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Hier hatte sich inzwischen das Publikum womöglich noch vergrößert. Außer der Prinzessin Heinrich August waren noch mehrere fürstliche Herrschaften mit ihrem Gefolge erschienen, für die unter allen Umständen Platz geschafft werden mußte. So staute sich denn die neugierig-schaulustige Menge an manchen Punkten dergestalt, daß kaum noch eine Bewegung möglich war.
Das war auch in dem letzten, dem sogenannten Aktsaale der Fall. Zwei Damen hatten sich auf eines der wenigen Sofas geflüchtet, deren die Ausstellung sich rühmen konnte. Neben ihnen stand ein Herr, dessen zerstreute und abgespannte Miene deutlich genug verriet, wie gern er sich ebenfalls gesetzt hätte. Er trat von einem seiner Füße auf den andern und warf von Zeit zu Zeit einen verdrießlichen Blick auf die beiden Damen hinab, von denen die eine, die ein paar Jahre älter als die andere zu sein schien, aber trotz ihrer etwas zu großen Fülle die schönere war, gelangweilt in der Ecke lehnte, während die jüngere, schlankere unermüdlich die Lorgnette, die ihr nicht von den Augen kam, bald nach dieser, bald nach jener Seite wandte.
Wenn ihr euch ausgeruht habt, dächte ich, gingen wir, sagte der Herr.
Ich sehe keine Möglichkeit fortzukommen, erwiderte die korpulente Dame, ohne ihre bequeme Stellung zu ändern.
Es ist ja unglaublich interessant, sagte die andere; – unglaublich. Wer ist denn der Herr dort, Eduard?
Die Lorgnette hatte wieder eine andere Richtung genommen.
Welcher Herr?
Der dort – vor dem Porträt des Kaisers – mit dem dunkelblonden Schnurrbart und der frischen Farbe – ein Landedelmann ohne Zweifel – mir deucht, ich hätte ihn schon gesehen.
Mein Gott, das ist ja Golm! rief der Herr, aus seiner Gleichgültigkeit aufwachend.
Richtig, Graf Golm! sagte die Dame. – Das ist ja unglaublich interessant! bring' ihn gleich einmal her, Eduard!
Aber der Graf hatte die Gruppe bereits bemerkt und kam mit großer Lebhaftigkeit auf sie zu, dem Herrn, der ihm ein paar Schritt entgegengegangen war, beide Hände hinreichend.
Mein lieber Wallbach! wie freue ich mich, Sie zu sehen!
Seit wann sind Sie hier?
Seit gestern abend – wollen Sie mich Ihren Damen vorstellen?
Meine Frau – meine Schwester Carla –
Ich hatte allerdings bereits vor zwei Wintern die Ehre – indessen –
O, man hat ein besseres Gedächtnis in Berlin, als Sie uns zuzutrauen scheinen, Graf! rief Carla, – besonders für Herren, die sich so selten machen. – Weshalb hat man Sie denn den letzten Winter nicht gesehen?
Ich war in Italien, meine Gnädige, und Paris.
O, das liebe, liebe Paris! wir sind seit einer Ewigkeit nicht da gewesen – das letzte Mal in dem Jahre vor dem Kriege – es soll sich gar nicht verändert haben – mir unglaublich. Damals der glänzende Hof, und jetzt – c'est désolant! – Aber setzen Sie sich doch zu uns – es ist noch Platz, wenn wir zusammenrücken.
Carla strich ihre unendliche Schleppe zurück.
Ich muß fürchten, die Damen zu derangieren, sagte der Graf, setzte sich dann aber doch in die ihm freigemachte Ecke, während Herr von Wallbach einen verzweifelten Blick auf seine Lackstiefel warf.
Wir haben in diesen Tagen unglaublich viel von Ihnen gesprochen, sagte Carla. – Die liebe Else! sie ist ja ganz entzückt von Golmberg – es muß ja das reine Paradies sein! Ist Else nicht entzückend? Wir verwöhnen sie hier alle, sagt Ottomar, der sie selbst am meisten verwöhnt.
Wer ist Ottomar, wenn man fragen darf?
Herr von Werben! sagte Wallbach mit einem mißbilligenden Blicke auf Carla; – der Leutnant –
Ah! der heißt Ottomar! sagte der Graf.
Unsere beiden Familien sind so liiert, sagte Herr von Wallbach; – mein armer Bruder, wissen Sie, fiel vor Paris an Herrn von Werbens Seite –
Gewiß, gewiß – ich erinnere mich, sagte der Graf, der keine Ahnung von dem Umstande hatte.
Und das hat unsere Intimität natürlich noch erhöht, sagte Carla; man schließt sich ja im Unglück immer enger aneinander – und sie strich die bauschige Robe noch etwas mehr zusammen.
Freilich! freilich! sagte der Graf – im Unglück und – im Glück.
Sie sind ein Philosoph! ich schwärme für die Philosophie – Schopenhauer hat mir eine unglaubliche Freude gemacht – finden Sie Hartmann nicht auch entzückend?
Wer ist das nun wieder? dachte der Graf, und laut sagte er: Gewiß – das heißt –
Dann kennen Sie ihn nicht – ich meine: nicht gründlich – ich weiß ihn auswendig. Es gibt in diesem Moment nur drei Männer, die man studieren und immer wieder studieren muß: Bismarck, Hartmann und Wagner: die Politik der Gegenwart, die Musik der Zukunft, vermittelt durch die Philosophie des Unbewußten – da haben Sie die Signatur des Jahrhunderts.
Ich bin höchst neugierig, Herr von Werben kennen zu lernen, sagte der Graf, um in dem Gespräch wieder Boden zu gewinnen.
Quand on parle du loup – mon Dieu! er sieht heut wahrlich wie ein Wolf aus! rief Carla, deren stets geschäftige Lorgnette Ottomar entdeckt hatte, der eben in den Saal trat, den Zorn und den Unmut über Ferdinandes vermeintliche Flucht noch in den verstörten Mienen und verdüsterten Augen.
Er wird dich gesucht haben, Carla! sagte Frau von Wallbach, zum ersten Male den Mund öffnend.
Aber so affichiert doch eine Sache nicht so ungeniert, die noch gar nicht feststeht! raunte Herr von Wallbach ihr ins Ohr.
Nun wieder einmal nicht? sagte Frau von Wallbach in gleichgültigem Tone.
Herr von Wallbach zuckte mit den Achseln, trat dann aber mit lächelnder Miene Ottomar entgegen, der inzwischen über die den Weg kreuzenden Schleppen sich glücklich bis zu der Gruppe am Fenster durchgearbeitet. – Sieh da, lieber Werben! Wir haben Sie lange erwartet!
Bitte um Verzeihung, sagte Ottomar; – habe Elsen verloren – halbe Stunde lang gesucht – seien Sie mir nicht bös, gnädige Frau, und Sie, Fräulein Carla!
Guten Morgen! sagte Carla, ohne die Lorgnette von den Augen zu nehmen. – Wer ist doch das, Luise? Frau von Elmar? am Arm ihres Mannes! nicht möglich!
Ottomar hatte während der drei Tage, die er auf der Jagd gewesen, nicht eine Zeile geschrieben – er mußte dafür abgestraft werden. Und dann war es selbst ihr, seitdem ihr Verhältnis mit dem glänzenden Gardeoffizier bekannt war, schwer geworden, die andern jungen Männer in derselben Weise wie früher an sich zu fesseln. Der Graf kam frisch vom Lande und konnte schon ein paar Tage die ihm im Notfalle zuzuweisende Rolle spielen. – Lieber Graf!
Meine Gnädige!
Der Graf, den Herr von Wallbach eben mit Ottomar bekannt machte, wandte sich.
Sehen Sie, Graf! die junge Dame dort in dem reizenden blauen Kostüm – das ist Frau von Elmar – dieselbe, die vor zwei Wintern die Affäre mit Graf Wolkonski hatte, dem Attaché der Russischen Gesandtschaft. – Sie kennen die Geschichte nicht? Die müssen Sie kennen! Setzen Sie sich wieder her zu mir!
Ich dächte, wir gingen jetzt! sagte Herr von Wallbach.
Einen Augenblick! sagte Carla.
Herr von Wallbach zuckte die Achseln. Er fand Carlas Spiel, das er vollständig durchschaute, sehr deplaciert; Ottomars Gesicht war schon finster genug, so finster in der Tat, daß er ein Wort der Entschuldigung sagen zu müssen glaubte: Sie ist und bleibt ein Kind! flüsterte er mit einem bezeichnenden Blick auf Carla. – Sie dürfen ihr nicht bös sein.
Ich bin ihr nicht bös.
So haben Sie anderweitigen Verdruß gehabt, fuhr Wallbach fort, Ottomar etwas auf die Seite ziehend; – Sie sollten wirklich auf eine Zeit von Berlin fort; das faule Friedensleben ist nichts für Sie. Auch habe ich gestern erst wieder mit dem Minister gesprochen; er trägt Ihnen seine Differenzen mit dem Vater nicht nach. Im Gegenteil! er wünscht, daß Sie den Posten annehmen; nur wünscht er – aus Gründen – gerade dort keinen unverheirateten Attaché. Sie sehen, lieber Werben, ich bin offen – das kann Sie ja nicht beleidigen. Seien Sie es auch, und machen Sie Ernst! Glauben Sie mir: uns allen wird wohler und behaglicher sein: Ihnen – Carla – mir. Sie können uns nicht verdenken, wenn wir schließlich etwas ungeduldig werden.
Ich – ich bin selbst ungeduldig genug.
Dann wären wir ja d'accord! wenn es Ihnen also recht ist – still! die Heinrich August!
Die Prinzessin war, von der Gruppe am Fenster nicht bemerkt, in den Saal getreten und bereits bis in die entgegengesetzte Ecke gelangt, und kam jetzt, indem das Publikum ehrerbietig zurücktrat, die Bilder flüchtig musternd, auf sie zu, dabei halb über die Schulter sich wendend, fortwährend mit Elsen plaudernd. Die Gruppe um das Sofa hatte sich eiligst erhoben und geordnet und verneigte sich tief.
Da haben wir sie ja alle beisammen, sagte die hohe Frau mit liebenswürdiger Freundlichkeit. – Hier, Sie ungetreuester der Brüder, haben Sie Ihre Schwester – die Gesellschaft, in der wir Sie finden, entschuldigt Sie freilich. – Wie geht's, liebe Carla? Sie haben sich ja seit drei Tagen auf der Promenade nicht sehen lassen. Mir fehlt immer etwas, wenn Sie nicht einmal auf Ihrem Rappen an meinem Wagen vorübertanzen. Aber er ist ja auch Ihnen ungetreu gewesen – auf der Jagd – die Herren sind immer auf der Jagd – hüten Sie sich vor ihm! – Sie sollten auch reiten, liebe Wallbach! – es täte Ihnen gewiß gut; meine Töchter fangen nächstes Jahr an; ich ritte selbst noch, wenn – ach! Graf Golm! Was führt Sie von Ihrer himmlischen Insel in die staubige Stadt? Freilich, auch hier blühen Rosen! Fräulein von Werben hat mir das Abenteuer erzählt, das sie nach Golmberg geführt – der reine Roman! ich sage ja immer: truth is stranger than fiction. – Werden Sie länger hier verweilen, lieber Graf? Sie müssen mir das sagen. Ich interessiere mich so für Ihre Insel, auf der ich im vorigen Herbst acht schöne Tage verlebte. Wie geht es Fürst Prora? Ihr Schlößchen auf Golmberg soll ja noch schöner liegen, als sein berühmtes Jagdschloß? – Vielleicht begleiten mich die Herrschaften ein wenig. Bleiben Sie in meiner Nähe, liebe Else! – Also wie lange, lieber Graf?
Die Prinzessin schritt weiter. Der dichte Halbkreis, der in ehrerbietiger Entfernung der Unterhaltung der hohen Frau mit der Gruppe am Fenster wenigstens zugeschaut hatte, da das Zuhören leider nicht möglich war, öffnete sich und breitete sich dann wieder über den Saal aus in gesprächigen Gruppen:
Doch wunderschöne Frau!
Wer waren die Herrschaften, mit denen sie sich so lange und so gnädig unterhielt?