Ludwig Tieck
Franz Sternbalds Wanderungen
Ludwig Tieck

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Achtes Kapitel

Franz hatte seinem Sebastian diese Begebenheiten geschrieben, die ihm so merkwürdig waren; es war nun die Zeit verflossen, die er seinem Aufenthalte in seinem Geburtsorte gewidmet hatte, und er besuchte nur noch einmal die Plätze, die ihm in seiner Kindheit so bekannt geworden waren: dann nahm er Abschied von seiner Mutter.

Er war wieder auf dem Wege, und nach einiger Zeit schrieb er seinem Freunde noch einen zweiten Brief:

 

Liebster Bruder!

Manchmal frage ich mich selbst mit der größten Ungewißheit, was aus mir werden soll. Bin ich nicht plötzlich ohne mein Zutun in ein recht seltsames Labyrinth verwickelt? Meine Eltern sind mir genommen und ich weiß nicht, wem ich angehöre, meine Freunde habe ich verlassen, jenen glänzenden Engel habe ich nur wie ein vorbeifliegendes Schimmerbild wahrgenommen. Warum treten mir diese Verwickelungen in den Weg, und warum darf ich nicht wie die übrigen Menschen einen ganz einfachen Lebenswandel fortsetzen? –

Ich glaube manchmal, und schäme mich dieses Gedankens, daß mir meine Kunst zu meinem Glücke nicht genügen dürfte, auch wenn ich endlich weiter und auf eine höhere Stufe gekommen sein sollte. Ich sage nur Dir dieses im Vertrauen, mein liebster Sebastian, denn jeder andere würde mir antworten: »Nun, warum legst Du nicht Palette und Pinsel weg, und suchst durch gewöhnliche Tätigkeit den Menschen nützlich zu werden und dein Brot zu erwerben?« Es kann sein, daß ich besser täte, aber alle dergleichen Gedanken fallen mir jetzt sehr zur Last. Es ist etwas Trübseliges darin, daß das ganze große menschliche Leben mit allen seinen unendlich scheinenden Verwickelungen durch den allerarmseligsten Mechanismus umgetrieben wird; die kümmerliche Sorge für morgen setzt sie alle in Bewegung, und die meisten dünken sich noch was Rechts, wenn sie dieser Beweggrund in recht heftige Tätigkeit ängstigt.

Ich weiß nicht, wie Du diese Äußerungen ansehen wirst, ich fühle es selbst, wie notwendig der Fleiß dem Menschen ist, ebenso, wie man ihn mit Recht edel nennen kann. Aber wenn alle Menschen Künstler wären, oder Kunst verständen, wenn sie das reine Gemüt nicht beflecken und im Gewühl des Lebens zerquälen dürften, so wären doch gewiß alle um vieles glücklicher. Dann hätten sie die Freiheit und die Ruhe, die wahrhaftig die größte Seligkeit sind. Wie beglückt müßte sich dann der Künstler fühlen, der die reinsten Empfindungen dieser Wesen darzustellen unternähme! Dann würde es erst möglich sein, das Erhabene zu wagen, dann würde jener falsche Enthusiasmus, der sich an Kleinigkeiten und Spielwerk schließt, erst eine Bahn finden, auf der er eine herrliche Erscheinung wandeln dürfte. Aber alle Menschen sind so gemartert, so von Mühseligkeiten, Neid, Eigennutz, Planen, Sorgen verfolgt, daß sie gar nicht das Herz haben, die Kunst und Poesie, den Himmel und die Natur als etwas Göttliches anzusehen. In ihre Brust kömmt selbst die Andacht nur mit Erdensorgen vermischt, und indem sie glauben klüger und besser zu werden, vertauschen sie nur eine Jämmerlichkeit mit der andern.

Du siehst, ich führe noch immer meine alten Klagen, und ich habe vielleicht sehr unrecht. Ich sehe wohl alles anders an, wenn ich älter werde, aber ich wünsche es nicht. Ach Sebastian, ich habe manchmal eine unaussprechliche Furcht vor mir selber; ich empfinde meine Beschränktheit, und doch kann ich es nicht wünschen, diese Gefühle zu verlieren, die so mit meiner Seele verwebt scheinen, daß sie vielleicht mein eigentliches Selbst ausmachen. Wenn ich daran denke, daß ich mich ändern könnte, so ist mir ebenso als wenn Du sterben solltest. –

Wenn ich nur wenigstens mehr Stolz und Festigkeit hätte! Denn ich muß doch vorwärts, und kann nicht immer ein weichherziges Kind bleiben, wenn ich auch wollte. Ich glaube fast, daß der Geist am leichtesten untersinkt und verlorengeht, der sich zu blöde und bescheiden betrachtet: man muß mit kaltem Vertrauen zum Altar der Göttin treten, und dreist eine von ihren Gaben fordern, sonst drängt sich der Unwürdige vor, und trägt über den Besseren den Sieg davon. Ich möchte manchmal darüber lachen, daß ich alles in der Welt so ernsthaft betrachte, daß ich so viel sinne, wenn es doch nicht anders sein kann, und mit Schwingen der Seele das zu ereilen trachte, wonach andere nur die Hand ausstrecken. Denn wohin führt mich meine Liebe, meine Verehrung der Künstler und ihrer Werke? Viele große Meister haben sich gewiß recht kaltblütig vor die Staffelei gesetzt, so wie auch gewöhnlich unser Albrecht arbeitet, und dann dem Werke seinen Lauf gelassen, überzeugt, daß es so werden müsse, wie es ihnen gut dünkt.

Meine Wanderung bringt oft sonderbare Stimmungen in mir hervor. Jetzt bin ich in einem Dorfe und sehe den Nebel auf den fernen Bergen liegen, matte Schimmer bewegen sich im Dunste und Wald und Berg tritt aus dem Schleier oft plötzlich hervor. Ich sehe Wanderer zu Fuß und zu Pferde ihre Straße forteilen, und ferne Türme und Städte sind das Ziel, wonach sie in mannigfaltiger Richtung streben. Ich befinde mich mit unter diesem Haufen, und die übrigen wissen nichts von mir, sie gehn mir vorüber und ich kenne sie nicht, jeder unsichtbare Geist wird von einem andern Interesse beherrscht, und jeder beneidet und bemitleidet auf Geratewohl den andern. Ich denke mir alle die mannigfaltigen Wege, durch Wälder, über Berge, an Strömen vorüber: wie jeder Reisende sich umsieht und in des andern Heimat sich in der Fremde fühlt, wie jeder umherschaut und nach dem Bruder seiner Seele sucht, und so wenige ihn finden, und immer wieder durch Wälder und Städte, bergüber, an Strömen vorbei, weiterreisen, und ihn immer nicht finden. Viele suchen schon gar nicht mehr, und diese sind die Unglücklichsten, denn sie haben die Kunst zu leben verlernt, da das Leben nur darin besteht, immer wieder zu hoffen, immer zu suchen; der Augenblick, wenn wir dies aufgeben, sollte der Augenblick unsers Todes sein. So ist es auch vielleicht, und jene wahrhaft Elenden müssen dann an der Zeit hinsterben, und wissen und empfinden nicht, woran sie das Leben verlieren.

Ich will daher immer suchen und erwarten, ich will meine Entzückung und Verehrung der Herrlichkeit in meinem Busen aufbewahren, weil dieser schöne Wahnsinn das schönste Leben ist. Der Vernünftige wird mich immer als einen Berauschten betrachten, und mancher wird mir vielleicht furchtsam oder auch verachtend aus dem Wege gehen. – Welche Gegend ihr Blick wohl jetzt durchwandert! Ich schaue nach Osten und Westen, um sie zu entdecken, und ängstige mich ab, daß sie vielleicht in meiner Nähe ist, ohne daß ich es erfahren kann. Nur einmal sehn, nur einmal sprechen möcht ich sie noch, ich kann mein Verlangen darnach nicht mit Worten ausdrücken, und doch wüßt ich nicht was ich ihr sagen sollte, wenn ich sie plötzlich wiederfände. Ich kann es nicht sagen, was meine Empfindung ist, und ich weiß nicht, ob Du nicht Deinen Freund belächelst. Aber Du bist zu gut, um über mich zu spotten; auch bin ich zu ehrlich gegen Dich.

Wenn ich an die reizenden Züge denke, an diese heilige Unschuld ihrer Augen, diese zarten Wangen – wenigstens möcht ich ein Gemälde, ein treues, einfaches der jetzigen Gestalt besitzen. Tod und Trennung sind es nicht allein, die wir zu bejammern haben; sollte man nicht jeden dieser süßen Züge, jede dieser sanften Linien beweinen, die die Zeit nach und nach vertilgt? Der ungeschickte Künstler, der durch beständiges Nachmalen sein Bild verdirbt, das er erst so schön ausgearbeitet hatte. Ich sehe sie vielleicht nach vielen, vielen Jahren wieder, vielleicht auch nie. Es gibt ein Lied eines alten Sängers, ich schreibe Dir es auf:

Wohlauf und geh in den vielgrünen Wald,
    Da steht der rote frische Morgen,
    Entlade dich der bangen Sorgen,
Und sing ein Lied, das fröhlich durch die Zweige schallt!
    Es blitzt und funkelt Sonnenschein
    Wohl in das grüne Gebüsch hinein,
    Und munter zwitschern die Vögelein. –

- Ach nein! ich gehe nimmer zum vielgrünen Wald,
    Das Lied der süßen Nachtigall schallt,
                    Und Tränen,
                    Und Sehnen
    Bewegen die bange, die strebende Brust,
    Im Walde, im Walde wohnt mir keine Lust,
                    Denn Sonnenschein,
                    Und hüpfende Vögelein,
                    Sind mir Marter und Pein!

Einst fand ich den Frühling im grünenden Tal,
    Da blühten und dufteten Rosen zumal,
                    Durch Waldesgrüne
                    Erschiene
        Im Eichenforst wild
        Ein süßes Gebild:
                    Da blitzte Sonnenschein,
                    Es sangen Vögelein
                    Und riefen die Geliebte mein.

Sie ging mit Frühling Hand in Hand,
    Die Weste küßten ihr Gewand,
                    Zu Füßen
                    Die süßen
    Viol und Primeln hingekniet
    Indem sie still vorüberzieht,
                    Da gingen ihr die Töne nach,
                    Da wurden alle Stimmen wach,
                    Da girrte Nachtigall noch zärtlicher ihr Ach!

Mich traf ihr wundersüßer Blick:
    Woher? Wohin du goldnes Glück?
                    Die Schöne,
                    Die Töne,
    Die rauschenden Bäume,
    Wie goldene Träume!
                    Ist dies noch der Eichengrund?
                    Grüßt mich dieser rote Mund?
                    Bin ich tot, bin ich gesund?

Da schwanden mir die alten Sorgen,
    Und neue kehrten bei mir ein,
    Ich traf die Maid an jedem Morgen
    Und schöner grünte stets der Hain:
                    Lieb', wie süße
                    Deine Küsse!
    Glänzend schönste Zier,
    Wohne stets bei mir,
    Im vielgrünen Walde hier! –

Ich ging hinaus im Morgenlicht,
    Da kam die süße Liebe nicht;
        Vom Baume hernieder
        Schrie Rabe seine heisern Lieder:
    Da weint und klagt ich laut,
    Doch nimmer kam die Braut –
                    Und Morgenschein,
                    Und Vögelein
                    Nur Angst und Pein!

Ich suchte sie auf und ab, über Berge, tälerwärts,
    Ich sah manche fremde Ströme fließen,
    Aber ach! mein liebend banges Herz
    Nimmer fand's die Gegenwart der Süßen:
        Einsam blieb der Wald,
        Da kam der Winter kalt;
                    Vöglein,
                    Sonnenschein
                    Flohen aus dem Walde mein. –

Ach! schon viele Sommer stiegen nieder,
    Oftmals kam der Zug der Vögel wieder,
    Oft hat sich der Wald in Grün gekleidt,
    Niemals kam zurück die süße Maid.
                    Zeit! Zeit!
        Warum trägst du so grausamen Neid?

Ach! sie kommt vielleicht auf fremden Wegen
    Ungekannter Weis mir bald entgegen,
    Aber Jugend ist von mir gewichen,
    Ihre schönen Wangen sind erblichen,
    Kömmt sie auch hinab zum Eichengrund
    Kenn ich sie nicht mehr am roten Mund:
                    O Leide!
        Fremd sind wir uns beide!
        Keiner kennt den andern
        Im Wandern!

Wer Jüngling ist der wandle munter
    Den Wald hinunter,
    Wohl mag's, daß ihm Treulieb entgegenziehet,
                    Dann blühet
    Aus allen Knospen Frühling auf ihn ein: –
    Doch niemals treff ich die verlorne Jugend mein,
                    Drum ist mir Sonnenschein,
                    Die Nachtigall im Hain
                    Nur Qual und Pein!

Ach! Vielleicht ist für mich auch einst der vielgrüne Wald so abgestorben!

Oft möcht ich alles in Gedichten niederschreiben, und ich fühle es jetzt, wie die Dichter entstanden sind. Du vermagst das Wesen, was Dein innerstes Herz bewegt nicht anders auszusprechen.

Ich habe endlich einen neuen Kupferstich von unserm Albert gesehn, den er seit meiner Abwesenheit gemacht hat. Du wirst ihn kennen, es ist der lesende Einsiedler. Wie ich da wieder unter euch war! Denn ich kannte die Stube, den Tisch und die runden Scheiben gleich wieder, die Dürer auf diesem Bilde von seiner eignen Wohnung abgeschrieben hat. Wie oft habe ich die runden Scheiben betrachtet, die der Sonnenschein an der Täfelung oder an der Decke zeichnete; der teure Hieronymus sitzt an Dürers Tisch. Es ist schön, daß unser Meister in seiner frommen Vorliebe für das, was ihn so nahe umgibt, der Nachwelt ein Konterfei von seinem Zimmer gegeben hat, wo alles so bedeutend ist, und jeder Zug Andacht und Einsamkeit ausdrückt.

Ich gehe auf meinem Wege oft in die kleinen Kapellen hinein, und verweile mich dabei, die Gemälde und Zeichnungen zu betrachten. Ob es meine Unerfahrenheit, oder meine Vorliebe für das Altertum macht, ich sehe selten ein ganz schlechtes Bild; ehe ich die Fehler entdecke, sehe ich immer die Vorzüge an jedem. Ich habe gemeiniglich bei jungen Künstlern die entgegengesetzte Gemütsart gefunden, und sie wissen sich immer recht viel mit ihrem Tadel. Ich habe oft eine fromme Ehrfurcht vor unsern treuherzigen Vorfahren, die zuweilen recht schöne und erhabene Gedanken mit so wenigen Umständen ausgedrückt haben.

Ich will meinen Brief schließen. Möge der Himmel Dich und meinen teuern Albert gesund erhalten! Dieser Brief dürfte seinem ernsten Sinne schwerlich gefallen. Laß mich bald Nachrichten von Dir und von allen Bekannten hören.

In die Ferne geht die Liebe
    Ungekannt durch Nacht und Schatten;
Ach! wozu daß ich hier bliebe
    Auf den vaterländschen Matten?

Wie mit süßen Flötenstimmen
    Rufen alle goldnen Sterne:
»Weit muß manche Woge schwimmen,
    Deine Lieb ist in der Ferne,

Jenes Bild vor dem du knietest,
    Dich ihm ganz zu eigen gabst,
Ihm mit allen Sinnen glühtest,
    An dem Schatten dich erlabst –

Was dein Geist als Zukunft dachte,
    Dein Entzücken Kunst genannt,
Was als Morgenrot dir lachte,
    Oft sich wieder abgewandt,

Sie nur ist es! Dein Verzagen
    Hat sie fort von dir gescheucht,
Willst du es nur männlich wagen,
    Wird das Ziel noch einst erreicht,

Alle Ketten sind gesprungen
    Und befreit ist dann dein Geist,
Jeder Knechtschaft kühn entschwungen
    Fühlst du dich nicht mehr verwaist,

Rückwärts flieht das zage Bangen,
    Muse reicht dir dann die Hand,
Und führt sicher dein Verlangen
    In der Götter Himmelsland!« – –

Ja, wer darf mit Kunst und Liebe
    Von den Sterblichen sich messen?
In dem schönvermählten Triebe
    Wird der Himmel selbst besessen!

Diese ungeschickten Zeilen habe ich gestern in einem angenehmen Walde gedichtet; meine ganze Seele war darauf hingewandt, und ich bin nicht errötet, sie Dir, Sebastian, niederzuschreiben: denn warum sollte ich Dir einen Gedanken meiner Seele verheimlichen? – Lebe wohl. –


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