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Reinhold hatte sich, nachdem er Fräulein von Werben vor der Gefahr, in einem intimen Gespräch mit einem Schiffskapitän von der Prinzessin ertappt zu werden, so glücklich bewahrt, auf dem Umweg durch die Galerie und den zweiten Saal nach dem Uhrsaale zurückbegeben, in der sichern Hoffnung, hier oder dort seine Cousine wiederzutreffen. Aber vergebens, daß er die scharfen Augen nach allen Richtungen wandte und die gewagtesten Evolutionen über die zusammengedrängten Schleppen der Damen hinweg ausführte, wenn er ein braunes Sammetkleid in staubgrauer Ferne entdeckt hatte. Indessen, weit konnte sie ja keinesfalls sein, und im Grunde hatte sie ihn doch früher im Stich gelassen, als er sie. Nichtsdestoweniger steigerte sich seine Unruhe, als er nun bereits in den Oberlichtsaal gekommen, ohne sie zu finden. Er stand eben, ratlos, ob er weitergehen,, ob er wieder umkehren solle, als eine Hand in gelbem Glacé seine Schulter berührte. – Da hätte ich dich endlich!
Philipp! rief Reinhold, sich wendend und seinem Vetter die Hand reichend.
Wo ist Ferdinande?
Reinhold erzählte sein Mißgeschick.
So suchen wir sie gemeinschaftlich, sagte Philipp; – ich komme aus den mittleren Sälen, da war sie nicht – vielleicht in einem der letzten.
Er hatte seine Hand in Reinholds Arm gelegt mit der Vertraulichkeit eines Vetters und guten Freundes. Reinhold fühlte sich angenehm berührt und ein wenig beschämt, da er sich bewußt war, in dem Streit zwischen Vater und Sohn bereits für den ersteren Partei genommen zu haben.
Ich freue mich aufrichtig, dich zu sehen, sagte er.
Zweifle nicht an der Aufrichtigkeit! erwiderte Philipp lachend – und will nur hoffen, daß die Freude anhält. Übrigens beanspruche ich von dem Vergnügen mindestens fünfzig Prozent für meinen Anteil. Es ist immerhin eine Chance, endlich einmal einen vernünftigen Menschen in des Alten Gesellschaft zu wissen; und der Alte hat von jeher immense Stücke auf dich gehalten – vermutlich nur, um mich zu ärgern; aber das ist mir ganz egal.
Ich bin so neu in diesen Verhältnissen, lieber Philipp –
Diplomatisch? – brauchst du mir gegenüber nicht zu sein; ich bin ein gerader, ehrlicher Kerl, der immer sein Herz auf der Zunge hat – dummer Weise! das ist's ja, was mir der Alte nicht vergeben kann. Er will die Wahrheit nicht hören; die ganze Welt soll nach seiner Pfeife tanzen, und eine schöne Welt würd' es werden – das weiß Gott!
Aber er hat sich auch bereits eine kleine Welt geschaffen; ich muß gestehen, seine Fabrik –
Ist was Rechtes! ein bißchen Glück hat er gehabt, das ist alles – ich versichere dich! Was würde ein anderer mit den Karten machen, die er in den Händen hat! Aber er weiß ja nie, was für den Augenblick Trumpf ist. Und dabei gönnt er faktisch einem andern nicht, daß er sich auf den Rummel besser versteht. Was hat er dir denn von mir gesagt?
Kein Wort – auf Ehre!
Kommt noch; aber ich warne dich, ein Wort zu glauben. Ich bin für ihn ein Egoist, ein Plusmacher, ein Gründer, ein Halsabschneider – was weiß ich! – warum? weil ich zehnmal reicher bin als er, weil ich seinen ganzen Marmorkram in die Tasche stecken kann, ohne es groß zu merken; weil ich – mit einem Worte: weil ich Erfolg gehabt habe! Na, ich tröste mich mit meinem Bismarck, den er haßt, wie die Sünde. Bismarck ist mein Mann – ich schwöre auf Bismarck – ich gehe mit Bismarck durch Dick und Dünn. Der kennt auch den Rummel – und wie!
Philipp erhob die ohnehin laute Stimme gelegentlich so, daß die Umstehenden ihn ebensogut hören konnten, wie Reinhold selbst; und auch wann er leiser sprach, glitten seine lebhaften Augen beständig über die Menge, in der er jeden Moment einen Bekannten mit einem Wink des Glacéhandschuhes, einem vertraulichen Kopfnicken, oder gelegentlichen: Wie geht's? – All right? – Morgen – Morgen! – und ähnlichen kurzen Phrasen zu begrüßen hatte.
Du kommst wohl nicht mehr in des Vaters Haus? fragte Reinhold.
Aber Philipp! – als ob es das natürlichste Ding von der Welt wäre, wenn ein Sohn nicht mehr in des Vaters Haus kommt!
Natürlich? was heißt natürlich? Ich finde es natürlich, wenn man in meinen Jahren keine Lust mehr hat, sich wie einen dummen Jungen behandeln zu lassen. Indessen, – – ich habe, wie gesagt, prinzipiell nichts dagegen; in diesem Augenblick ist mir sogar daran gelegen; verschaffe mir nur eine Einladung!
Ich will's versuchen – unter einer Bedingung!
Nun?
Daß du in meiner Gegenwart nicht auf deinen Vater schiltst.
Philipp lachte. – Du bist ein Pedant, lieber Reinhold; – in unserer Zeit darf man die Personen und die Sachen nicht mit Sammethandschuhen anfassen wollen; sonst kommt man unter den Schlitten, ehe man sich's versieht. Bismarck tut's auch nicht; der greift durch!
In der Politik ist manches erlaubt, was für das bürgerliche Leben unstatthaft wäre.
Gänzlich überwundener Standpunkt! Im Gegenteil, wir sind, Gott sei Dank! zu der Überzeugung gekommen, daß hier, wie dort, alle Vorteile gelten. Sieh' mal den kleinen schwarzen Mann da mit der großen dicken Frau! Vor zwei Jahren war er ein armer Pfuschmakler, der nicht von einem Tag auf den andern zu leben hatte. Heute ist er ein doppelter Millionär, und wenn die »jungen« Kaiser- und Königs-Hütte, die übermorgen ausgelegt werden, ziehen, schließt er noch dies Jahr mit drei Millionen ab. Die »alten« stehen 135; ich selbst bin stark engagiert und rechne auf eine Dividende von mindestens 25. Kann dich noch beteiligen, wenn du willst.
Ich wüßte nicht, womit.
Du mußt doch mittlerweile ein hübsches Geld gemacht haben.
Ich habe eine kleine Summe zurückgelegt, die ich gern behalten möchte.
Vorsicht ist die Mutter der Weisheit und – die Großmutter der Armut.
Dann bin ich ihr richtiger Enkel.
Philipp hatte mit einem Ruck seinen Arm aus Reinholds Arm gezogen, Reinhold glaubte: beleidigt durch seine letzte Bemerkung, aber es war nur gewesen, um vor der Prinzessin und ihrem Gefolge, die eben jetzt vorübergingen, Front machen und den Hut ziehen zu können. Reinhold, der durch Dazwischendrängende zurückgeschoben war, konnte, ohne selbst bemerkt zu werden, den Zug deutlich übersehen: die Prinzessin, die bald mit Else, welche zu ihrer Linken ging, bald mit Graf Golm, etwas hinter ihr zu ihrer Rechten, plauderte; sodann Damen und Herren, unter den letzteren Ottomar in eifrigem Gespräch mit einer Dame. Das Thema mußte sehr amüsant sein, denn sie lachte beständig unter der Lorgnette, die sie nicht von den Augen brachte.
Ein sonderbares Gefühl überkam Reinhold. Seine Flucht vorhin hatte in der Eilfertigkeit, mit der sie ausgeführt werden mußte, etwas Komisches gehabt, und er selbst hatte hinterher herzlich gelacht. Jetzt konnte er nicht lachen. Inmitten der frontmachenden, ehrfurchtsvoll grüßenden Menge fühlte er den gesellschaftlichen Abstand zwischen ihm selbst und der jungen Dame an der Seite der Prinzessin ganz anders, als zuvor. Er gehörte eben zur Menge – nicht, wie sie, zu den Auserwählten – sie und – Graf Golm!
Hatte er die Rückreise gemeinschaftlich mit ihr gemacht? war er nachgereist? – gleichviel – ein Graf Golm brauchte eben nur zu kommen!
Er wandte sich mit einem heimlichen Seufzer und erblickte dicht hinter sich Ferdinande. Sie sah ihn nicht; ihre Augen waren, wie die aller, auf die Prinzessin-Gruppe gerichtet mit einer sonderbaren Starrheit, die durch bloße Neugier kaum erklärbar schien. Es lag wohl noch der Unmut, solange allein gewesen zu sein, auf dem schönen, verdüsterten Gesicht.
Ferdinande!
Sie fuhr, wie aus einem Traum erwachend, zusammen. Eine tiefe Glut hatte sich über ihre Wangen ergossen; Reinhold entschuldigte sich, so gut er konnte; Philipp trat herzu.
Habt ihr sie gesehen? wunderschöne Frau – schwärme für sie! Die kleine Werben scheint ja fabelhaft liiert mit ihr – der Kavalier an der andern Seite, höre eben, Graf Golm – grand seigneur, aber verschuldet bis über die Ohren – hat jetzt Gelegenheit, sich zu retten, wenn er klug ist; – werden, hoffe ich, in nächster Zeit ein Geschäft in großem Stil zusammen machen – kannte ihn noch nicht persönlich – seine Unterschrift war mir desto bekannter. – Und hast du den jungen Werben gesehen, Ferdinande? – mit dem Fräulein von Wallbach, – soll ja jetzt richtig sein – keine schlechte Partie – sie ist so einhunderttausend schwer, und ihr Bruder, der ihr Vermögen verwaltet – er war auch dabei – der da, Reinhold, mit dem halbkahlen Kopf – ist ein geriebener Junge, und der junge Werben selbst – na – in diesem Augenblick ein etwas unsicheres Papier, aber kann vielleicht noch sehr steigen.
Wollen wir gehen? sagte Ferdinande.
Sie schritt, ohne die Antwort der Herren abzuwarten, voran, zu Reinholds gelindem Schrecken dicht vorüber an der Prinzessin und ihrer Gruppe. Die Prinzessin war abermals stehen geblieben, andere höchste Herrschaften, die eben gekommen waren, zu begrüßen. Ihre Begleitung war ein wenig zurückgetreten und führte unter sich eine leise Unterhaltung. So durfte er hoffen, unbemerkt durchzuschlüpfen; aber gerade in dem Moment, wo er vorüberging, streifte ihn Elses Blick, und sie nickte ihm so freundlich, ja herzlich zu, daß Graf Golm, dadurch aufmerksam geworden, sich halb wandte und ihn sicher erkannte, obgleich seine hellen Augen, anstatt zu grüßen, nur ein wenig zwinkerten und alsbald wieder eine andere Richtung nahmen. Darüber hatte Reinhold nicht bemerkt, daß Ottomar, der sich ebenfalls umgewandt hatte, sich vor Ferdinande, deren Kleid ihn streifte, mit einer gewissen gleichgültigen Höflichkeit verbeugte, um dann sofort das unterbrochene Gespräch mit Fräulein von Wallbach aufs eifrigste fortzusetzen, während Ferdinande die Verbeugung mit einem starren, leeren Blick beantwortete.
Aber den Augen eines andern war von der kleinen Szene nichts entgangen: den schwarzen, glänzenden, funkelnden Augen des schönen jungen Mannes, der vorhin schon das Rendezvous der beiden in der Galerie aus der Ferne beobachtet. Er hatte jetzt in unmittelbarster Nähe an der dunklen Wand des Saales, an einen der Mauerpfeiler gedrückt, gestanden und trat nun rasch hervor und an die Weggehenden heran.
Gott sei Dank, daß ich Sie endlich finde, Signora, sagte er mit seiner weichen Stimme, die, wie es schien, vor atemloser Eile ein wenig zitterte. – Ich suche Sie überall, Ihnen zu sagen, daß Signor Anders Sie unten nicht länger hat erwarten können. Er hat notwendig zu einer Konferenz gemußt, die auf zwei Uhr angesetzt war.
Desto besser, erwiderte Ferdinande, – ich wollte eben vorschlagen, nach Hause zu fahren.
Schade! sagte Philipp, – hätte gern euer Urteil über einen wundervollen Bacchusknaben von Müller gehört; freilich, Anders hat seinen Satyr auch noch nicht verkauft. Schwanke noch zwischen beiden – kaufe vielleicht beide, und deinen Hirtenknaben dazu, Ferdinande! wirst hoffentlich einen zivilen Preis stellen.
Gehen Sie mit uns, Antonio? fragte Ferdinande ungeduldig.
Ich möchte noch etwas bleiben, erwiderte der Italiener zögernd.
Nun, dann kommt! – addio, Signor Antonio!
Addio, Signora!
Der Italiener war in der Tür zwischen dem zweiten und dem Uhr-Saale stehen geblieben; seine schwarzen Augen verfolgten die Davonschreitenden, bis sie in dem Ausgang verschwunden waren. Dann wandten sie sich in den zweiten Saal zurück und blieben mit einem Ausdruck tödlichen Hasses auf Ottomar haften.
Jetzt weiß ich, von wem die Briefe sind, in denen sie so viel liest! – Du sollst es bezahlen – per bacco! murmelte er durch die weißen Zähne.