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Reinhold hatte aus den wenigen kurzen Briefen, die er während dieser zehn Jahre aus dem Hause seiner Verwandten erhalten, so viel herausgelesen, daß Onkel Ernsts Geschäft mindestens nicht schlecht gegangen sein könne. – Die gewählte Toilette Ferdinandes, die stattliche Equipage, in der sie mit donnernder Eile durch die langen, menschenwimmelnden, abendlichen Straßen gerollt waren, ließen ihn vermuten, daß der Onkel mittlerweile ein wohlhabender, wenn nicht reicher Mann geworden sein müsse, und der Eintritt in das Haus bestätigte vollauf diese Vermutung. Die breiten Marmorstufen, vor denen der Wagen – in dem Hausflur selbst – still gehalten; das von dem Hausflur durch eine Glastür getrennte quadratische Treppenhaus, in dem wiederum eine mit Läufern belegte Marmortreppe in drei Absätzen auf die Gallerie führte, die an zwei Seiten des Treppenhauses hinlief und von der sich verschiedene Türen zu den Wohnräumen öffneten; das Gastzimmer in dem oberen Stock, in das ihn der Onkel selbst geleitet hatte, mit der Bitte, es sich hier bequem zu machen und hernach zum Abendbrot herunterzukommen – alles und jedes war aus dem Ganzen und Vollen: reich ohne Prunk, geschmackvoll sogar, aber doch, wie es Reinhold vorkam, ohne eigentliche Behaglichkeit – umgeben von einem kühlen Hauch, meinte er und fügte dann sogleich hinzu, daß dieses Gefühl wohl eine Einbildung sein werde, Folge einer Stimmung, wie sie so leicht den überkommt, der ohne rechte Vorbereitung in neue Verhältnisse tritt, in denen er sich nun in aller Eile zurechtfinden soll, unter Menschen, die uns keineswegs ganz fremd, aber auch nicht so bekannt sind, daß wir nicht in jedem Augenblick auf einen fremden, ja befremdenden, weil unerwarteten, unverhofften, vielleicht unerwünschten Zug gefaßt sein müßten.
Aber das ist denn doch schließlich überall und immer im Leben so, sprach Reinhold bei sich, während er die letzte Hand an seine Toilette legte, – und wenn du es noch nicht wußtest – die letzten Tage hätten dich darüber belehren können. Wie viel Unerwartetes, Unverhofftes haben sie dir gebracht! Und nun eben wieder! Ein hübscher, von den Strapazen der Jagd und zu reichlich genossenem Wein ermüdeter junger Mann, der eine Stunde lang schläft, um in der letzten Minute sich als dein Kriegskamerad und als ihr Bruder zu enthüllen! Das ist wie in einem Roman, und geht doch alles mit so natürlichen Dingen zu! Und daß sie in der nächsten Nähe wohnt, daß die Baumwipfel, die da zwischen den Giebeln der Gebäude ragen, vielleicht schon zu ihrem Garten gehören, daß ich sie, die ich nie wieder zu sehen hoffen durfte – Reinhold! keine Lüge! du hast diese Hoffnung immer gehabt, und ganz gewiß, als du vorgestern zum letztenmal in ihre Augen blicktest! Aus den lieben schönen Augen dämmerte dir ein Hoffnungsstrahl, und der soll nicht erlöschen, der kann nicht erlöschen, wenn sie auch hier im Hause wenig Sympathien mit deinen aristokratischen Neigungen haben dürften – es müßte denn Tante Rikchen sein.
Onkel Ernsts Schwester war ihm mit offenen Armen entgegengeeilt und hatte ihn wieder und wieder umarmt mit einem Überschwang von Empfindung, die sich in reichlichen Tränen und Ausrufungen nicht genug tun konnte und einen wunderlichen Gegensatz bildete zu der gehaltenen Rührung, mit der ihr Bruder ihn empfangen. Auch hatte Onkel Ernst dieser Szene mit einem kurzen, barschen: Wenn du dich ausgeweint hast, Rike, möchte ich Reinhold auf sein Zimmer führen, schnell ein Ende gemacht; worauf denn die Tante eine letzte Umarmung benutzte, Reinhold zuzuflüstern: Er nennt mich noch immer Rike! aber für dich bin ich Tante Rikchen! nicht wahr?
Arme alte Tante! denn sie ist recht alt geworden, die gute Dame, obgleich sie, sollte ich meinen, jünger ist, als ihr stattlicher Bruder! das Verhältnis zwischen beiden hat sich also im Laufe der Jahre nicht verbessert: er nennt sie noch immer Rike! Dafür werden sie wohl in trautester Gemeinschaftlichkeit meine schöne Cousine verziehen.
Reinhold machte ein paar Striche mit dem Kamm durch seinen Bart und strafte sich dann für diese Eitelkeit und gröbliche Verletzung der Liebe und Treue, die er Elsen von Werben zugeschworen, indem er mit der Hand das Arrangement wieder zerstörte – aber nur »moderiert«, wie sie im Kriege sagten – sprach er lächelnd bei sich, als er sich die Seitentreppe hinab in das Speisezimmer begab, wo Onkel Ernst und Ferdinande ihn bereits erwarteten.
Rike kann natürlich nicht zur rechten Zeit kommen, sagte Onkel Ernst.
Tante ist in der Küche, sagte Ferdinande.
Natürlich ist sie irgendwo; nur daß sie nie da ist, wo sie sein sollte.
Ich bitte um Entschuldigung, sagte Tante Rikchen, die jetzt hereintrat und sich eiligst nach ihrem Platz begab, um unterwegs wieder stehen zu bleiben und sich am Büffet zu schaffen zu machen.
Werden wir heute noch zum Sitzen kommen? sagte Onkel Ernst.
Gleich, gleich! sagte Tante Rikchen.
Der große runde Tisch war nur mit vier Kuverts belegt. Reinhold hatte gehofft, jetzt auch seinen Vetter Philipp begrüßen zu können, nach dem er in dem ersten Durcheinander der Fragen und Antworten sich zufällig noch nicht erkundigt hatte. So tat er es denn jetzt.
Er hatte die Frage an Ferdinande gerichtet.
Philipp kommt selten, erwiderte sie.
Sagen wir: er kommt gar nicht.
Reinhold blickte erstaunt den Onkel an, der diese Worte mit verdrießlicher Miene in einem herben, rauhen Ton gesagt hatte. Dafür glaubte er in den Gesichtern der beiden Frauen einen ängstlich-verlegenen Ausdruck wahrzunehmen; er hatte offenbar eine Saite berührt, die einen schrillen unharmonischen Klang durch die Familie gab.
Die Mahlzeit fängt gut an, dachte Reinhold, indem er zwischen dem Onkel und der Tante, Ferdinande gegenüber Platz nahm.