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Als sie mit dem Essen beinahe fertig waren, klopfte noch jemand an die Tür, und eine klägliche Stimme flehte um nächtliche Herberge. Alle verwunderten sich, der Köhler öffnete die Hütte, und Sternbald erstaunte, als er den Pilgrim hereintreten sah. Der Köhler war gegen den Wallfahrter sehr ehrerbietig, es wurde Speise herbeigeschafft, die Stube heller gemacht. Der Pilgrim erschrak, als er hörte, daß er der Stadt so nahe sei, er hatte sie schon seit zwei Tagen verlassen, sich auf eine unbegreifliche Art verirrt, und bei allen Zurechtweisungen immer den unrechten Weg ergriffen, so daß er jetzt kaum eine halbe Meile von dem Orte entfernt war, von dem er ausging.
Der Wirt erzählte noch allerhand, die junge Frau war geschäftig, der Hund war gegen Sternbald sehr zutunlich. Nach der Mahlzeit wurde für die Fremden eine Streu zubereitet, auf der sich der Wallfahrter und Bolz sogleich ausstreckten. Franz war gegen sein Erwarten munter. Der Köhler und seine Frau gingen nun auch zu Bette, der Hund ward nach seiner Behausung auf den kleinen Hof gebracht, Sternbald blieb bei den Schlafenden allein.
Der Mond sah durch das Fenster, in der Einsamkeit fiel des Bildhauers Gesicht dem Wachenden auf, es war eine Physiognomie, die Heftigkeit und Ungestüm ausdrückte. Franz begriff es nicht, wie er seinen anfänglichen Widerwillen gegen diesen Menschen so habe überwinden können, daß er jetzt mit ihm umgehe, daß er sich ihm sogar vertraue.
Bolz schien unruhig zu schlafen, er warf sich oft umher, ein Traum ängstigte ihn. Franz vergaß beinahe, wo er war, denn alles umher erhielt eine sonderbare Bedeutung. Seine Phantasie ward erhitzt, und es währte nicht lange, so glaubte er sich unter Räubern zu befinden, die es auf sein Leben angesehn hätten, jedes Wort des Kohlenbrenners, dessen er sich nur erinnerte, war ihm verdächtig, er erwartete es ängstlich, wie er mit seinen Spießgesellen wieder aus der Tür herauskommen würde, um sie im Schlafe umzubringen und zu plündern. Über diese Betrachtungen schlief er ein, aber ein fürchterlicher Traum ängstigte ihn noch mehr, er sah die entsetzlichsten Gestalten, die seltsamsten Wunder, er erwachte unter drückenden Beklemmungen.
Am Himmel sammelten sich Wolken, auf die die Strahlen des Mondes fielen, die Bäume vor der Hütte bewegten sich. Um sich zu zerstreuen, schrieb er folgendes in seiner Schreibtafel nieder:
Die Phantasie
Wer ist dort der alte Mann, In einer Ecke festgebunden, Daß er sich nicht rührt und regt? Vernunft hält über ihn Wache, Sieht und erkundet jede Miene. Der Alte ist verdrüßlich, Um ihn in tausend Falten Ein weiter Mantel geschlagen. Es ist der launige Phantasus, Der alte Mann schweigt und runzelt die Stirn, |
Der Morgen brach indessen an, die übrigen im Hause wurden munter, und Franz las dem Bildhauer seine Verse vor, der darüber lachte und sagte: »Auch dies Gedicht, mein Freund, rührt vom Phantasus her, man sieht es ihm wohl an, daß es in der Nacht geschrieben ist; dieser Mann hat, wie es scheint, Spott und Ernst gleich lieb.«
Das dunkle Gemach wurde erhellt, der Köhler trat mit seiner Frau herein. Franz lächelte über seine nächtliche Einbildung, er sah nun die Tür, die er immer gefürchtet hatte, deutlich vor sich stehn, nichts Furchtbares war an ihr sichtbar. Die Gesellschaft frühstückte, wobei der muntere Köhler noch allerhand erzählte. Er sagte, daß in einigen Tagen eine Nonne im benachbarten Kloster ihr Gelübde ablegen würde, und daß sich dann zu dieser Feierlichkeit alle Leute aus der umliegenden Gegend versammelten. Er beschrieb die Zeremonien, die dabei vorfielen, er freute sich auf das Fest, Sternbald schied von ihm und dem Pilgrim, und ging mit dem Bildhauer zur Stadt zurück.
Sternbald ließ sich im Kloster melden, er ward der Äbtissin vorgestellt, er betrachtete das alte Gemälde, das er auffrischen sollte. Es war die Geschichte der heiligen Genoveva, wie sie mit ihrem Sohne unter einsamen Felsen in der Wildnis sitzt, und von freundlichen, liebkosenden Tieren umgeben ist. Das Bild schien alt, er konnte nicht das Zeichen eines ihm bekannten Künstlers entdecken. Denksprüche gingen aus dem Munde der Heiligen, ihres Sohnes und der Tiere, die Komposition war einfach und ohne Künstlichkeit, das Gemälde sollte nichts als den Gegenstand auf die einfältigste Weise ausdrücken. Sternbald war willens, die Buchstaben zu verlöschen und den Ausdruck der Figur zu erhöhen, aber die Äbtissin sagte: »Nein, Herr Maler, Ihr müßt das Bild im ganzen so lassen, wie es ist, und um alles ja die Worte stehenlassen. Ich mag es durchaus nicht, wenn ein Gemälde zu zierlich ist.«
Franz machte ihr deutlich, wie diese weißen Zettel alle Täuschung aufhöben und unnatürlich wären, ja wie sie gewissermaßen das ganze Gemälde vernichteten, aber die Äbtissin antwortete: »Dies alles ist mir sehr gleich, aber eine geistliche, bewegliche Historie muß durchaus nicht auf eine ganz weltliche Art ausgedrückt werden, Reiz, und was ihr Maler Schönheit nennt, gehört gar nicht in ein Bild, das zur Erbauung dienen und heilige Gedanken erwecken soll. Mir ist hier das Steife, Altfränkische viel erwünschter, dies schon trägt zu einer gewissen Erhebung bei. Die Worte sind aber eigentlich die Erklärung des Gemäldes, und diese gottseligen Betrachtungen könnt Ihr nimmermehr durch den Ausdruck der Mienen ersetzen. An der sogenannten Wahrheit und Täuschung liegt mir sehr wenig: wenn ich mich einmal davon überzeugen kann, daß ich hier in der Kirche diese Wildnis mit Tieren und Felsen antreffe, so ist es mir ein kleines, auch anzunehmen, daß diese Tiere sprechen, und daß ihre Worte hingeschrieben sind, wie sie selbst nur gemalt sind. Es entsteht dadurch etwas Geheimnisvolles, wovon ich nicht gut sagen kann, worin es liegt. Die übertriebenen Mienen und Gebärden aber sind mir zuwider. Wenn die Maler immer bei dieser alten Methode bleiben, so werden sie sich auch stets in den Schranken der guten Sitten halten, denn dieser Ausdruck mit Worten führt gleichsam eine Aufsicht über ihr Werk. Ein Gemälde ist und bleibt eine gutgemeinte Spielerei, und darum muß man sie auch niemals zu ernsthaft treiben.«
Franz ging betrübt hinweg, er wollte am folgenden Morgen anfangen. Das Gerüst wurde eingerichtet, die Farben waren zubereitet; als er in der Kirche oben allein stand, und in die trüben Gitter hineinsah, fühlte er sich unbeschreiblich einsam, er lächelte über sich selber, daß er den Pinsel in der Hand führe. Er fühlte, daß er nur als Handwerker gedungen sei, etwas zu machen, wobei ihm seine Kunstliebe, ja sein Talent völlig überflüssig war. »Was ist bis jetzt von mir geschehen?« sagte er zu sich selber, »in Antwerpen habe ich einige Konterfeie ohne sonderliche Liebe gemacht, die Gräfin und Roderigo nachher gemalt, weil sie in ihn verliebt war, und nun stehe ich hier, um Denksprüche, schlecht geworfene Gewänder, Hirsche und Wölfe neu anzustreichen.«
Indem hatten sich die Nonnen zur Hora versammelt, und ihr feiner, wohlklingender Gesang schwung sich wundersam hinüber, die erloschene Genoveva schien darnach hinzuhören, die gemalten Kirchenfenster ertönten. Eine neue Lust erwachte in Franz, er nahm Palette und Pinsel mit frischem Mut und färbte Genovevens dunkles Gewand. »Warum sollte ein Maler«, sagte er zu sich, »nicht allenthalben, auch am unwürdigen Orte, Spuren seines Daseins lassen? Er kann allenthalben ein Monument seiner schönen Existenz schaffen, vielleicht daß doch ein seltener zarter Geist ergriffen und gerührt wird, ihm dankt, und aus den Trübseligkeiten sich eine schöne Stunde hervorsucht.« Er nahm sich nämlich vor, in dem Gesichte der Genoveva das Bildnis seiner teuren Unbekannten abzuschildern, so viel es ihm möglich war. Die Figuren wurden ihm durch diesen Gedanken teurer, die Arbeit lieber.
Er suchte in seiner Wohnung das Bildnis hervor, das ihm der alte Maler gegeben hatte, er sah es an, und Emma stand unwillkürlich vor seinen Augen. Sein Gemüt war wunderbar beängstigt, er wußte nicht, wofür er sich entscheiden solle. Dieser Liebreiz, diese Heiterkeit seiner Phantasie bei Emmas Angedenken, die lüsternen Bilder und Erinnerungen, die sich ihm offenbarten, und dann das Zauberlicht, das ihm aus dem Bildnisse des teuren Angesichts aus herrlicher Ferne entgegenleuchtete, die Gesänge von Engeln, die ihn dorthin riefen, die schuldlose Kindheit, die wehmütige Sehnsucht, das Goldenste, Fernste und Schönste, was er erwünschen und erlangen konnte, daneben Sebastians Freude und Erstaunen, dazwischen das Grab.
Die Verworrenheit aller dieser Vorstellungen bemächtigte sich seiner so sehr, daß er zu weinen anfing, und keinen Gedanken erhaschte, der ihn trösten konnte. Ihm war, als wenn seine innerste Seele in den brennenden Tränen sich aus seinen Augen hinausweinte, als wenn er nachher nichts wünschen und hoffen dürfte, und nur ungewisse, irrende Reue ihn verfolgen könne. Seine Kunst, sein Streben, ein edler Künstler zu werden, sein Wirken und Werden auf der Erde erschien ihm als etwas Armseliges, Kaltes und jämmerlich Dürftiges. In Dämmerung gingen die Gestalten der großen Meister an ihm vorüber, er mochte nach keinem mehr die Arme ausstrecken; alles war schon vorüber und geendigt, wovon er noch erst den Anfang erwartete.
Er schweifte durch die Stadt, und die bunten Häuser, die Brücken, die Kirchen mit ihrer künstlichen Steinarbeit, nichts reizte ihn, es genau zu betrachten, es sich einzuprägen, wie er sonst so gern tat, in jedem Werke schaute ihn Vergänglichkeit und zweckloses Spiel mit trüben Augen, mit spöttischer Miene an. Die Mühseligkeit des Handwerkers, die Emsigkeit des Kaufmanns, das trostlose Leben des Bettlers daneben schien ihm nun nicht mehr, wie immer, durch große Klüfte getrennt: sie waren Figuren und Verzierungen von einem großen Gemälde, Wald, Bergstrom, Gebirge, Sonnenaufgang waren Anhang zur trüben, dunkeln Historie, die Dichtkunst, die Musik machten die Worte und Denksprüche, die mit ungeschickter Hand hineingeschrieben wurden. »Jetzt weiß ich«, rief er im Unmute aus, »wie dir zumute ist, mein vielgeliebter Sebastian, erst jetzt lese ich aus mir selber deinen Brief, erst jetzt entsetze ich mich darüber, daß du recht hast. So kann keiner dem andern sagen und sprechen, was er denkt; wenn wir selbst wie tote Instrumente, die sich nicht beherrschen können, so angeschlagen werden, daß wir dieselben Töne angeben, dann glauben wir den andern zu vernehmen.«