Alfred de Vigny
Cinq-Mars oder eine Verschwörung gegen Richelieu
Alfred de Vigny

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Zweites Kapitel. Die Straße

Die Regierung, aus der wir einige Jahre schildern wollen, eine Regierung der Schwäche, die gleichsam eine Verdunkelung der Krone zwischen dem Glanz Heinrichs IV. und Ludwigs des Großen war, verletzt die Blicke, die sich auf sie heften, durch einige blutige Befleckungen. Sie waren nicht nur das Werk eines einzelnen, große Korporationen hatten ihren Anteil daran. Es ist traurig, zu sehen, daß in diesem Jahrhundert der Unordnung die Geistlichkeit gleich einer großen Nation ihren Pöbel wie ihren Adel, ihre unwissenden und verbrecherischen wie ihre gelehrten und tugendhaften Prälaten hatte. Was ihr von Grausamkeit blieb, ward seit jener Zeit durch die lange Regierung Ludwigs XIV. abgeschliffen und ihre Verdorbenheit durch das Blut ihrer Märtyrer in der Revolution von 1793 abgewaschen. Infolge eines ganz eigentümlichen Schicksals durch die Monarchie wie durch die Republik vervollkommnet, durch die eine gezähmt, durch die andere gezüchtigt, ist sie ernst und selten lasterhaft auf unsere Zeit gekommen.

Wir haben das Bedürfnis gefühlt, bevor wir zur Erzählung der Ereignisse schritten, welche die Geschichte jener Zeiten uns darbietet, uns einen Augenblick bei diesem Gedanken aufzuhalten, und ungeachtet dieser tröstlichen Beobachtung konnten wir nicht umhin, allzu abscheuliche Einzelheiten wegzulassen und den strafbaren Handlungen nur unser stilles Bedauern zu zollen, wie man bei der Schilderung des Lebenslaufes eines tugendhaften Greises die Verirrungen seiner leidenschaftlichen Jugend oder die verdorbenen Neigungen seines reiferen Alters beweint.

Als der Zug unserer Reisenden in die schmalen Straßen von Loudun einritt, ließ sich ein seltsamer Lärm vernehmen: sie waren von einer dichten Menschenmasse vollgepfropft; von der Kirche und dem Kloster ertönten die Glocken, als wäre die Stadt von einer Feuersbrunst heimgesucht, und alles drängte sich, ohne den Reisenden die geringste Aufmerksamkeit zu schenken, einem großen, an die Kirche stoßenden Gebäude zu. Auf den Physiognomien ließen sich leicht Spuren von höchst verschiedenen und oft einander ganz entgegengesetzten Eindrücken erkennen. Zahllose Gruppen und Zusammenrottungen bildeten sich; der Lärm der Unterhaltung legte sich plötzlich und man hörte nur noch eine Stimme, die zu ermahnen oder zu lesen schien, dann erhob sich von allen Seiten ein wütendes, mit frommen Ausrufen vermischtes Geschrei: die Gruppe zerstreute sich und man sah, daß der Redner ein Kapuziner oder Barfüßermönch war, der, in der Hand ein hölzernes Kruzifix haltend, die Menge auf das große Gebäude hinwies, dem sie sich zuwandte.

»Jesus Maria!« schrie ein altes Weib, »wer hätte je geglaubt, daß der böse Geist unsere Stadt zur Wohnung erwählen würde!«

»Und daß die guten Ursulinerinnen besessen würden!« sagte eine andere.

»Man sagt, der Teufel, der die Priorin plage, heiße Legion«, bemerkte eine dritte.

»Was sagen Sie, meine Liebe!« unterbrach eine Nonne: »es hausen ihrer sieben in ihrem armen Leibe, auf den sie ohne Zweifel ihrer großen Schönheit wegen zu viel Sorgfalt verwandte; jetzt ist er eine Herberge der Hölle; beim gestrigen Exorzismus hat der Herr Prior der Karmeliter ihr den Teufel Eazas aus dem Munde getrieben und der wohlehrwürdige Pater Lactance auch den Teufel Beheril verjagt. Die fünf anderen haben aber nicht fortgewollt, und als die heiligen Teufelaustreiber, die Gott stärke, sie auf lateinisch aufgefordert hatten, sich zu entfernen, antworteten sie, daß sie es nicht täten, bevor sie ihre Macht bewiesen hätten, an der die Ketzer und Hugenotten zu zweifeln scheinen, und der Teufel Elimi, welcher der böseste ist, wie ihr wißt, hat behauptet, er werde heute Herrn von Laubardemonts Scheitelläppchen vom Kopfe führen und es während eines Miserere in der Luft halten.«

»Ach, heilige Jungfrau!« hob die erste wieder an, »ich zittere schon am ganzen Leibe. Und wenn ich erst bedenke, daß ich schon mehrmals Messen von diesem Zauberer Urbain verlangte!«

»Und ich«, sagte ein junges Mädchen, sich bekreuzigend, »ich, die ich ihm vor zehn Monaten gebeichtet, wäre ohne die Reliquie der heiligen Genoveva, die ich unter meinem Rocke trug, gewiß besessen worden, und . . .«

»Und, Tadel beiseite, Martine«, ward sie von einer dicken Krämerin unterbrochen, »Sie sind auch lange genug allein bei dem schönen Hexenmeister geblieben.«

»Wohlan, meine Schöne, 's wird jetzt einen Monat her sein, daß Sie nicht mehr besessen sind«, sagte ein junger Soldat, der sich, seine Pfeife rauchend, unter die Gruppe mischte.

Das junge Mädchen errötete und zog die Kapuze ihres schwarzen Mäntelchens über ihr hübsches Gesicht. Die alten Weiber warfen einen Blick der Verachtung auf den Soldaten, und da sie sich eben nahe an der noch geschlossenen Eingangstür befanden und sahen, daß sie sicher waren, zuerst eintreten zu können, setzten sie sich auf die steinernen Bänke und Wehrsteine, und während ihre Unterhaltung immer lebhafter wurde, bereiteten sie sich durch ihre Erzählungen auf das bevorstehende Glück vor, die Zuschauerinnen bei irgend etwas Fremdartigem, einer Erscheinung oder wenigstens einer Hinrichtung zu sein.

»Ist es wahr, Tante«, sagte die junge Martine zu der ältesten der Frauen, »daß Sie den Teufel reden hörten?«

»So wahr als ich dich sehe, und alle Anwesenden können das nämliche von sich sagen, meine Nichte; ich habe dich heute mit mir gehen lassen, damit deine Seele erbaut werde«, fügte sie hinzu, »und du sollst die Macht des bösen Geistes in Wirklichkeit kennen lernen.«

»Was für eine Stimme hat er, liebe Tante?« fuhr das junge Mädchen fort, entzückt, eine Unterhaltung anzuregen, welche die Gedanken der Umstehenden von ihr selbst abwandten.

»Er hat keine andere Stimme als die Stimme der Priorin, der die heilige Jungfrau gnädig sein möge. Ich habe das arme junge Weib gestern lange gehört; es war ein Jammer, zu sehen, wie sie sich die Brust zerfleischte, Arme und Beine auswärts drehte und dann plötzlich nach hinten und auf dem Rücken ineinander schlang. Als der heilige Vater Lactance kam und den Namen Urbain Grandier aussprach, trat Schaum aus ihrem Munde und sie sprach Latein, als ob sie die Bibel lese.«

»Ich hab' es auch nicht gut verstanden und nur die Worte Urbanus magicus rosas diabolicas aufgefangen, was sagen wollte, daß der Zauberer Urbain sie mit Rosen behext habe, die ihm der Teufel gegeben, und dann drangen aus ihren Ohren und aus ihrem Hals flammenfarbene Rosen hervor, die so nach Schwefel rochen, daß der Herr Kriminalrichter rief, es würde jedermann gut tun, die Nasenlöcher und Augen zuzuhalten, weil die Teufel auszumarschieren begännen.«

»So höre man nur!« schrien mit kreischender Stimme und triumphierender Miene die versammelten Weiber alle, indem sie sich gegen die übrige Menschenmenge und hauptsächlich gegen eine Gruppe schwarzgekleideter Männer kehrten, unter welchen sich auch der junge Soldat befand, der sie im Vorbeigehen angeredet hatte.

»Da sind ja wieder die alten Närrinnen, die sich beim Hexensabbat glauben und mehr Lärm machen, als wenn sie auf einem Besenstiel daselbst angeritten kommen«, sagte er.

»Junger Mann, junger Mann«, sagte ein Bürger mit düsterer Miene, »laßt Euch im Freien keine dergleichen Scherze beikommen, der Wind würde in dermaliger Zeit zur Flamme für Euch.«

»Meiner Treu, ich verlache alle diese Teufelaustreiber, ich«, entgegnete der Soldat; »ich heiße Grand-Ferré, und nicht viele haben einen Weihwedel gleich dem meinigen.«

Und seinen Säbelgriff mit der einen Hand fassend, drehte er mit der anderen seinen blonden Schnurrbart und schaute, die Augenbrauen runzelnd, um sich; da er aber in der Menge keinen Blick sah, der dem seinigen zu trotzen suchte, so schritt er langsam und mit dem linken Fuß zuerst weg und spazierte in den engen, dunklen Straßen mit jener vollkommenen Gleichgültigkeit eines debütierenden Militärs und einer tiefen Verachtung für alles, was nicht sein Kleid trägt.

Inzwischen spazierten acht bis zehn vernünftige Einwohner dieser kleinen Stadt schweigend miteinander durch die bewegte Menge, sie schienen über diesen auffallenden und plötzlichen Lärm bestürzt und staunten jede neue Tollheitsszene, die sich ihren Augen bot, fragend an. Diese stumme Mißbilligung machte die Männer vom Volke und die zahlreichen, vom Lande gekommenen Bauern, die alle ihre Meinung in den Blicken der Besitzenden, meistenteils ihrer Herren, suchten, traurig; sie sahen, daß sich etwas Unangenehmes vorbereite, und nahmen zu dem einzigen Mittel, das der unwissende und betrogene Untertan ergreifen kann, zur Ergebung und Unbeweglichkeit ihre Zuflucht.

Nichtsdestoweniger besitzt der französische Bauer in seinem Charakter eine gewisse spöttelnde Naivität, deren er sich gegen seinesgleichen oft, gegen seine Vorgesetzten immer bedient. Er tut Fragen, welche die Macht, wie die Fragen des Kindes das reifere Alter, in Verlegenheit setzen; er dehnt sie ins Unendliche aus, damit der Befragte sich durch seine eigene Höhe in Verlegenheit gesetzt findet; er verdoppelt das linkische Wesen seiner Manieren und die Grobheit im Ausdrucke, um den geheimen Zweck der Gedanken des Befragten besser zu durchschauen; indes nimmt wider seinen Willen alles etwas Hinterlistiges und Zurückschreckendes an, das ihn verrät, und sein sardonisches Lächeln und die affektierte Plumpheit, mit der er sich auf seinen langen Stab stützt, zeigen nur zu deutlich, welchen Hoffnungen er sich überläßt und welches die Stütze ist, worauf er rechnet.

Einer der ältesten Bauern trat, von zehn bis zwölf jüngeren, seinen Söhnen und Neffen, begleitet, vor; sie trugen alle den großen Hut und jene blaue Bluse, vormals die Tracht der Gallier, die das französische Volk jetzt noch über alle seine anderen Kleider anzieht und die für sein regnerisches Klima und sein arbeitsames Wesen so gut paßt. Als er im Bereiche der erwähnten Personen war, nahm er seinen Hut ab, welchem Beispiel seine ganze Familie folgte; sein braunes Gesicht und seine hohe gerunzelte Stirn, umwallt von langen weißen Haaren, kamen jetzt erst zum Vorschein; seine Schultern waren durch Alter und Arbeit gekrümmt. Mit einer Miene der Zufriedenheit und beinahe der Ehrerbietung wurde er von einem ernst aussehenden Manne jener schwarzgekleideten Gruppe empfangen, der ihm, ohne den Hut zu lüften, die Hand reichte.

»So, so, mein guter Vater Guillaume Leroux«, redete er ihn an, »Ihr verlaßt unsere Meierei La Chênaie auch, um in die Stadt zu gehen, obwohl es nicht Markttag ist? Das ist gerade, wie wenn unsere guten Ochsen sich losspannen würden, um auf die Starenjagd zu gehen, und das Pflügen im Stiche ließen, um einen armen Hasen jagen zu sehen.«

»Hm, Herr Graf du Lude«, entgegnete der Pächter, »meiner Treu, der Hase wirft sich oft ihnen entgegen; es ist mir zu Ohren gekommen, daß man uns arg mitspielen will, und so komm' ich, ein bißchen zu sehen, wie . . .«

»Brechen wir ab davon, mein Freund«, antwortete der Graf; »hier ist Herr Fournier, der Advokat, der wird Euch nicht täuschen, denn gestern abend hat er seine Stelle als königlicher Prokurator niedergelegt und künftig wird seine Beredsamkeit nur noch seiner edlen Gesinnung dienen; Ihr hört ihn vielleicht heute noch, allein ich fürchte es so sehr für ihn als ich es für den Angeklagten wünsche.«

»Gleichviel, mein Herr, ich verfechte die Wahrheit mit Leidenschaft«, sagte Fournier.

Dieser war ein junger, äußerst blasser Mann, dessen Gesicht jedoch voll Adel und Ausdruck war; seine blonden Haare, seine hellblauen Augen, seine Magerkeit und sein schlanker Wuchs ließen ihn anfänglich jünger erscheinen, als er wirklich war, allein seine Züge, die den Stempel des Nachdenkens und der Leidenschaft trugen, kündeten eine große geistige Überlegenheit und jene frühe Reife der Seele an, welche Studium und natürliche Kraft verleihen. Er trug ein schwarzes Kleid und nach der Mode jener Zeit einen schwarzen, sehr kurzen Mantel; unter dem linken Arm hielt er eine Papierrolle, die er beim Reden mit der rechten Hand unterstützte und krampfhaft anfaßte, wie ein zorniger Krieger seinen Degenknopf packt. Es war, als hätte er sie entrollen und aus ihr heraus Blitze auf die schleudern wollen, die er mit seinen entrüsteten Blicken verfolgte. Es waren drei Kapuziner und ein Barfüßer, die sich durch die Menge drängten.

»Vater Guillaume«, fuhr Herr du Lude fort, »weshalb habt ihr nur den männlichen Teil Eurer Kinder mitgebracht, und wozu diese Stöcke?«

»Hm, mein Herr, meiner Treu, mir wäre nicht lieb, wenn unsere Mädchen tanzen lernten wie die Nonnen, und dann lassen sich auch in den jetzigen Zeitläuften die Jungens zu einem Aufruhr besser gebrauchen als das Weibsvolk.«

»Gebrauchen wir sie nicht zum Aufruhr, mein alter Freund, glaubt mir«, entgegnete der Graf; »stellt euch lieber alle der Reihe nach auf, um die heranziehende Prozession zu sehen, und erinnert Euch, daß Ihr ein Siebziger seid.«

»Ach, ach!« sagte der alte Vater, indem er seine zwölf Kinder wie Soldaten in Reih und Glied stehen ließ, »ich hatte mit dem hochseligen König Heinrich den Krieg durchgemacht, ich verstand so gut mein Pistol spielen zu lassen wie die Liguisten.« Und mit diesen Worten schüttelte er den Kopf, setzte sich auf einen Wehrstein, seinen Knotenstock zwischen den Beinen, seine Hände darüber gefaltet und sein Kinn mit dem weißen Barte auf die Hände gestützt. Dann schloß er halb die Augen, als überlasse er sich gänzlich seinen Jugenderinnerungen.

Sein gestreiftes Kleid aus der Zeit des Königs von Bearn und seine Ähnlichkeit mit diesem Fürsten in dessen letzter Lebenszeit, obwohl der Dolch die Haare desselben jener Weiße beraubte, welche diejenigen des Bauern in Frieden erhalten hatten, erregten Staunen. Ein starkes Geläute der Glocken lenkte jedoch die Aufmerksamkeit auf das äußerste Ende der Hauptstraße von Loudun.

Man sah von weitem eine lange Prozession herankommen, deren Fahnen und Kreuze über die Menge hervorragten, die schweigend eine Gasse bildete, um dieses halb lächerliche und halb düstere Gepränge anzugaffen.

Häscher mit spitzem Knebelbart und breiten Federhüten marschierten mit langen Hellebarden in einer Doppelreihe voraus, dann teilten sie sich zu jeder Seite der Straße in zwei Reihen, in welchen sie zwei ähnliche Reihen grauer Büßer einschlossen, wenigstens wollen wir diesen, in einigen Provinzen des mittäglichen Frankreichs bekannten Namen jenen Männern geben, die ein langes Kleid von grauer Farbe trugen, das in Form einer Kapuze ihren Kopf gänzlich verdeckte und dessen Maske von nämlichem Stoff gleich einem langen Barte unter dem Kinn spitz ausläuft und statt der Augen und Nase nur drei Löcher hat. In unseren Tagen sieht man noch hie und da, besonders in den Pyrenäen, Leichenzüge, die bei ihrer Begleitung durch ähnliche Kostüme beehrt werden. Die Büßer von Loudun hielten ungeheuere Wachskerzen in der Hand, und ihr langsamer Gang und ihre Augen, die unter der Maske hervorzuflammen schienen, verliehen ihnen ein gespenstisches Aussehen, das unwillkürlich mit Traurigkeit erfüllte.

Unter dem Volke begann ein Gemurmel von verschiedenartigem Sinne.

»Es ist mancher Spitzbube unter dieser Maske verborgen«, sagte ein Bürger.

»Und dessen Gesicht noch häßlicher ist als sie«, entgegnete ein junger Mann.

»Ich fürchte mich vor ihnen«, rief ein junges Weib.

»Ich fürchte nur für meinen Beutel«, antwortete ein Vorübergehender.

»Ach, Herr Jesus! Da ist ja unsere heilige Brüderschaft der Büßer«, sagte eine Alte, ihr schwarzes Mäntelchen vom Kopfe schiebend. »Seht nur, welch eine Fahne sie tragen. Welch ein Glück, daß die bei uns ist! Die wird uns gewiß retten; schaut nur den Teufel darauf, wie er in den Flammen sitzt und ein Mönch ihm eine Kette um den Hals bindet? Jetzt kommen die Richter, ach, die ehrenwerten Leute! Seht nur, wie schön ihre roten Röcke sind! Ach, heilige Jungfrau, wie gut hat man die gewählt!«

»Das sind die persönlichen Feinde des Pfarrers«, sagte der Graf du Lude ganz leise zum Advokat Fournier, der eine Notiz machte.

»Erkennt Ihr sie auch alle?« fuhr die Alte fort, indem sie ihren Nachbarinnen Rippenstöße austeilte und ihre Nachbarn bis aufs Blut in den Arm kniff, um deren Aufmerksamkeit zu stacheln; »jener dort, der so leise mit den Herren Räten beim Gerichtshof von Poitiers spricht, ist der gute Herr Mignon; Gott gieße seinen heiligen Segen tausendfach über sie alle aus!«

»Das ist Roatin, Richard und Chevalier, die ihn vor einem Jahre absetzen lassen wollten«, fuhr Herr du Lude halblaut gegen den Advokaten fort, der, von der schwarzgekleideten Gruppe der Bürger umringt und verborgen, fortwährend unter seinem Mantel schrieb.

»Ach, schaut nur, schaut; so stellt euch doch zurecht! Da ist ja Herr Barré, der Pfarrer von Saint-Jacques de Chinon«, rief die Alte.

»Er ist ein Heiliger«, sagte eine andere.

»Ein Heuchler ist er«, entgegnete eine Männerstimme.

»Seht nur, wie ihn das Fasten mager gemacht hat.«

»Wie die Gewissensbisse ihn blaß machen!«

»Durch seine Macht fliehen die Teufel.«

»Er jagt einem den Teufel in den Leib.«

Dieses Gespräch wurde durch den allgemeinen Ruf: »Wie schön sie ist!« unterbrochen.

Die Priorin der Ursulinerinnen näherte sich, von allen ihren Nonnen begleitet; ihr weißer Schleier war zurückgeschlagen. Es war dies hinsichtlich ihrer und sechs anderer Schwestern verordnet worden, damit das Volk die Züge der Besessenen sehen könne. Ihr Kostüm unterschied sich von dem der anderen Schwestern nur durch einen ungeheuren Rosenkranz von schwarzen Kugeln, der ihr vom Halse bis auf die Füße niederfiel und an dessen Ende ein goldenes Kreuz befestigt war; die blendende Weiße ihres Gesichts jedoch, welche durch die braune Farbe ihrer Kapuze noch gehoben wurde, zog anfangs alle Blicke auf sich; ihre schwarzen Augen schienen den Ausdruck einer tiefen und glühenden Leidenschaft in sich zu tragen; sie waren durch die herrlichen Bogen zweier Augenbrauen überwölbt, welche die Natur mit ebensoviel Sorgfalt gezeichnet hatte als die Zirkassierinnen darauf verwenden, dieselben mit dem Pinsel zu runden; eine leichte Falte zwischen beiden deutete jedoch auf eine gewöhnliche, starke Aufregung der Gedanken. Sie heuchelte indes eine große Ruhe in allen ihren Bewegungen und ihrem ganzen Wesen, ihre Schritte waren langsam und abgemessen, ihre beiden schönen Hände gefaltet und so weiß und so unbeweglich wie die der Marmorstatuen, die ewig über den Gräbern beten.

»O, meine Tante, bemerken Sie die Schwester Agnes und die Schwester Klara, die neben ihr beten?« sagte die junge Martine.

»Meine Nichte, sie sind untröstlich, die Beute des Teufels zu sein.«

»Oder bereuen«, sagte die vorige Männerstimme, »mit dem Himmel ihr Spiel getrieben zu haben.«

Inzwischen verbreitete sich überall eine tiefe Stille, und keine Bewegung ließ sich mehr bei dem Volke wahrnehmen; es schien plötzlich durch irgendeinen Zauber gleichsam versteinert, als hinter den Nonnen inmitten von vier Büßermönchen, die ihn gefesselt hielten, der Pfarrer der Kirche von Saint-Croix im Priestergewande erschien; der Adel seines Gesichts war bewunderungswürdig, und nichts kam der Milde seiner Züge gleich; ohne eine höhnische Ruhe zu heucheln, schaute er sich wohlwollend um und schien rechts und links nach dem teilnehmenden Blick eines Freundes zu suchen; er begegnete auch einem solchen; er erkannte ihn und es ward ihm dies letzte Glück eines Menschen, der seine letzte Stunde nahen sieht, nicht versagt; ja er hörte sogar einige Seufzer; er sah, wie Arme nach ihm ausgestreckt wurden, von denen einige nicht unbewaffnet waren, allein er beantwortete kein Zeichen, sondern senkte die Augen, um die, welche ihn liebten, nicht zugrunde zu richten und ihnen durch einen Blick die Ansteckung des Unglücks mitzuteilen. Es war Urbain Grandier.

Auf ein Zeichen des den Zug Beschließenden, der hier zu befehlen schien, hielt die Prozession plötzlich still. Es war ein großer, dürrer, blasser, mit einem langen schwarzen Gewande bekleideter Mann, dessen Kopf mit einem Priesterkäppchen von derselben Farbe bedeckt war; sein Gesicht war das eines Basilius mit dem Blicke Neros. Als er zu seinem Schrecken die mehrfach erwähnte, schwarzgekleidete Gruppe erblickte und bemerkte, daß die Bauern sich zu ihr hindrängten, um zu hören, was daselbst geredet wurde, gab er den Wachen ein Zeichen, daß sie sich um ihn scharen möchten; die Domherren und Kapuziner stellten sich ihm zur Seite, und nun sprach er mit kreischender Stimme folgendes merkwürdige Urteil:

»Wir, Herr von Laubardemont, Maître des Requêtes, in Sachen des Prozesses des Zauberers Urbain Grandier Abgeordneter und Bevollmächtigter, bekleidet mit unumschränkter Gewalt, um ihn hinsichtlich aller Anklagepunkte zu richten, haben in Gemeinschaft mit den ehrwürdigen Vätern Mignon, Kanonikus, Barré, Pfarrer von Saint-Jacques de Chinon, Pater Lactance und aller zur Beurteilung dieses Zauberers berufenen Richter vorläufig dekretiert, wie folgt:

Primo, die sogenannte Versammlung hier verbürgter adeliger Grundeigentümer der umliegenden Güter ist, als einen Volksaufstand bezweckend, aufgehoben; ihre Akten werden für null und nichtig erklärt und ihr beabsichtigter Brief an den König gegen uns, die Richter, ist aufgefangen und soll, weil Verleumdungen gegen die guten Ursulinerinnen und die ehrwürdigen Väter und Richter enthaltend, auf öffentlichem Platze verbrannt werden.

Sekundo ist es verboten, öffentlich oder insgeheim zu sagen, daß die oberwähnten Nonnen nicht vom bösen Geiste besessen seien und an der Macht der Teufelsbanner zu zweifeln bei Strafe von zwanzigtausend Franken und körperlicher Züchtigung.

Die Landvögte und Schöppen haben sich danach zu richten. So gegeben am 18. Juni des Jahres der Gnade 1639.«

Kaum hatte er diese Verordnung abgelesen, als noch vor der letzten Silbe seiner Worte ein ohrenzerreißendes Trompetengeschmetter erschallte und, wenn auch unvollkommen, das ihn begleitende Murren übertönte; er beschleunigte den Gang der Prozession, die mit schnellen Schritten in das an die Kirche stoßende Gebäude eintrat, welches, vormals ein Kloster, dessen Stockwerke jetzt alle eingestürzt waren, nur noch einen einzigen ungeheuren Saal bildete, der zu dem Gebrauche, den man davon machen wollte, ganz geeignet war. Laubardemont glaubte sich erst in Sicherheit, als er dort eingetreten war und die schweren Doppeltüren sich kreischend vor der nachheulenden Menge schließen hörte.



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