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Drittes Kapitel

Reinhold hatte recht gehabt: es war kein Moment zu verlieren gewesen. Während das kleine Boot, dessen Steuer er führte, die schäumenden Wogen durchschnitt, überzog sich der Himmel immer mehr mit schwarzem Gewölk, das bald auch die letzte Spur der Abendhelle im Westen auszulöschen drohte. Dazu kam, daß der heftige Wind jetzt plötzlich aus Süden nach Norden umgesprungen war und man infolgedessen, um eine schnellere Rückfahrt des Bootes zum Schiffe zu ermöglichen, nicht an der Stelle landen konnte, wo das große Boot, das man jetzt bereits auf der Rückfahrt zum Schiffe begriffen sah, seine Passagiere ausgesetzt hatte. Es war dies bei dem Fischerdorf Ahlbeck in der Tiefe der Bucht unmittelbar unter dem Wissower Haken gewesen. Man mußte schärfer in den Wind nach Norden halten, wo auf dem schmalen Vorstrand der kahlen Dünen kaum Raum für eine einzelne Hütte, geschweige denn für ein Fischerdorf war; und Reinhold durfte sich noch glücklich schätzen, als er durch ein kühnes Manöver das kleine Boot so nahe an den Strand brachte, daß die Ausschiffung der Gesellschaft und der wenigen Stücke Gepäck, die man von dem Schiffe mitgenommen, ohne große Mühe zu bewerkstelligen war.

Ich fürchte, wir sind aus dem Regen in die Traufe gekommen, sagte der Präsident kläglich.

Es ist ein Trost für mich, daß wir die Veranlassung nicht gewesen sind, erwiderte der General nicht ohne einige Schärfe in dem Ton seiner kräftigen Stimme.

Ei, gewiß nicht, sicher nicht! bestätigte der Präsident; mea maxima culpa! meine eigenste Schuld, gnädiges Fräulein. Aber, gestehen Sie: trostlos ist die Situation, ganz verzweifelt trostlos!

Ich weiß nicht, erwiderte Else; ich finde das alles wunderschön.

Nun, da gratuliere ich von ganzem Herzen, sagte der Präsident; mir für mein Teil wäre ein Kaminfeuer, ein Hühnerflügel und eine halbe Bouteille St. Julien lieber; aber, wenn es schon ein Trost, Leidensgefährten zu haben, so ist es ein doppelter, zu wissen, daß, was der traurigen Weisheit des einen als sehr reelles Leid, der jugendlichen Phantasie des andern als ein romantisches Abenteuer erscheint.

Der Präsident hatte, während er spotten wollte, das rechte Wort getroffen. Elsen kam das Ganze wie ein romantisches Abenteuer vor, an dem sie eine aufrichtige, herzliche Freude empfand. Als ihr Reinhold die erste Nachricht von der hereindrohenden Gefahr brachte, war sie wohl erschrocken gewesen; aber Furcht hatte sie keinen Augenblick empfunden; selbst nicht, als scheltende Männer, heulende Weiber, schreiende Kinder von dem Schiffe, das dem Untergang geweiht schien, in das große Boot hasteten, das auf den graulichen Wellen auf und ab schaukelte, während von dem offenen Meere her der Abend dunkel und unheimlich heraufzog. – Der stattliche Seemann mit den helleuchtenden blauen Augen hatte gesagt: es sei keine Gefahr; er mußte es wissen; weshalb sollte sie sich also fürchten? und würde trotzdem die Sache gefährlich werden, so war er der Mann, das Rechte im rechten Moment zu treffen und der Gefahr zu begegnen. Dies Gefühl der Sicherheit hatte sie selbst vorhin nicht verlassen, als sie in die Brandung hineinfuhren, das kleine Fahrzeug wie eine Nußschale in den schäumenden Wellen schwankte, der todbleiche Präsident einmal über das andere: um Gottes willen! schrie und selbst auf des Vaters ernstem Gesicht eine Wolke von Besorgnis sich zeigte. Sie hatte nur eben einen Blick auf den Mann am Steuer geworfen, und die blauen Augen hatten so hell geleuchtet, wie zuvor, ja heller noch in dem Lächeln, mit dem er ihren fragenden Blick erwiderte. Dann hatte sie sich, als das Boot aufgelaufen war und die Matrosen den Präsidenten, den Vater und die beiden Diener ans Land trugen, an der Spitze stehend, im Begriff, es mit einem kühnen Sprunge zu versuchen, plötzlich von ein paar kräftigen Armen umschlungen gefühlt und war so – halb getragen, halb sich schwingend – ohne den Fuß zu netzen, sie wußte selbst nicht wie, auf dem sichern Ufer gewesen.

Und da stand sie nun, ein paar Schritte abseits von den beratschlagenden Männern, in ihren Regenmantel gehüllt, im Vollgefühl eines Glückes, wie sie es nie empfunden zu haben glaubte. – War es denn nicht auch wunderbar schön! Vor ihr das graue, wühlende, donnernde, unendliche Meer, über dem die schwarze Nacht drohend heraufzog; rechts und links in unabsehbarer Linie die weißlich schäumende Brandung! sie selbst umrauscht von dem herrlichen feuchten Wind, der ihr um die Ohren knatterte und in ihren Gewändern wühlte und ihr einzelne Schaumflocken in das Gesicht trieb! hinter ihr die gespenstisch-kahlen Dünen, auf denen, noch eben gegen den etwas helleren westlichen Himmel erkennbar, die langen Strandgräser nickten und winkten – wohin? weiter in das lustige, prächtige Abenteuer, das ja noch lange nicht zu Ende war, nicht zu Ende sein konnte, nicht zu Ende sein durfte! – es wäre jammerschade gewesen.

Die Herren traten an sie heran. – Wir haben beschlossen, Else, sagte der General, eine Expedition über die Dünen in das Land hinein zu machen. Das Fischerdörfchen, an dem das große Boot gelandet, ist beinahe eine Viertelmeile entfernt, und der Weg in dem tiefen Sande dürfte für unsern verehrten Herrn Präsidenten zu beschwerlich werden. Überdies würden wir dort kaum noch ein Unterkommen finden.

Wenn wir uns nur in den Dünen nicht verirren! seufzte der Präsident.

Dafür bürgt uns die Ortskenntnis des Herrn Kapitäns, sagte der General.

Von einer Kenntnis des Ortes kann ich kaum sprechen, Herr General, entgegnete Reinhold. – Ich habe ein einziges Mal, und das bereits vor sechs Jahren, von der Höhe dieser Dünen einen Blick in das Land geworfen; aber ich erinnere mich mit Bestimmtheit, in jener Richtung einen kleinen Pachthof oder dergleichen gesehen zu haben. Das Gehöft zu finden, mache ich mich anheischig. Wie es mit dem Unterkommen beschaffen sein wird, wage ich freilich nicht vorauszusagen.

Auf keinen Fall können wir hier die Nacht zubringen, rief der General; also: en avant! Willst du meinen Arm, Else?

Danke, Papa! ich komme schon hinauf.

Und Else sprang die Düne hinauf, Reinhold nach, der, vorauseilend, bereits den Kamm erreicht hatte, während der Vater und der Präsident langsamer folgten und die beiden Diener mit den Sachen den Zug schlossen.

Nun? rief Else lustig, als sie, ein wenig atemlos, neben Reinhold angekommen war. – Sind wir mit unserem Latein auch zu Ende, wie der Herr Präsident?

Spotten Sie nur noch, mein Fräulein! erwiderte Reinhold. – Mir ist schon so bei der Verantwortung, die ich übernommen, gar nicht wohl zu Mute. Dort – und er deutete, über niedrigere Dünen weg, in das Land hinein, in den Abend und Regendunst einzelnes nicht mehr erkennen ließen – muß es sein.

Müßte es sein, wenn Sie recht hätten! müssen Sie denn recht haben?

Wie zur Antwort auf des Mädchens neckische Frage, blitzte plötzlich ein Licht auf, genau in der Richtung, in die Reinholds ausgestreckter Arm deutete. Ein sonderbarer Schrecken durchzuckte Elsen.

Verzeihen Sie mir! sagte sie.

Reinhold wußte nicht, was dieser Ausruf bedeuten sollte. In dem Moment erklommen auch die andern die zuletzt ziemlich steile Höhe.

Per aspera ad astra! keuchte der Präsident.

Ich nehme meinen Hut ab, Herr Kapitän! sagte der General.

Es war viel Glück dabei, erwiderte Reinhold bescheiden.

Und Glück muß man haben! rief Else, die jene wunderliche Regung schnell überwunden hatte und nun in ihre übermütige Laune zurückfiel.

Die kleine Gesellschaft schritt weiter durch die Dünen; Reinhold wieder voran, während Else sich jetzt bei den andern Herren hielt.

Seltsam genug ist es, sagte der General, daß der Unfall uns gerade an dieser Stelle der Küste treffen mußte. Ist es doch wahrhaftig, als sollten wir für unsere Opposition abgestraft werden; und wahrhaftig, wenn meine Ansicht, daß ein Kriegshafen uns hier nichts nützen kann, auch nicht erschüttert ist, so erscheint mir jetzt, nachdem wir hier selber beinahe Schiffbruch gelitten, ein Hafen denn doch –

Ein Ziel, aufs innigste zu wünschen! rief der Präsident; – das mag der Himmel wissen! Und wenn ich an den gründlichen Schnupfen denke, den mir diese nächtliche Promenade in dem abscheulich nassen Sande zuziehen wird, und daß ich statt dessen jetzt in einem bequemen Kupee sitzen und heute nacht in meinem Bette schlafen könnte – so bereue ich jedes Wort, das ich gegen die Eisenbahn gesprochen und mich darüber mit unsern sämtlichen Magnaten überworfen habe, nicht zum wenigsten mit Graf Golm, dessen Freundschaft uns gerade jetzt sehr gelegen käme.

Wie das? fragte der General.

Schloß Golm liegt nach meiner Rechnung höchstens eine Meile von hier landeinwärts; das Jagdschlößchen auf dem Golmberg –

Ich erinnere mich, fiel der General ein; – der zweite höhere Ufervorsprung nach Norden – rechts von uns. Wir können bis dahin kaum eine halbe Meile haben.

Nun sehen Sie! sagte der Präsident; das wäre ja so bequem! und der Graf ist vermutlich dort. Ich habe, offen gestanden, heimlich auf seine Gastfreundschaft gerechnet, im Falle wir, wie ich nur zu sehr fürchte, ein menschliches Unterkommen in dem Pachthofe nicht finden und Sie Ihre Abneigung, in Warnow anzuklopfen – was freilich das Einfachste und Bequemste wäre – nicht aufgeben.

Der Präsident, der in vielen Absätzen und keuchend gesprochen hatte, war stehen geblieben; der General erwiderte mit mürrischer Stimme:

Sie wissen, daß ich mit meiner Schwester gänzlich zerfallen bin.

Aber die Frau Baronin ist ja in Italien, sagten Sie.

Sie muß dieser Tage zurückkommen; ist vielleicht schon zurück; und wäre sie es auch nicht – nach Warnow ginge ich nicht, und wenn es zehn Schritte von hier läge. Beeilen wir uns, daß wir unter Dach und Fach kommen, Herr Präsident! oder wir werden zu allem, was wir schon durchgemacht haben, noch tüchtig ausgewaschen werden.

In der Tat waren seit einiger Zeit einzelne Tropfen aus den immer tiefer ziehenden Wolken gefallen, und man hatte eben, die Schritte beschleunigend, den Pachthof betreten und sich zwischen zwei Scheunen oder Ställen über einen sehr unebenen Hof nach dem Hause durchgetappt, aus dessen Fenster das Licht geleuchtet, als der Regensturm, der lange gedroht, in voller Gewalt losbrach.


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