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Fünftes Kapitel

Der Morgen war wundervoll. Von dem blauen, wolkenlosen Himmel leuchtete die hellste Sonne in das Zimmer, als Reinhold die Vorhänge auseinanderschlug und die Fenster öffnete. Unter ihm auf dem Rasenrondel blitzten die Tauperlen an den Gräsern; in den Büschen, durch die Zweige der hohen Bäume, die ein sanfter Wind manchmal durchschauerte, spielten goldne Lichter und huschten zwitschernde Vögel. Nach links auf die Scheide der beiden Gärten, die er jetzt als eine hohe Bretterwand erkannte, warf Reinhold nur einen scheuen Blick. Wenn jener Nachbargarten derselbe war, von dem der junge Werben gestern gesprochen, so bargen die überhängenden Bäume ein Geheimnis sicher in ihrem grünen Schatten, – das Geheimnis, von dem das rascher klopfende Herz in der Brust wieder einmal plauderte, geschäftig-eifrig, leidenschaftlich-dringend, als ob's auf der Welt nichts weiter gäbe, für das zu klopfen sich der Mühe verlohnte.

Ein Pochen an die Tür erschallte; Reinhold fuhr in seinen Rock. Aber es war nicht der Onkel, sondern Justus Anders' ewiges Modell für alte Väter, der grauhaarige, graubärtige Diener mit den »famösen plastischen« Runzeln in dem verwitterten Gesicht. – Der Herr habe schon mehrere Male nach dem Herrn Kapitän gefragt; eben wieder, als er sein zweites Frühstück genommen – den Kaffee trinke er schon um fünf Uhr, manchmal auch früher – und er sei recht ärgerlich gewesen, daß der Herr Kapitän noch immer nicht erschienen. Fräulein Ferdinande arbeite auch schon seit neun Uhr im Atelier; aber Fräulein Rikchen sei unten im Speisezimmer und warte mit dem Kaffee auf den Herrn Kapitän.

Reinhold hatte sich zu Ehren des Tages ganz frisch angezogen, oder, nach seinem eigenen Seemannsausdruck – »landfein« gemacht. So konnte er denn mit dem Alten zugleich das Zimmer verlassen, um Tante Rikchen aufzusuchen. Es war ihm lieb, mit der Tante erst noch ein wenig plaudern zu dürfen, und daß sie das Plaudern verlernt habe, glaubte er trotz ihrer Schweigsamkeit von gestern abend nicht befürchten zu müssen.

Tante Rikchen saß an dem einen Ende des Frühstückstisches hinter einer Wiener Kaffeemaschine und strickte – die Brille tief auf der Nase – mit großer Schnelligkeit, so in ihre Arbeit und ihre Gedanken versunken, daß sie Reinholds Eintreten nicht bemerkt hatte und nun mit einem nervösen Schrei zusammenfuhr. Dann aber streckte sie ihm die Hand entgegen mit einem Lächeln, das jedenfalls sehr freundlich gemeint war, wenn ihr dabei auch dicke Tränen in die Augen traten, die ebenso plötzlich, wie sie gekommen, verschwanden, als wären sie nicht gewesen.

Ich habe den Kaffee wieder frisch gemacht, sagte sie, – ich denke, daß du nach dieser Seite schrecklich verwöhnt bist.

Nach dieser Seite nicht, und nach keiner, erwiderte Reinhold heiter.

Das gute alte Schmidtsche Blut! sagte Tante Rikchen; – ganz wie dein seliger Großvater, dem du überdies wie aus den Augen geschnitten bist.

Ihre eigenen Augen waren während dieser Worte wieder naß und auch wieder trocken geworden.

Ich denke, Onkel Ernst soll sein ganzes Ebenbild sein, sagte Reinhold, – und dem sehe ich doch nun schon gar nicht ähnlich.

Nicht ähnlich? rief Tante Rikchen; – na dann weiß ich nicht, was Ähnlichkeit ist! Ich weiß ja überhaupt nichts – sagt er.

Sie hatte den Strickstrumpf zur Hand genommen und arbeitete mit der nervösen Hastigkeit von vorhin; auch lag eine große Gereiztheit in dem Tone der letzten Worte, die spitz und scharf durch die zusammengepreßten Lippen kamen.

»Er« bedeutete zweifellos: der Onkel; aber Reinhold hielt es für geraten, ein wenig zu lavieren, bevor er in diesen Kurs steuerte.

Wie meinst du, liebe Tante? fragte er.

Du willst mich nicht verstehen, erwiderte Tante Rikchen mit einem scharfen Blick über die Brillengläser weg. – Du willst nicht sehen, wie er seine einzige Schwester behandelt und daß er mich tyrannisiert, daß er uns alle tyrannisiert! so heißt es ja wohl?

Aber, liebe Tante, dann ist es doch eben die Art des Onkels, und du kannst dich nicht besonders darüber beklagen.

Wohl kann ich es, rief Tante Rikchen, – denn gegen mich armes Wurm ist er ja noch immer ganz besonders schlecht. Und warum? weil er immer denkt, ich würde mir zu viel herausnehmen und ihm am Ende gar widersprechen in seiner Politik und in seiner Geographie und Geschichte und all dem Krimskrams, den er sich in den Kopf gepackt hat. Davon verstehen wir Frauenzimmer nichts! das ist nichts für uns! das versteht er ganz allein, das ist alles ganz für ihn allein! Natürlich ist es für ihn allein, wenn er uns die Bücher vor der Nase wegschließt und die Zeitungen unter den Händen wegnimmt. Er hat doch auch in seiner Jugend nichts gelernt; er sollte doch wissen, wie es ist, wenn man stumm dabei sitzen muß und keine Ahnung hat, ob Timbuktu, oder wie es heißt, eine Stadt oder Fisch oder Fleisch ist, und nicht einmal fragen darf – er sollte das doch wissen!

Die Stricknadeln klapperten immer nervöser; die Brille war ihr so tief auf die Nasenspitze gerutscht, daß sie, ohne herabzufallen, nicht weiter gleiten durfte; die dünnen Lippen konnten sich nicht enger zusammenpressen, wenn die scharfen Worte noch einen Ausgang finden sollten.

Es ist gewiß nicht recht von dem Onkel, sagte Reinhold, – daß er so wenig mitteilsam ist und den Wissensdrang anderer so gering achtet; aber man findet das bei Autodidakten öfter.

Bei wem? fragte Tante Rikchen.

Bei Leuten, die ihr Wissen sich selbst verdanken. Ich habe einen alten Neger gekannt, der es ohne alle Anleitung, durch eigenen unsäglichen Fleiß bis zum Schiffskapitän gebracht hatte und wirklich ganz ungewöhnliche nautische und astronomische Kenntnisse – Kenntnisse in der Schiffahrts- und Sternenkunde, Tante – besaß, dafür uns andere aber alle für heillose Ignoranten hielt.

Was ist das nun wieder?

Nichtswisser, Tante.

Aber der Onkel ist kein Neger, sagte Tante Rikchen, – und selbst ein Neger, wenn er eine Tochter hat, die wegen ihrer Schönheit in ganz Berlin berühmt ist und jeden Tag die reichste und größte Partie machen könnte, wenn sie wollte, nur daß sie nicht will, und wenn sie einmal nicht will, da ist sie denn ganz seine Tochter, da bringt sie kein Mensch dazu, und wenn er sich auf den Kopf stellt. Und Anders versichert, daß sie wirklich ein großes Talent habe, und alle Leute sagen es ja; ich verstehe nichts davon, ich verstehe überhaupt nichts – er hält es natürlich alles für dummes Zeug und Larifari.

Und doch möchte ich behaupten, daß der Onkel im stillen sehr stolz auf Ferdinande ist.

Warum? Tante Rikchen warf über die Brillengläser einen ihrer forschendsten Blicke auf Reinhold.

Ich habe gestern abend mehr als einmal seine Augen mit einem Ausdruck auf ihr ruhen sehen, den ich mir nicht anders erklären kann.

Meinst du?

Tanke Rikchen hatte ihr Strickzeug in den Schoß sinken lassen; ihre Augen hatten sich wieder mit Tränen gefüllt, die diesmal nicht alsbald verschwanden.

Siehst du, sagte sie, – das denke ich auch oft. Ich denke oft: es ist ja ganz unmöglich, daß er keinen Menschen liebt, denn er kann ja kein Tier leiden sehen und möchte sich am liebsten vor die großen Wagen spannen und die alten Marmorblöcke ziehen, damit nur die dicken Pferde sich nicht zu quälen brauchen. Und dabei quält er sich selbst und sorgt und arbeitet für alle Welt, für Hinz und Kunz, die es oft gar nicht verdienen und ihm mit dem schnödesten Undank all seine Guttaten lohnen. Und darum muß er ja auch wohl Wein trinken, denn kein Christenmensch könnte das aushalten, was er sich zumutet, und ich habe ja auch gar nichts gegen ein Glas, oder so – ich trinke manchmal wohl selbst eins, wenn ich recht abgespannt bin, und es bekommt mir ganz gut und hilft mir wieder auf meine alten Beine; aber zwei Flaschen, oder drei – ich bin überzeugt, daß ihn noch einmal der Schlag rührt.

Die Tränen hielten sich jetzt für ihre Zurückhaltung schadlos und liefen in Strömen über die eingefallenen Wangen. Auch Reinhold war gerührt: es lag so viel echte Liebe in dieser Anerkennung von ihres Bruders guten Eigenschaften, in dieser Sorge für ihn – einer Sorge, die noch dazu, wie er sich heimlich eingestand, nicht so unbegründet schien.

Ei, Tante, sagte er, du darfst auch nicht zu ängstlich sein. Wir Schmidts sind eine dauerhafte Rasse, und nun gar der Onkel darf sich schon mehr zumuten als andere. Überhaupt, wer, wie ich, frisch und unbefangen an ihn herantritt, sieht, glaube ich, besser und klarer, was und wie er ist; und da kann ich dir nur sagen, Tante, mich sollte es nicht wundern, wenn der Onkel die rauhe Seite geflissentlich hervorkehrte, weil er nicht alle Welt wissen lassen will, wie weich und zugänglich sein Herz ist. Ich habe schon mehr als einen so gekannt.

Hast du? sagte Tante Rikchen eifrig, während die Tränen bereits wieder eintrockneten. – Nun ja, du bist viel in der Welt herumgewesen und hast viele Menschen gesehen: Heiden und Neger und Türken, und bei denen mag dergleichen ja wohl öfter vorkommen, was sich für einen Christenmenschen nicht schickt; und ich habe mir so etwas Ähnliches in meinem dummen Verstände selbst zusammengereimt; aber dann erkläre mir doch auch, wie es menschenmöglich, daß ein Vater mit einem Herzen, wie du sagst, gegen seinen Sohn ist, wie er gegen Philipp – das erkläre mir doch auch einmal!

Wenn ich nur erst wüßte, wie er gegen Philipp ist, Tante! Es scheint ja leider ein vollkommener Bruch zwischen ihnen stattgefunden zu haben?

Ja, ist es nicht schrecklich? sagte Tante Rikchen, – und die Szenen! Herr meines Himmels, wenn ich daran denke! Nun, das ist vorbei; – sie sehen sich schon seit zwei Jahren nicht mehr, und Philipp braucht uns ja auch nicht! er soll ja so furchtbar reich sein – mehrere Millionen, sagt Justus – und jetzt läßt er sich ein Haus in der Wilhelmstraße bauen, wo jede Quadratrute fünf Taler kostet, oder fünfhundert oder fünftausend – ich weiß es nicht – ich kann keine Zahl behalten; und Anders soll ja vier oder vierundzwanzig Figuren für den Flur und für die Treppe machen, und die Treppe wird ganz von kanarischem Marmor – so heißt er ja wohl? und ich sehe nicht ein, was das für eine Schande ist, wenn man es vom einfachen Maurermeister, der er war, so weit gebracht hat. Siehst du denn das ein?

Bis ich nicht weiß, wie er es dahin gebracht hat, liebe Tante –

Wie? wie? rief Tante Rikchen, – fängst du nun auch schon an! Was kann er denn groß getan haben? hat er etwa gestohlen? ist er irgendwo eingebrochen? hat er schon Brand gestiftet? oder gewegelagert? wartet doch erst ab, bis er das tut! wartet es doch erst ab!

Aber, Tante, ich habe ja gar nichts gegen Philipp gesagt, – ich bin ja vollkommen unparteiisch! rief Reinhold.

Jawohl unparteiisch! entgegnete Tante Rikchen, – wenn Ihr ihn bei jeder Gelegenheit in den Himmel erhebt und ihm Fladusen sagt, daß er stolz wie der Großtürke werden muß! Und Philipp mag ja wohl manchmal ein bißchen rücksichtslos und egoistisch sein; aber gegen mich ist er immer ganz freundlich gewesen, und noch gestern, als er mir in der Potsdamerstraße begegnete, hat er mir gesagt: wenn du Geld brauchst, Tante, dann komm nur zu mir, du kannst jeder Zeit haben, so viel du willst. Na! ich brauche keins, Gott sei Dank! und, was ich brauche, gibt er mir ja; aber ein Neffe, der seiner armen alten Tante auf der Potsdamerstraße am hellen lichten Tage Geld aus freien Stücken anbietet, der ist kein Räuber und kein Mörder, sage ich. Und nun mach' nur, daß du zu ihm kommst; er fragt und verlangt sonst nach keinem Menschen, aber von dir hat er immer haushohe Stücke gehalten und deine Reisen immer mit roten Bleistiften auf den Karten verfolgt. Und das ist ja auch nur in der Ordnung, ich meine nicht mit den Bleistiften, aber wenn man von seinen Verwandten was hält. Ich könnte für jeden durchs brennende Feuer gehen – für jeden! mir ist einer wie der andere; man ist entweder ein Schmidt, oder man ist kein Schmidt; man hat entweder Schmidtsches Blut in den Adern, oder man hat es nicht. Das mag ja wohl sehr beschränkt sein – borniert, heißt es ja wohl? aber es ist nun einmal meine Ansicht, und darauf lebe und sterbe ich. Und wenn ich erst einmal tot und begraben bin, werdet ihr ja wohl einsehen, wie gut die alte Tante es mit euch allen gemeint hat. Und was ich noch sagen wollte: Ferdinande und Justus sprechen davon, heute in die Kunstausstellung zu gehen, und ob du wohl mitgingst? Ich werde natürlich zu Hause bleiben, ich verstehe nichts davon – ich verstehe ja überhaupt nichts.

Die Brille hatte ihren tiefsten Stand erreicht, die Nadeln bewegten sich mit unheimlicher Schnelligkeit.

Reinhold glaubte das Klappern noch zu hören, als er bereits in dem Garten war, in den aus dem Speisezimmer eine Glastür führte.


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