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Siebentes Kapitel

Reinhold hatte nicht gelächelt; aber als das holde Wesen nun in dem Schatten des Flures verschwunden war, strich er sich mit der Hand, die sie so lange festgehalten, über die Augen.

Und du glaubtest zu lieben! sprach er bei sich. – Was sind unsere reinsten, unsere heiligsten Empfindungen, verglichen mit dem Himmel von Reinheit und Güte in der Seele dieses armen blinden Mädchens, das von ihrer Lieblichkeit und Schönheit so wenig weiß, wie die Lilien auf dem Felde. Wie hat die holde Blume hier gedeihen können!

Er ließ seine Blicke um sich schweifen. Dieselbe Glocke, die vorhin, als Cilli aus dem Hause getreten, die Frühstückspause verkündete, erschallte jetzt abermals. Die Leute gingen wieder an die Arbeit. Um die Ecke des Hauses biegend, warf er durch weit offene Türen einen Blick in die Werkstatt, die den größten Teil des unteren Raumes einzunehmen schien. Grabkreuze und Grabtafeln wurden hier von geschäftigen Händen zurecht gehauen und gemeißelt.

Reinhold durchschauerte es: dieser traurige Anblick jetzt, wo die Welt wie verklärt vor ihm gelegen hatte, verklärt in der Phantasie des blinden Mädchens, das über dieser traurigen Werkstatt wohnte! in dessen Träume das Klopfen und Pochen dieser grausamen Hämmer und Meißel hineinschallen mußte!

Er fragte nach dem Onkel. Man hatte ihn an dem Morgen noch nicht gesehen; er möchte wohl in dem Maschinenraum sein, oder auf einem der hinteren Höfe. – Das Atelier von Herrn Anders? – Hier, in demselben Gebäude, gleich, wenn Sie um die Ecke kommen, die erste Tür; – die zweite ist das Atelier von dem Fräulein.

Reinhold trat um das Haus und pochte an die erste Tür, neben der sich ein hohes, von innen bis zur Hälfte verhängtes Fenster befand. Man antwortete nicht, und er wollte schon weiter gehen, als die Tür ein wenig geöffnet wurde. Aber es war nicht das freundliche Gesicht des Bildhauers mit den hellen Augen und dem lustigen Lächeln: ein fremdes dunkles Gesicht, aus dem ein paar schwarze, glänzende Augen ihn anfunkelten.

Verzeihung! ich glaubte zu Herrn Anders zu kommen.

Herr Anders ist nicht hier; Herr Anders ist in seiner Wohnung, die dritte Tür, eine Treppe hinauf.

Der mit dem dunklen Gesicht sagte das in einem unfreundlichen Ton und in einem Deutsch, das geläufig genug war, aber doch in jeder Silbe den Ausländer erkennen ließ.

So will ich ihn dort aufsuchen.

Herr Anders will in die Kunstausstellung gehen; er zieht sich an.

Der junge Mann war, wie Reinhold jetzt bemerkte, selbst im Anziehen begriffen gewesen und noch in Hemdsärmeln, deren blendende Weiße das dunkle Gesicht noch dunkler erscheinen ließ. Der Zustand seiner Toilette erklärte auch wohl den unfreundlichen Ton seiner Antworten und die Ungastlichkeit, mit der er die Tür nur eben so weit öffnete, als nötig war, um mit dem Fremden sprechen zu können.

Wissen Sie vielleicht, ob Fräulein Schmidt in ihrem Atelier ist?

Die Hartnäckigkeit des Fragers schien den jungen Mann zu ärgern. Die schwarzen Augen waren wie in Nacht gehüllt; die feine Oberlippe mit dem weichen Bärtchen zuckte, daß für einen Moment die weißen Zähne hervorblitzten. Non lo so! stieß er hervor.

Er schloß die Tür, auf italienisch weiter etwas durch die Zähne murmelnd, das nicht wie ein Segen klang.

Reinhold war überzeugt, daß der unhöfliche junge Mann es wußte und daß Ferdinande in ihrem Atelier sei; indessen es wird sie nicht unglücklich machen, wenn ich später, oder auch gar nicht komme. Vorerst muß ich doch wohl den Onkel aufsuchen.

Er wandte sich wieder in den Hof, vorbei an einer Stelle, wo man gewaltige Marmorblöcke vermittelst großer Sägen durchschnitt, die in der Schwebe hingen und je von einem Manne regiert wurden. Es mußte eine anstrengende, ermüdende Arbeit sein; auch werde sie nur noch vorgenommen, wenn die Maschinen, wie in diesem Augenblick, nicht genug schaffen könnten; die schafften freilich mehr.

So sagten die Leute, die Gelegenheit benutzend, ein wenig zu verschnaufen. – In jenem Gebäude ständen die Schneidemaschinen; sie hätten den Herrn vorhin dahin gehen sehen. Auch bei den Schneidemaschinen war Onkel Ernst nicht – eben dagewesen – vielleicht bei den Drehmaschinen – nebenan.

Reinhold hatte Mühe, die Worte, die ihm ein Arbeiter ins Ohr schrie, zu verstehen; so groß war der nervenzerreißende, kreischende Ton der ungeheuren Sägen, die die Kraft des Dampfes mit unheimlicher Geschwindigkeit hinüber und herüber durch die auf der hohen Kante stehenden mannshohen Blöcke zog: acht, zehn, zwölf Sägen zu gleicher Zeit durch denselben Block, der dadurch in ebenso viele zolldicke Platten geschnitten wurde. Und zwischen je zwei Blöcken auf einem schmalen Gerüst war ein Mann unablässig beschäftigt, aus einem Eimer mit Sand vermischtes Wasser in die Fugen zu gießen, die die Sägen über sich ließen; und der, welcher herabgestiegen war, um Reinhold Bescheid zu sagen, sprang eiligst auf seinen Platz zurück, die ellenlangen Funken zu löschen, die aus seinen Blöcken hervorzusprühen begannen.

In dem nächsten Raum, den Reinhold betrat, ging es weniger ungeheuerlich zu. Zwar schnurrten auch hier die Treibriemen, die, wie endlose Schlangen, von einem Rade oben in der einen Ecke der Decke sich auf ein anderes in der entgegengesetzten Ecke stürzten, und von diesem hinab auf ein zweites in mittlerer Höhe, um abermals hinauf und wieder hinunter zu fahren in sinnverwirrenden zitternden Linien; zwar sausten auch hier die Räder, klapperten und rasselten, stöhnten, knirschten und kreischten die Eisen, die in den Marmor schnitten, bohrten, an ihm meißelten, feilten, schabten, kratzten, und in jeder möglichen Weise ihn aus seiner Unform in künstliche, ja zum Teil künstlerische Formen brachten: Gebälke mit scharfen Plinthen, schlanke Säulen mit schönen Kannelüren, zierliche Gestelle für Kandelaber oder Vasen; ja Vasen selbst, die in schnellster Umdrehung von geschickten Händen mit Bimsstein geglättet wurden.

Herr Schmidt war vor wenigen Minuten hier gewesen, – werde jetzt vielleicht drüben in den Werkstätten sein, wo die feineren Arbeiten so weit vorbereitet würden, bis sie hierher in die Schleiferei kämen.

Jene Werkstätten lagen auf der andern Seite des Hofes, von dessen gewaltigen Dimensionen Reinhold erst jetzt eine richtige Vorstellung bekam, ebenso, wie von der ungeheuren Ausdehnung, die des Onkels Geschäft offenbar hatte. In drei Werkstätten war er bereits gewesen, in mindestens ebenso viele hatte er, vorübergehend, einen Blick geworfen. Welche Kapitalien mußten in diesen massiven Gebäuden stecken, in dem Platz allein, den sie und die Hofräume einnahmen, in diesen komplizierten, sinnreichen Maschinen, in der Menge der bereits fertigen Waren; und nun gar in diesen Massen unverarbeiteter Marmorblöcke, die überall über den Hof aufgestapelt lagen und zwischen denen sich die gepflasterten Wege hinzogen für die derbkonstruierten Wagen, auf denen von gewaltigen Pferden die ungeheuren Lasten hinüber und herüber geführt wurden!

Und das alles hatte der Mann geschaffen, von dem Tante Rikchen vorhin mit Recht gesagt: er müsse doch wissen, wie einem Menschen zu Mute sei, der in seiner Jugend nichts gelernt habe! Der Mann, der als Junge, als Jüngling noch, mit seinem Vater die Havel und die Spree hinauf und hinab gefahren auf dem langen Kahn, dem ganzen Vermögen der Familie, bis er nach dem Tode des Alten einen Handel mit Backsteinen und Sandsteinen auf dem einsamen Platze oberhalb der Stadt anfing, in dem kleinen, bescheidenen Häuschen, in dem Reinhold ihn noch vor zehn Jahren besucht hatte! – Welcher Fleiß, welche Energie und auch welche Intelligenz waren erforderlich gewesen, solche Resultate zu erreichen! eine Welt, aus dem Nichts beinahe, zu schaffen! Durfte man sich wundern, wenn der, der sie geschaffen, die Stirn höher trug als andere Leute? aber auch wenn diese Stirn, die an so vieles und für so viele zu denken, zu sinnen, zu sorgen hatte, oft so finster umwölkt war?

Laute Stimmen, die in seiner unmittelbaren Nähe erschallten, schreckten Reinhold aus diesen Betrachtungen auf: eine hellere und eine tiefe, in der er die seines Onkels zu erkennen glaubte. Es mußte ein Wortwechsel sein: die hellere Stimme wurde immer heftiger, bis ein donnerndes: Schweigen Sie! den Redeschwall unterbrach. So konnte nur Onkel Ernst donnern.

Er war stehen geblieben, unschlüssig, ob er näher treten dürfe, ob er den Streitenden ausweichen solle. Da aber kamen diese bereits um den Haufen Marmorblöcke, der sie bisher seinen Blicken entzogen, herum: der Onkel und ein fuchsbärtiger Mann, dessen unschönes Gesicht von Wut entflammt und wie verzerrt war. Auch auf des Onkels Stirn, aus der der breite Schlapphut hoch hinausgeschoben, lag eine rote Zorneswolke; aber seine großen, mächtigen Augen blickten fest und ruhig, und fest und ruhig war die Stimme, als er jetzt, den Neffen erblickend, sagte: Guten Morgen, Reinhold! obgleich es kein guter Morgen für mich ist.

Wünschen Sie meine weitere Begleitung, Herr Schmidt? fragte der Mann.

Allerdings, Herr Inspektor! Sie werden die Leute jetzt in meinem Beisein entlassen.

Das werde ich nicht tun, Herr Schmidt.

In meinem Beisein und in dem aller übrigen Leute! – ziehen Sie die Glocke!

Und Onkel Ernst deutete auf ein Gerüst, in dem eine große Glocke hing.

Das ist meines Amtes nicht, sagte der Inspektor trotzig.

Sie haben recht, erwiderte Onkel Ernst; denn Sie haben kein Amt mehr, von dieser Sekunde an.

Ich stehe auf vierteljährige Kündigung.

Das wird sich finden.

Onkel Ernst ging auf die Glocke zu. Reinhold kam ihm zuvor. – Erlaube das mir! sagte er.

Er wartete des Onkels Antwort nicht ab und löste den herabhängenden Strang; im nächsten Augenblick erschallten die lauten Schläge, mächtigen Klanges über den Hof tönend, das Kreischen und Knirschen der Sägen, das Pochen und Klopfen der Hämmer und Meißel übertönend, die Arbeiter von ihrer Arbeit aufschreckend. Schon kamen sie von da und dort herbei mit verstörten Gesichtern.

Während sie sich versammelten und nun in Gruppen, wie sie aus den Werkstätten gekommen, herandrängten – wohl ihrer zweihundert, wie Reinhold meinte – stand Onkel Ernst an einen Marmorblock gelehnt, die Arme über der Brust verschränkt, starr vor sich niederblickend; ein Paar Schritte vor ihm der Inspektor, der jetzt sehr blaß geworden und in dessen scheuer, verstörter Miene deutlich zu lesen war, daß ihn nur die Furcht an diese Stelle bannte. Reinhold war seitwärts an den Block getreten, an dem der Onkel lehnte, um auf alle Fälle in seiner Nähe zu sein. Um was es sich auch immer handeln mochte – etwas Fröhliches war es nicht – und während seine Blicke über die Leute schweiften, begegneten sie manchem verwegenen, ja verwilderten Gesicht.

Und jetzt richtete sich Onkel Ernst auf; die großen Augen flammten über die versammelte Menge, die Arme sanken von der breiten Brust, und aus der breiten Brust kam die mächtige Stimme, wie grollender Donner:

Leute! Ihr kennt die Haus- und Arbeitsordnung; sie ist euch vorgelegt – jedem einzelnen, der bei mir in Arbeit trat; sie ist in jeder Werkstatt angeschlagen; keiner darf sagen, daß ihm auch nur ein Punkt dunkel oder unverständlich geblieben; und so soll sie auch gehalten werden, Punkt für Punkt, wie von mir, dem Arbeitgeber, so von euch, den Arbeitnehmern. Ist einer unter euch, der hier vortreten und sagen kann, daß ich auch nur um eines Haares Breite von dem abgewichen, was ich euch versprochen, oder sonst meine Pflicht und Schuldigkeit im mindesten nicht erfüllt habe, der trete vor und sage es!

Er machte eine Pause – die Arme wieder verschränkend und die Augen senkend, als wolle er auch nicht durch einen Blick jemand einschüchtern, seine Meinung frei zu äußern. Reinhold sah, daß hier und da ein paar Köpfe zusammenfuhren und ein paar schnelle heimliche Blicke gewechselt wurden; aus einer Gruppe, die ihm schon vorhin aufgefallen, machte auch einer einen Schritt vorwärts, aber die andern hielten ihn am Arm, und er trat wieder zurück. Onkel Ernst schaute zum zweiten Male auf:

Es hat sich keiner gemeldet; ich muß annehmen, daß ihr mir nichts vorzuwerfen, daß ihr keinen Grund zur Klage habt. Ihr aber, – ich habe Grund zur Klage gegen einige von euch; und damit ihr alle hört, was es ist und wer es ist, und daß ihr euch in Zukunft danach richtet, und wer noch etwa heimlich auf demselben Wege geht, weiß, was er zu tun hat, wenn er sonst ein ehrlicher Kerl ist, seid ihr hier zusammengerufen. – Jakob Schwarz, Johann Brand, Anton Baier – tretet ihr vor!

Eine lebhafte Bewegung unter den Leuten entstand; aller Augen richteten sich auf die Gruppe, die Reinhold bereits aufgefallen war. Der Gesell von vorhin kam entschlossen vorwärts und blickte hinter sich, worauf denn noch zwei andere zögernd folgten. – Was soll's? sagte der erste.

Du wirst es gleich erfahren, erwiderte Onkel Ernst. – Ihr wißt, Leute, daß unsere Statuten euch verbieten, einem sozialistischen Verein anzugehören; daß ich diese drei Knall und Fall hätte wegschicken können, als ich vor acht Tagen erfuhr, wie es mit ihnen bestellt ist; daß ich Gnade vor Recht ergehen ließ, wenn ich sie nicht wegschickte, wenn ich ihnen Zeit ließ, sich zu besinnen. Gestern abend war die Frist abgelaufen; sie haben gestern abend Herrn Roller hier die von ihnen geforderte Versicherung, daß sie aus dem Verein ausgetreten, nicht gegeben. Herr Roller hätte sie heute morgen nicht wieder an die Arbeit lassen dürfen; er hat es getan und ist deshalb von diesem Augenblick an euer Inspektor nicht mehr und überhaupt aus meinen Diensten geschieden.

Die Köpfe wogten durcheinander; Bestürzung malte sich auf den meisten Gesichtern, auf manchen Schadenfreude; der Inspektor versuchte ein höhnisches Lächeln, das aber nur zu einer traurigen Grimasse wurde.

Ihr nun, fuhr Onkel Ernst fort, sich jetzt zum ersten Male an die Betroffenen wendend, nehmt eure Sachen und verlaßt den Hof auf der Stelle! und ihr andern, laßt euch dies Exempel zur Warnung dienen und euch gesagt sein, was ihr freilich längst wissen solltet, daß mit mir nicht zu spaßen, sondern daß es mein bittrer Ernst ist mit dem, was ich sage, und – nun geht wieder an eure Arbeit!

Eine Anzahl der Leute machte sofort kehrt und fing an, sich zu entfernen; aber andere – fast aus jeder Gruppe einige – blieben und rückten, während die Reihen sich lichteten, näher zusammen, als wollten sie einer bei dem andern Schutz suchen. Auch die zuerst gehen wollten, blieben wieder stehen, kehrten um und traten ebenfalls aneinander heran, so daß in wenigen Augenblicken der Halbkreis sich in zwei Teile gesondert hatte; der letzteren, und augenscheinlich Fügsameren und Willigeren, war die bei weitem größere Zahl; aber die anderen, es mochten ihrer Wohl dreißig sein – waren offenbar die Entschlosseneren und Verwegeneren. Reinhold trat an des Onkels Seite.

Was steht ihr noch? fragte Onkel Ernst, – was wollt ihr noch?

Aus der Menge der Unzufriedenen, die sich jetzt zu einem Knäuel zusammengeballt hatte, trat einer hervor – keiner von den dreien – ein Bursch, der hübsch gewesen sein würde, nur daß das junge Gesicht bereits von bösen Leidenschaften zerwühlt und verwüstet war. Seine hellen frechen Augen sahen wässerig aus, als ob er bereits der Flasche ungebührlich zugesprochen. Er machte eine Geste, als ob er auf der Rednerbühne stünde, und sprach mit großer Geläufigkeit:

Wir wollen wissen, Herr Schmidt, weshalb wir nicht Sozialisten und auch Kommunisten sein sollen, wenn wir wollen; wer uns verbieten kann, einzutreten in die Reihen der Arbeiterbataillone, die gegen die hartherzige Bourgeoisie marschieren, um sich ihr gutes Recht wieder zu erobern, das man uns so schmählich vorenthält? Wir wollen wissen –

Schweig! donnerte Onkel Ernst, – schweig, elender Bube! und schäme dich in deine Seele hinein, wenn du dich noch schämen kannst!

Onkel Ernst war ein Paar Schritte vorgetreten; der Jüngling wich vor ihm zurück, wie ein Schakal vor dem Löwen, und drückte sich in den Knäuel, der sich noch dichter zusammengeballt hatte.

Was steht ihr da und steckt die Köpfe zusammen und murrt und droht? denkt ihr, daß ich mich vor euch fürchten werde, mehr, als vor dem elenden Buben, den ich von der Straße aufgenommen und gekleidet und genährt und in die Schule geschickt habe, und der jetzt wissen will, weshalb ich ihm sein gutes Recht vorenthalte? Sein gutes Recht? Euer gutes Recht? Ehrlich zu halten, was ihr versprochen, wozu ihr euch durch eures Namens Unterschrift bekannt habt, – das ist euer gutes Recht – nichts mehr und nichts weniger! Wer hat euch gezwungen, zu unterschreiben?

Der Hunger! schrie eine rauhe Stimme.

Du lügst, Karl Peters! rief Onkel Ernst – und wenn du Hunger gelitten, so war es, weil du ein Säufer bist und das Geld, das deiner Frau und deinen Kindern gehört, in die Branntweinkneipe trägst.

Wir sind alle Sozialisten, wie wir hier stehen! schrie eine andere Stimme aus dem Haufen.

So habt ihr alle gelogen und betrogen! rief Onkel Ernst; alle, wie ihr da steht! Gelogen habt ihr, als ihr unterschriebt, wovon ihr wußtet, daß ihr es nicht halten könntet und nicht halten wolltet! Betrogen habt ihr mich Tag für Tag und Stunde um Stunde, die ihr bei mir gearbeitet, von dem ihr wußtet, daß er keinen in seinem Hause und auf seinem Hofe duldet, der zu euren verruchten Sätzen schwört; sondern daß er ihn von Haus und Hof jagen würde, wie ich es jetzt mit euch tue, mit euch allen, die ihr da zusammensteckt!

Ein dumpfes Gemurmel kochte in dem Haufen; einzelne laute, drohende Rufe brachen hervor.

Onkel Ernst sprang mit einem Satze bis unmittelbar vor den Knäuel.

Auseinander! donnerte er; auseinander, auf der Stelle!

Die Vordersten prallten zurück und drängten auf die, die hinter ihnen standen. Es hatte offenbar keiner den Mut, es bis zu Tätlichkeiten zu treiben. Sie wichen weiter und weiter; der Knäuel fing an, sich zu lösen.

In einer halben Stunde seid ihr auf dem Kontor, euch ablohnen zu lassen!

Die Leute waren gegangen, auch der Inspektor. Onkel Ernst wandte sich zu Reinhold:

Da hast du eine Probe von der herrlichen preußischen Disziplin, die dir im Kriege so imponiert hat; da hast du ein Stück von der neuesten deutschen Treue und Redlichkeit, wie sie sie in Bismarcks Schule gelernt haben!

Aber Onkel, verzeihe, was hat mit diesem allen Bismarck zu tun?

Was der damit zu tun hat?

Onkel Ernst war stehen geblieben.

Was der damit zu tun hat? Wer ist es gewesen, der das Wort gesprochen, daß Macht vor Recht geht? oder wer, wenn er es nicht gesprochen, hat durch seine Handlungen so viel dazu beigetragen, daß der verruchte Satz zum Grundsatz der jetzigen Menschen geworden ist, nach dem sie ihr Tun und Lassen regeln? Wer hat unser gutes ehrliches Volk gelehrt, wie man mit denen, die sie zu ihren Vertretern bestellt haben, in ewigem Konflikt lebt und über die Köpfe dieser ihrer Vertreter weg nach seinen Zielen greift? wie man sich eine Armee schafft und eine gefügige Partei, die zu allem Ja und Amen sagt, und was man sonst noch braucht, um diese Ziele sicher zu erreichen? Hast du es nicht gehört, das Wort von den Arbeiterbataillonen? Sie sind schon längst kein toller Traum mehr eines hirnverbrannten Schwärmers. Sie sind eine Wirklichkeit, die drohend wächst wie eine Lawine und sich früher oder später vernichtend über uns alle wälzen wird. Wer kann es ihnen verdenken? Macht geht ja vor Recht! Und so ist die Revolution in Permanenz erklärt, und der Krieg aller gegen alle. Heute hat er gesiegt, glaubt er gesiegt zu haben, und brüstet sich mit seinem Siege und mit der Kaiserkrone, die er für seinen Herrn erobert und von dem Sims nahm, wo sie ein anderer hinlegte, der sie nicht aus den Händen des Volkes nehmen wollte! Aus den Händen des Volkes von damals! – eines so guten, so treuen, so gläubigen Volkes, dessen heiliger Traum eben diese Krone war! Frage die, ob sie noch glauben! frage die, wie sie über die Krone von Gottes Gnaden denken! frage die, wovon sie träumen!

Onkel Ernst deutete auf die entlassenen Arbeiter, die jetzt in kleineren und größeren Trupps, heftig gestikulierend und aufeinander einsprechend, über den Hof nach dem niedrigen Gebäude gingen, aus dessen Tür vorhin Cillis Vater gekommen war.

Wird die Ablohnung ohne Störung vor sich gehen? fragte Reinhold.

Die Polizeiwache ist in zu großer Nähe, erwiderte Onkel Ernst mit finsterem Lächeln – heute fürchten sie noch die Polizei; du kannst ganz ohne Sorgen sein. Und eh' ich's vergesse: ich danke dir, mein Junge!

Wofür, Onkel?

Es war nicht nötig; aber ich habe doch gesehen, daß du zu mir stehst, wenn es an den Mann geht.

Hast du daran gezweifelt?

Nein, trotz deiner Bismarckschwärmerei. – Und nun geh' zu Ferdinanden; ihr wolltet ja wohl in die Kunstausstellung?

Ich hörte davon; aber jetzt ist mir, offen gestanden, die Partie verleidet.

Nicht doch! sagte Onkel Ernst. – Ferdinande würde untröstlich sein; und – ich liebe es nicht, wenn meine geschäftlichen Angelegenheiten zu Familienaktionen aufgebauscht werden.

Onkel Ernst reichte Reinhold die Hand mit kräftigem Druck und schritt durch die Arbeiter hindurch, die scheu nach beiden Seiten auswichen, in das Haus. Reinhold verließ zögernd den Platz. Er wäre auf alle Fälle gern bei dem Onkel geblieben, und daß Ferdinande untröstlich sein würde, wenn er nicht käme, war ihm mehr als zweifelhaft.


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