zu einer nächtlichen Fahrt auf der Themse. Sie mieteten die Dampfjacht »Aldebaran«, bestellten ein köstliches Mahl auf dem Schiff, und Sir Denis schickte Einladungen an Freunde und Bekannte.

Vierzehn Herren und Damen der vornehmen Londoner Gesellschaft nahmen an der Partie teil. Die Jacht wartete am Landungsplatz vor dem Parlamentsgebäude, und kurz vor Mitternacht kamen die Gäste, alle in Abendkleidern. Es war der Sohn des russischen Botschafters dabei, der Honorable James Wheely, der Bruder des Ministers, der Graf und die Gräfin von Westmoreland, Eva Sorel, Fürst Wiguniewski und andre.

Punkt zwölf Uhr lichtete der »Aldebaran« die Anker, und die Musikkapelle, die aus erwählten Künstlern des Drury-Lane-Theaters bestand, fing an zu spielen.

Als die Jacht auf ihrem Weg flußaufwärts die Eisenbahnbrücke von Battersea erreicht hatte, sah man am linken Ufer, von einer Reihe trüber Straßenlaternen beleuchtet, eine unabsehbare Menschenmenge, Männer und Weiber, Kopf an Kopf, Tausende und Tausende.

Es waren streikende Arbeiter von den Hafendocks. Warum sie hier standen, so schweigend, so drohend im Schweigen, war keinem auf dem Schiff bekannt. Es mochte eine stumme Demonstration sein.

Sir Denis Lay, der viel Champagner getrunken hatte, trat an die Reling des Schiffes, und in seinem Übermut rief er ein dreimaliges Cheer hinüber. Kein Laut antwortete ihm. Wie eine Mauer stand die gedrängte Masse, und in den düsteren Gesichtern, die sich dem blendend erleuchteten Dampfer zukehrten, bewegte sich keine Miene.

Da sagte Sir Denis zu Christian, der neben ihn getreten war: »Wir wollen zu ihnen hinüberschwimmen, wir beide. Wer zuerst ans Ufer gelangt, ist Sieger und soll sie fragen, diese Leute, worauf sie warten, warum sie nicht in ihre Löcher kriechen, so spät in der Nacht.«

»Hinüber zu denen?« antwortete Christian und schüttelte den Kopf. Man forderte von ihm, er solle schleimiges Gewürm mit seinen Händen greifen und eine Trophäe daraus machen.

»Dann tu ichs allein,« rief Sir Denis und warf Frack und Weste auf das Deck.

Er war als vorzüglicher Schwimmer berühmt; die Gesellschaft nahm daher den Einfall als eine jener bizarren Launen hin, die an dem jungen Edelmann nicht überraschten. Nur Eva suchte ihn zurückzuhalten; sie näherte sich ihm und legte warnend die Hand auf seinen Arm. Vergeblich; schon schickte er sich an, mit einem Kopfsprung über das Geländer in den Fluß zu springen. Da kam noch der Kapitän, packte ihn an der Schulter und bat ihn, so üblen Scherz zu unterlassen, da die Themse bei aller scheinbaren Unbewegtheit eine starke und gefährliche Strömung habe. Jedoch Sir Denis riß sich los, eilte auf das Promenadendeck, und einige Sekunden später flog sein schlanker Körper in die schwarze Flut.

Niemand dachte an Unheil. Der Schwimmer kam in mächtigen Stößen vorwärts, und die Zuschauer an Bord waren sicher, daß er das Ufer von Chelsea mit Leichtigkeit gewinnen würde. Auf einmal aber sah man ihn, der vom Licht eines Scheinwerfers am Ufer ziemlich gut beleuchtet war, die Hände über den Kopf werfen. Gleichzeitig rief er gellend um Hilfe. Ohne sich zu besinnen, sprang darauf ein Cellist von der mitgenommenen Musikkapelle mitsamt seinen Kleidern über Bord, um dem offenbar Ertrinkenden beizustehen. Unglücklicherweise war die durch die Ebbe verursachte Strömung um diese Stunde besonders heftig; sowohl Sir Denis als auch der Musiker wurden von ihr fortgerissen. Beide verschwanden in den Wellen.

Da wich die Betäubung von Christian, und ehe noch einer ihn hindern konnte, sprang er ebenfalls ins Wasser. Er vernahm einen Aufschrei; er fühlte, daß es Eva war, die schrie. Die Herren und Damen auf dem Schiff eilten ratlos hin und her.

Christian konnte die Leiber der Gesunkenen nicht mehr wahrnehmen. Das Wasser staute sich und hemmte seine Bewegungen. Jähe Schwäche überfiel ihn, doch Angst hatte er nicht. Den Kopf hebend, sah er die stumme Menge der Arbeiter, Gesichter von Männern und Weibern, andre Antlitze, als er sie je geschaut; obwohl der Blick, den er auf sie heftete, nur sekundenkurz war, war er fast sicher, daß alle ihre finstere Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt wäre, daß sie auf ihn harrten, auf ihn ganz allein, die Tausende und Tausende. Die Schwäche nahm zu, sie hatte ihre Ursache im Herzen, das schwer und schwerer wurde. Aber da wurde er von einem Rettungsboot erreicht.

Um drei Uhr morgens, als es dämmerte, fand man die Leichen von Sir Denis und dem Musiker zwischen zwei Balken am Pfeiler einer Brücke. Sie lagen nun auf Deck, und Christian konnte sie betrachten. Die Gäste hatten das Schiff verlassen; auch Eva war gegangen, Fürst Wiguniewski hatte die Erschütterte weggeführt.

Die Matrosen hatten sich zur Ruhe gelegt. Das Deck war leer, Christian saß allein bei den Leichen.

Die Sonne ging auf, das Wasser des Stroms begann zu blühen, das Pflaster in den verödeten Straßen und die Mauern und Fenster der Häuser färbten sich mit Röte. Möwen flogen schreiend um den Schlot.

Christian saß allein bei den Leichen, in einen alten Mantel gehüllt, den ihm der Kapitän gegeben. Unverwandt schaute er in das Gesicht des toten Gefährten, das gedunsen und häßlich war.

16

Nördlich vom Loch Lommond wanderten Christian und Crammon; sie jagten Schnepfen und Wildenten. Das Land war rauh; unfern brüllte die See, am Himmel zogen vom Sturm zerfetzte Wolken hin.

»Mein Vater wird sich nicht freuen,« sagte Christian, »in den letzten zehn Monaten hab ich zweimalhundertachtzigtausend Mark gebraucht.«

»Deine Mutter wirds ihn zu verschmerzen lehren,« antwortete Crammon. »Du bist ja volljährig, kannst fünfmal soviel brauchen, ohne daß dich einer hindern darf.«

»Was wohl die kleine Lätizia treiben mag,« sagte Christian, warf den Kopf hoch und atmete die salzige Luft tief in die Lungen.

Crammon antwortete: »Ich denke auch bisweilen an das Kind. Man sollte sie der alten Gimpelfängerin nicht lassen.«

Ihr Kuß brannte längst nicht mehr auf Christians Lippen; sie hatten seitdem andre Flammen gespürt. Wie lachende Putten auf einem Gemälde gaukelten die schönen Gesichter um ihn her. Freilich, manche unter ihnen lachten jetzt nimmer.

Dunkelgekleidet war Eva zwischen weißen Säulen hervorgetreten, als er sich von ihr verabschiedet hatte. Er sah es noch, sah ihr braunblasses Gesicht, die unsäglich schlanke Hand, die beredteste Hand der Welt. Sie hatte ihn mit dem scherzenden Du angeredet, wie sie oft zu tun pflegte, in der Sprache ihrer deutschen Heimat, die in ihrem Munde eindringlicher und melodischer klang als in irgendeinem Munde sonst.

»Wo gehst du hin, Eidolon?« hatte sie sorglos gefragt.

Er machte eine unbestimmte Bewegung. Er hielt offenbar dafür, daß es ihr gleichgültig war, wohin er ging.

»Man verläßt mich also, ohne um Urlaub zu bitten?« sagte sie und legte beide Hände auf seine Schultern. »Aber es ist vielleicht gut, daß du gehst. Du machst mich irre. Ich fange an, an dich zu denken, und das will ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich will es nicht. Was brauchst du Gründe?«

Da stieg Sir Denis Lays gedunsenes Totengesicht vor ihnen auf, vor ihm und vor ihr, und sie schauten beide hin.

»Wann werden wir uns wiedersehen?« hatte er nach einer Weile zu fragen gewagt.

»Es hängt von dir ab,« hatte sie erwidert. »Laß mich immer wissen, wo du bist, damit ich dich rufen kann. Unsinn, ich werde dich natürlich nicht rufen. Aber es könnte doch sein, daß mich eine Laune ergreift und ich dich haben will, dich und keinen andern. Nur mußt du lernen –,« sie unterbrach sich und lächelte.

»Was? Was muß ich lernen?«

»Sprich mit deinem Freund Crammon. Er kann dir sagen, was du lernen sollst.« Nach diesen Worten war sie weggegangen.

Das Meer brüllte wie eine Herde von Büffeln. Christian blieb stehen und wandte sich an Crammon. »Hör mal, Bernhard, da ist eine Sache, die mir wunderlich im Sinn herumgeht. Als ich zuletzt mit Eva redete, sagte sie, ich müßte etwas lernen, wenn ich sie wiedersehen wollte. Und als ich sie fragte, was sie meinte, sagte sie, du könntest mir Auskunft darüber geben. Was ist es denn? Was soll ich denn lernen?«

Crammon antwortete ernsthaft: »Ja, siehst du, mein Schatz, das ist nicht so einfach. Manche wollen ein Beefsteak durchgebraten, manche wollen es roh; manche wollen es halb roh und halb gebraten, und wenn man nun den Geschmack nicht kennt und es in der Weise aufträgt, wie es einem selber am besten schmeckt, so riskiert man eine Blamage und steht da als ein Tropf. Es ist nicht einfach mit den Menschen.«

»Ich verstehe dich nicht, Bernhard.«

»Tut nichts, mein Lieber, tut nichts. Zerbrich dir nicht den schönen Kopf und gehn wir weiter. Die verdammte Gegend macht einen schwermütig.«

Sie gingen weiter, Christian mit einer ungekannten Traurigkeit im Herzen.


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