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Unterdessen war die Droschke nur eine ganz kurze Strecke gefahren, bis zum Eingang in den Bellevuegarten. – Es ist absolut sicher hier, ich schwöre es dir, hatte Ottomar geflüstert, als er Ferdinande beim Aussteigen half. Der Kutscher steckte seinen Taler zufrieden in die Tasche und fuhr sofort weiter; Ottomar nahm Ferdinandes Arm und führte die Verwirrte, Geängstigte, halb Betäubte in den Garten hinein; er hörte deutlich ihr tiefes Atmen: ich schwöre es dir! wiederholte er.
Schwöre, daß du mich liebst! ich verlange nur das!
Er legte statt der Antwort den Arm um sie, sie umschlang ihn mit beiden Armen; ihre Lippen zitterten aufeinander in einem langen, glühenden Kusse. Dann eilten sie, sich an den Händen haltend, tiefer in den Park, bis Busch und Bäume sie rings umdunkelten, und sanken sich wieder in die Arme, glühende Küsse tauschend und Liebesschwüre stammelnd – trunken von einer Seligkeit, die sie so lange, so lange geträumt hatten, und die nun doch köstlicher war, als alles köstlichste Träumen.
So wenigstens empfand Ferdinande, und so sagte sie, während ihre Lippen immer wieder seine Lippen suchten; und so sagte Ottomar, und doch, in demselben Moment, wo er ihre glühenden Küsse erwiderte, war seinem Herzen ein Gefühl, das er nie zuvor gekannt: ein Grauen vor der Glut, die ihn umloderte, eine Empfindung, wie der Ohnmacht, gegenüber einer Leidenschaft, die mit der Allgewalt eines Sturmes ihn umrauschte und erdrückte. Er hatte bis jetzt mit den Frauen gespielt, seine leichten Eroberungen für Triumphe gehalten, die stummen Huldigungen schöner Augen, die schmeichelhaften Worte von holden Lippen entgegengenommen als einen Tribut, den man ihm schuldig war und den er ohne Dank einstrich – hier – zum ersten Male – war er der Schwächere. Er mochte es sich nicht eingestehen und wußte es doch, wie ein geübter Ringer nach den ersten Griffen weiß, daß er seinen Meister gefunden und daß er unterliegen wird, wenn ihm der Zufall nicht hilft. Ja, Ottomar spähte bereits nach diesem Zufall aus – irgend einem Ereignis, das dazwischen treten, irgend einem Umstände, der sich auf seine Seite stellen würde; und dann errötete er vor sich selbst über diese Feigheit, diese schnödeste Undankbarkeit an dem schönen köstlichen Geschöpf, das sich so vertrauensvoll, so hingebend, so selbstvergessen in seine Arme warf; und er verdoppelte die Zärtlichkeit seiner Liebkosungen und die süße Schmeichelei seiner Liebesworte.
Und dann – jenes bange Gefühl mochte ja eine Täuschung sein; aber sie, die getan, um was er sie so oft, so flehentlich gebeten: ihm endlich die Zusammenkunst bewilligt hatte, in der er ihr seine Pläne für die Zukunft darlegen wollte – sie durfte, sie mußte erwarten, daß er jetzt endlich das Bild jener Zukunft entwarf, über dem er so lange schon gegrübelt haben wollte und das ihm in diesem Augenblick noch so unklar war, wie je. Er glaubte nicht, was sie versicherte, daß sie nichts wolle, als ihn lieben, von ihm geliebt sein, daß alles, wovon er spreche: von seinem Vater, von ihrem Vater – Verhältnissen, die beachtet, Schwierigkeiten, die überwunden werden müßten – alles, alles ja nur Nebel sei, der vor den Strahlen der Sonne verschwinde; Kleinigkeiten, nicht der Rede wert, daß sie auch nur einen Moment der kostbarsten Zeit, nur einen Atemzug davon verlören! Er glaubte es nicht; aber er nahm sie nur zu gern beim Wort, bereits jetzt sich im stillen von der Verantwortung der Folgen frei sprechend, die eine solche Vernachlässigung der einfachsten Gebote der Vorsicht und Klugheit haben könnte, haben mußte.
Und dann vergaß er doch selbst wieder das Zunächstliegende und mußte sich von ihr daran erinnern lassen, daß seine Zeit um sei, daß man ihn zu Hause erwarte, daß er nicht zu spät zu der Gesellschaft kommen dürfe.
Oder willst du mich mitnehmen? sagte sie; – willst du mit mir, Arm in Arm, in den Saal treten und mich der Gesellschaft als deine Braut vorstellen? Du sollst dich meiner nicht zu schämen haben; es dürften nicht viele deiner Damen sein, auf die ich nicht herabsehen kann, und ich habe immer gefunden: auf andere herabsehen können, ist schon die halbe Vornehmheit. Zu dir werde ich immer hinaufsehen müssen; groß, wie ich bin, ich muß mich doch zu dir und deinen geliebten Lippen erheben.
Es lag eine wundervolle, stolze Anmut in diesem Scherz, und innigste Liebe in dem Kuß, den ihre lächelnden Lippen auf seine Lippen hauchten: er war entzückt, berauscht von dieser liebevollen Anmut, dieser stolzen Liebe; er sagte sich, daß sie recht habe, er sagte es ihr; und daß sie sich neben jede Königin der Welt stellen dürfe, daß sie verdiene, eine Königin zu sein – und doch und doch! wenn es kein Scherz gewesen wäre! wenn sie im Ernste verlangt hätte, was – sie ja doch einmal verlangen würde!
Das war der letzte Kuß, sagte Ferdinande; – ich muß die Verständigere sein, weil ich es bin. Und nun gib mir deinen Arm und begleite mich bis zur nächsten Droschke; und dann gehst du direkt nach Haus und bist heute abend sehr schön und liebenswürdig und brichst noch ein paar Herzen zu denen, die du schon gebrochen und die du mir hernach zu Füßen legst zum Dank für mein Herz, das größer ist, als sie alle zusammen.
Es war beinahe Nacht, als sie den stillen, verschwiegenen Park verließen, der Himmel hatte sich ganz mit Wolken bedeckt, aus denen schwere Tropfen zu fallen begannen. Glücklicherweise kam eine leere Droschke vorüber, in der Ferdinande bis zum Brandenburger Tor fahren konnte, um dort eine andere zu nehmen und so jede Spur des Weges, den sie gemacht, zu verwischen. Ottomar durfte, als er sie in den Wagen hob, ihr noch einmal die Hand küssen. Dann lehnte sie sich in die Ecke, schloß die Augen und träumte die selige Stunde noch einmal; Ottomar blickte dem Wagen nach. Es war ein elender Gaul und ein elender Wagen; und als das Fuhrwerk jetzt in dem spärlichen Licht der wenigen Laternen in das Dunkel hineinschwankte, überkam ihn ein sonderbares Gefühl des Grauens und des Ekels: es sieht wie ein Leichenwagen aus, sagte er bei sich; – ich mochte den nassen Griff kaum anfassen; ich hätte es mir nicht zumuten mögen, in der Karrete zu fahren – die Geschichte bringt einen doch in sonderbar unbequeme Lagen. Der Weg nach Hause ist auch kein Spaß – es ist beinahe neun Uhr – und dabei fängt es jetzt recht hübsch an zu regnen.
Er bog in die Große-Stern-Allee; es war der kürzeste Weg nach Hause. Unter den gewaltigen Stämmen dunkelte es bereits so stark, daß er nur eben den harten Promenadenweg, auf dem er eilends dahinschritt, deutlicher unterschied; auf der andern Seite des breiten Reitweges, an dem ein schmaler Fußpfad hinlief, hoben sich die Stämme der Bäume kaum noch von dem Waldesdunkel ab. Wie unzählige Male war er diese prächtige Allee hinauf- und hinabgeritten – allein, mit Kameraden, in der glänzenden Gesellschaft von Herren und Damen – wie oft mit Carla! Else hatte recht: Carla war eine ausgezeichnete Reiterin – die beste vielleicht von allen Damen, die eleganteste sicher. Man hatte sie beide so oft zusammen gesehen und zusammen genannt – es war im Grunde ganz unmöglich, jetzt noch zu brechen; es gab einen furchtbaren Eklat.
Ottomar stand still. Er war zu schnell gegangen; der Schweiß rieselte ihm von der Stirn; es war ihm so beklommen um die Brust, daß er sich Rock und Weste aufriß. Er hatte niemals die Empfindung physischer Furcht gekannt, und jetzt schrak er zusammen, und seine Augen bohrten sich ängstlich in das Dunkel, als hinter ihm ein leises Geräusch ertönte – vermutlich ein Zweig, der im Falle zerbrach. – Mir ist, als hätte ich einen Mord auf der Seele, oder als sollte ich selbst im nächsten Augenblicke ermordet werden, sprach er bei sich, als er, laufend fast, seinen Weg fortsetzte.
Er ahnte nicht, daß er dem Knacken des Zweiges sein Leben verdankte.
Antonio hatte, wie von einem Zauber gebannt, noch immer am Eingange der Allee gelauert, bald auf den Eisengittern sitzend, die dort den Fußpfad für Reiter unpassierbar machen, bald hin und her gehend, bald an einen Baumstamm lehnend, immer in denselben schwarzen Gedanken wühlend, Rachepläne schmiedend, sich in der Phantasie an den Qualen ergötzend, die er ihr, die er ihm zufügen wollte, sobald er sie in seiner Macht hätte; von Zeit zu Zeit seinen Blick über den Platz weg nach dem Eingang der andern Allee richtend, wo die Droschke mit den beiden verschwunden war, als müßten sie auch dort wieder zum Vorschein kommen, als habe seine racheerfüllte Seele die Kraft, sie von dort herbei zu zwingen. Er hätte die ganze Nacht da zubringen können, wie ein Raubtier, grimmig über die entflohene Beute, eigensinnig in seinem Versteck liegen bleibt, trotz des quälenden Hungers.
Und was war das? Da kam er über den Platz herüber, gerade auf ihn zu: sein an das Dunkel gewöhntes Auge erkannte ihn so deutlich, als ob's hellichter Tag gewesen wäre. Sollte die bestia, die Dummheit haben, in die Allee zu kommen? sich ihm in die Hände zu liefern? Per bacco! es war nicht anders: da – nach einem kurzen Zögern – bog er in die Allee – auf die andere Seite freilich; aber das war gut, so konnte er ihn desto sicherer auf seiner Seite verfolgen; hernach war nur der Reitweg zu überspringen, in dessen tiefem Sande die ersten Schritte sicher nicht gehört wurden, und dann mit ein paar Sätzen an ihn heran und das Stilett in den Nacken, oder, sollte er sich wenden, unter die siebente Rippe bis an den Griff!
Und seine Hand preßte sich um den Griff, als wären Hand und Griff eines, und mit dem Finger der andern prüfte er wiederholt die nadelscharfe Spitze, während er mit langen Schritten von Baum zu Baum huschte – leise, leise – die weichen Tatzen eines Tigers hätten nicht leiser auffallen und sich heben können.
Jetzt war die halbe Allee zurückgelegt; das Dunkel konnte nun nicht dichter werden; es war gerade hell genug, die Klinge des Stiletts zu sehen. Einen Augenblick noch, sich zu überzeugen, daß sie allein in dem dunklen Walde waren: der da drüben und er – und nun, sich duckend, hinüber über den weichen Sand hinter den dicken Stamm, den er sich schon vorher auserkoren!
Aber, so schnell auch der Übergang ausgeführt war, – der andere hatte jetzt doch einen Vorsprung von vielleicht zwanzig Schritten gewonnen. Das war zu viel; sie mußten um die Hälfte verringert werden. Und es konnte nicht so schwer halten; ihm blieb immer noch der weiche Sand des Reitweges rechts von den Stämmen, während der andere links auf dem harten Fußpfade ging, wo sein Schritt ein etwaiges Geräusch übertönen mußte. Da! maledetto di Dio! – ein trockener Zweig geriet ihm unter den gleitenden Fuß und brach knackend. Er drückte sich hinter den Stamm – gesehen konnte er nicht sein; aber gehört mußte es der andere haben: er stand still – horchend, vielleicht den Angreifer erwartend – jedenfalls jetzt nicht mehr unvorbereitet – wer weiß? – ein mutiger Mann, ein Offizier – umkehrend, dem Angreifer die Stirn bietend. Desto besser! dann war's ein Sprung nur hinter dem Baum hervor! Und – er kam!
Das Herz schlug dem Italiener bis in die Kehle, wie er sich jetzt, den linken Fuß vorsetzend, zum Sprunge bereit hielt; aber die Mordgier hatte ihm die sonst so scharfen Sinne betäubt; das Geräusch der Schritte war nicht nach ihm zu, war nach der entgegengesetzten Seite gewesen! – Als er seines Irrtums inne wurde, hatte sich die Entfernung mindestens um das Doppelte vergrößert, und um das Dreifache, bis er in seiner Bestürzung darüber sich entschließen konnte, was nun zu tun war.
Die Jagd aufgeben! es blieb nichts übrig. Die Bestie rannte ja jetzt beinahe! und da rasselte ein verspäteter Wagen die Chaussee daher, die die Allee durchschnitt, und hinter der Chaussee kamen Querwege von rechts und links – es war keine Sicherheit der Ausführung, keine Gewißheit des Entrinnens mehr nach vollbrachter Tat – der Augenblick war verpaßt – für diesmal! aber das nächste Mal –
Antonio murmelte einen fürchterlichen Fluch, während er den Dolch wieder in die Scheide steckte und in seiner Rocktasche verbarg.
Der andere war verschwunden; Antonio folgte langsam auf demselben Wege, aus dem Park hinaus über die Tiergartenstraße in die Springbrunnenstraße bis vor das Haus, wo der Verhaßte wohnte und dessen Fenster hell erleuchtet waren. Eine Equipage fuhr vor; ein Offizier, geputzte Damen, in ihre Schals gehüllt, stiegen aus, eine zweite Equipage folgte – der da oben lachte und schwelgte jetzt und flüsterte einer von den schönen Damen, die da ausstiegen, binnen einer Minute ins Ohr, was er Ferdinande vor zehn Minuten zugeflüstert haben mochte. Wenn er ihr das Gift der Eifersucht einflößen könnte, das in seinem Herzen brannte! wenn er etwas zwischen ihr und ihm aufrichten könnte, worüber kein Weg und kein Steg wäre! wenn man die ganze Geschichte an den grimmigen Signor, ihren Vater verriet, oder an den stolzen Capitano, seinen Vater, oder an beide –
Hallo!
Ein Mann, der das Trottoir daher kam, war an ihn, der mit verschränkten Armen an dem Eisengitter eines Vorgartens lehnte, angerannt und hatte in grobem Tone den Ruf ausgestoßen.
Scusi! sagte der Italiener, den Hut ziehend – entschuldigen Sie!
Hallo! wiederholte der Mann – seid Ihr's, Antonio?
Ah, Signor Roller! Herr Inspektor!
Signor Roller! Herr Inspektor! es hat sich ausgesignort! es hat sich ausgeinspektort! sagte der Mann mit lautem Lachen; – bis auf weiteres wenigstens; bis wir's dem Alten eingetränkt haben! ihm und seinem Herrn Neffen und seiner ganzen Brut! Wenn ich ihnen nur an die Kehle könnte! ihnen nur einen ordentlichen Schabernack spielen könnte! ich wollte es mich was kosten lassen! nur kein Geld! Alles Pfutsch!
Der Mann lachte wieder; er war offenbar halb berauscht.
Ich habe Geld, sagte Antonio schnell; – und –
Dann wollen wir eines trinken, Signor Italiano! rief der andere, ihm auf die Schulter schlagend; – una bottiglia – capisci? – ha, ha! habe mein Italienisch noch nicht ganz verlernt! Carrara – Marmor – Ochsen – capisci? capisci?
Eccomi tutto a voi, sagte der Italiener, den Arm des Mannes nehmend. – Wohin?
Zum Zippel, zum Teufel, zum Keller hinein! rief Roller lachend, auf die rote Laterne deutend über dem Schanklokal an der Ecke der Springbrunnenstraße.