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Neuntes Kapitel

Die Tür war ins Schloß gefallen, die Schritte der Fortgehenden verhallten – Ferdinande hatte sich noch nicht aus der Stellung bewegt.

Una principessa! – murmelte sie – er ist der einzige, der mich versteht. Was hilft es mir, von ihm verstanden zu sein! wenn er ein principe wäre! und doch: es ist köstlich, sich so geliebt zu wissen – köstlich und – gefährlich! Er beobachtet mich auf Tritt und Schritt – keine meiner Mienen entgeht ihm – aber gestern abend scheint er wirklich nicht zu Hause gewesen zu sein – er weiß noch nicht, daß ich schon nichts mehr wage, wenn er in der Nähe ist.

Sie ließ sich auf einen Sessel sinken und nahm aus dem Busen den Brief, den er ihr gestern abend über die Gartenwand geworfen. Sie kannte ihn bereits auswendig; aber so sah sie doch wenigstens die Züge der geliebten Hand.

»Warum hast Du keinen Versuch gemacht, mich wissen zu lassen, daß Du auf dem Bahnhof sein würdest? Du konntest ganz sicher an Schönau schreiben; jetzt war es ein Zufall, daß ich mit dem Zuge kam, ein Zufall, daß ich Deinen Vetter im Coupé kennen lernte – wie können wir weiter kommen, ja, wie können wir auch nur diese traurige Existenz weiter fristen, wenn wir alles dem Zufall überlassen? wenn wir unser Glück nicht dem grausamen Schicksal durch unsere Kühnheit abtrotzen? – Nun mußte ich unter dem Vorwand, Dich aufsuchen zu wollen, Hals über Kopf aus dem Coupe stürzen, und wie leicht hätte ich Dich gar nicht, oder mit Deinem Vater zusammen finden können – so wäre die Gelegenheit wieder einmal verloren gewesen. Ich hoffe, es soll jetzt ein wenig besser werden. Dein Vetter ist, wie er mir erzählte und wie mir eben meine Schwester bestätigte, unterwegs mit ihnen bekannt geworden – hat sich der Gesellschaft vielfach nützlich erwiesen – meine Schwester spricht mit großer Wärme von ihm, versichert, daß der Papa enchantiert sei. Er wird zweifellos kommen, dem Vater sich vorzustellen – andernfalls komme ich, dem »Kameraden« für die Dienste, die er den Meinigen geleistet, zu danken – in Elses und des Papas Auftrag – oder auch ohne Auftrag – laß mich nur machen! das gibt immer eine Anknüpfung, die uns sehr vorteilhaft werden kann, um so mehr, als Dein Vetter ein bequemer Mensch scheint, mit dem nicht viel Umstände nötig sind. Stelle Dich nur gut mit ihm und nutze »den Vetter« aus zu Spaziergängen, Konzerten, Theater – Kunstausstellung – à propos! laß Dich morgen – glänzender Einfall! – auf die Ausstellung führen! ich habe nur bis 12 Uhr Dienst; also vielleicht um halb eins – werde Elsen persuadieren, die schon den Wunsch ausgesprochen. Kann Dich ihr bei der Gelegenheit vorstellen – darf es ja, nachdem wir gestern offiziell miteinander bekannt geworden – rechne also mit Bestimmtheit darauf – schreibe diese Zeilen wie gewöhnlich in fliegender Eile während der paar Minuten, die ich mich vom Teetisch wegstehlen konnte – verzeihe die Kritzelei – ich küsse Deine schöne Hand – in Gedanken – wie neulich, als Du sie mir über die Gartenwand reichtest – zum ersten Male – nicht zum letzten! ich schwöre es Dir! –«

Sie ließ den Brief in den Schoß sinken. – Und kein Wort vom Vater! kein Wort, welches darauf hindeutet, daß es ihm Ernst, heiliger Ernst ist; daß er wenigstens einen Versuch machen will, uns aus diesem schmachvollen Zustande zu erlösen! – Und er wußte doch noch nichts von der Szene gestern abend!

Sie knitterte das Papier mit der Rechten, die darauf ruhte, zusammen und glättete es im nächsten Moment wieder mit beiden Händen und bedeckte es mit Küssen, faltete es sorgfältig, verbarg es wieder in dem Busen und lehnte dann die heiße Stirn auf die Marmorplatte des Tischchens:

Una febbre che mi divora – murmelte sie; – il sangue mi abbrucia – il cervello mi si spezza – sono stanca de questa vita!

Ja, ja, rief sie, aufspringend – ich bin dieses Lebens müde, das kein Leben ist – ein elendes Scheinleben nur – ein Tod vor dem Tode – ja schlimmer: ein lebendiges Begrabensein! Ich will ihn sprengen, diesen fürchterlichen Sargdeckel – oder mich erwürgen mit meinen eigenen Händen!

Sie irrte durch das weite Gemach, die Hände ringend, schluchzend, sich hier in einen Sessel werfend und düster vor sich hinstarrend, dann wieder aufspringend und wieder umherirrend mit verzweiflungsvollen Gebärden. – Der laute Ton der großen Glocke ließ sie für einen Moment aufhorchen: sie wußte, es war etwas ganz Außergewöhnliches – ein großes Unglück vermutlich, das sich ereignet: ein Kessel, der gesprungen, eine Maschine, deren Sägen sich verbogen und die nun die Wand, in der sie befestigt, herausgerissen und zertrümmert, wie vor einigen Monaten – ein Feuer vielleicht – was ging es sie an, ob Menschen verstümmelt und getötet, ob alles niederbrannte? – irrte sie denn hier nicht umher, zerbrochen und gelähmt an Seele und Leib, auf den Trümmern eines Glücks, das nur in ihren Träumen vollendet dagestanden? – eine Verzweifelte, der ein härenes Gewand ziemte und Asche auf das Haupt – ihr Haupt, das sie einst so stolz getragen – wie der Vater! Er war an allem schuld! – Das Tischtuch zerschnitten zwischen ihm und – ihr! Er wußte es noch nicht; aber die Stunde mußte kommen – bald – heute noch – wenn es nach ihr ging – und was dann?

Sie hatte die ganze Nacht über dieser Frage schlaflos gelegen; sie hatte über diese Frage den ganzen Morgen gegrübelt: was dann? was dann?

Wie konnte sie darauf allein eine Antwort finden, ohne ihn? und er – er! Hatte er heute nacht, als sie ihm über die Gartenwand die Szene bei Tisch in fliegenden Worten erzählte, das eine geantwortet, was sie erwartete: so müssen wir ohne die Einwilligung unserer Väter auszukommen suchen? Nichts hatte er geantwortet, keine Silbe! und durch sein Schweigen bestätigt, was ihr das Fürchterlichste, das eigentlich Fürchterliche und Entsetzliche war: daß er nicht zum letzten, nicht zum Äußersten entschlossen sei, daß er sie nicht liebe, wie sie ihn!

Was half ihr da ihr Mut, ihre Entschlossenheit? Dagegen war sie machtlos! sie!

Sie blieb vor dem Spiegel stehen, an dem sie eben vorüberschritt; sie betrachtete ihr Gesicht, ihre Gestalt, als wäre sie selbst das Modell, das sie sich für morgen bestellt und das sie daraufhin prüfte, ob es wohl den Anforderungen genüge. – War sie denn wirklich so schön, wie sie alle sagten? Hatte der große französische Bildhauer recht, der Justus im vorigen Jahre besuchte und von ihrem Anblick, wie vom Blitz getroffen, dagestanden und dann ausgerufen, er habe, bis er sie gesehen, nie geglaubt, daß die Natur eine so vollkommene Gestalt hervorbringen könne? – Aber auch Antonio war ja schön! schön wie ein Traum, und sie liebte ihn doch nicht! Und nun gar er, der nicht einmal Künstler war! sollte ihn die Schönheit allein so zu fesseln vermögen, daß er die Vorurteile seiner Familie, seines Standes, seine Stellung in der Gesellschaft, daß er alles aufgab – wofür? – Eine Frau fragt danach nicht, wenn sie liebt – sie rechnet nicht, sie marktet nicht – sie liebt und gibt willig, freudig alles, alles, was sie zu geben hat – sich selbst!

Sie lehnte sich in den Fauteuil zurück, drückte ihre Locken in die Kissen und schloß die Augen. Er weiß nicht, wie glühend ich ihn lieben, wie ich ihn mit Küssen ersticken würde, murmelte sie, und doch – wie lautete es? – Der einzige Zauber, dem ein Mann nicht widerstehen kann, dem er unbedingt folgt – – und seine Dankbarkeit dafür, die im Grunde wieder nichts als Erinnerung und Sehnsucht – –

Es war ein französischer Roman gewesen, aus dem sie diese traurige Weisheit geschöpft – kein gutes Buch, und sie hatte es nicht zu Ende gelesen. Aber diese Sätze, die sie nicht einmal in ihrem Selbstgespräch sich ganz zu wiederholen wagte, waren in ihre Seele gefallen, wie Feuerflocken, die weiter sengten und brannten – in ihrer Seele, in ihren Wangen, in den geschlossenen Augen, in den hämmernden Pulsen der Schläfen – Luft! Luft! –

Sie sprang empor und griff ins Leere, wie ein Ertrinkender. – Ich bin verloren! schrie sie – ich bin verloren – verloren!

Ein Pochen an der Tür, das schon ein paarmal von ihr überhört war, erschallte lauter. Sie ließ die Arme sinken, warf einen Blick durch den Raum, griff nach dem Busen, wo der Brief verborgen war, strich sich mit beiden Händen über Haar und Stirn und Augen und Wangen: Herein!

Ich fürchte, dich zu stören, sagte Reinhold, in der geöffneten Tür stehen bleibend.

Komm nur herein und schließ die Tür!

Es war die Ferdinande von gestern abend mit der halb gleichgültigen, halb finstern, undurchdringlichen Miene und der tiefen, klanglosen, müden Stimme.

Reinhold tat, wie ihm geheißen; sie legte die Modellierhölzer, die sie im letzten Augenblick auf gut Glück ergriffen, wieder auf das Tischchen und reichte ihm die Hand: Ich habe dich längst erwartet.

Auch wäre ich viel früher gekommen, erwiderte Reinhold, – aber ein hübscher junger Mensch nebenan, den ich bei der Toilette gestört zu haben schien –

Antonio – ein Italiener – Herrn Anders' Gehilfe –

Konnte oder wollte mir keine Auskunft geben. Dann habe ich die Fabrikräume und den Hof durchstreift, deinen Vater zu suchen und – hast du das Läuten nicht gehört?

Nein –

Reinhold blickte verwundert auf; seine Seele war noch ganz erfüllt, sein Herz bebte noch von dem, was er eben gesehen, gehört – der eherne Klang der Glocke hatte Tante Rikchen aus dem Vorderhause aufgeschreckt, in das er sie eben, halb nur beruhigt, zurückgeschickt; die Dienstleute waren herbeigelaufen und hatten, ängstlich blickend, in der Ferne gestanden; die blinde Cilli war aus der Tür getreten, er hatte ihr im Vorübergehen ein paar freundliche Worte gesagt – und hier – fünfzig Schritte entfernt – die eigene Tochter hatte nichts gehört –

Lebt ihr denn, ihr Künstler, in einer Welt für euch? fragte er verwundert, – und er erzählte, was sich ereignet. – Ich fürchte, sagte er zuletzt, die halbe Fabrik wird still stehen; der Onkel wird einen immensen Verlust haben, denn es sind lauter Lieferungsaufträge, wie mir die Leute vorhin sagten; der Himmel mag wissen, wie die nun fertig werden sollen.

Was kümmert das den Vater, erwiderte Ferdinande, während ein bittres Lächeln ihre Lippen kräuselte; – mag doch die Welt zugrunde gehen, wenn er nur seinen Willen durchsetzt! – Du kennst den Vater nicht ganz, fuhr sie ruhiger fort, – wir andern sind leider an dergleichen zu gewöhnt; wir wissen es nicht anders, als das wir auf einem Vulkan wohnen. Wollten wir jedesmal, wenn es stürmt, die Arbeit im Stiche lassen – wir würden niemals zur Ruhe oder gar zu Ende kommen.

Sie hatte die große Schürze abgebunden; Reinhold war vor ihre Arbeit getreten.

Wie findest du es? fragte Ferdinande.

Sehr schön, erwiderte Reinhold mit aufrichtiger Bewunderung; aber ich wollte, es wäre weniger schön, wenn es um ebensoviel heitrer wäre. Der Zug um den Mund, der Blick der von der Hand beschatteten Augen, der ganze Ausdruck in dem sonst so lieblichen Gesicht – scheint mir nicht recht in Übereinstimmung mit der friedlich-ländlichen Beschäftigung, die durch die Sichel und das Ährenbüschel angedeutet ist. Als ich hereintrat, glaubte ich ein Mädchen zu sehen, das nach dem Geliebten ausspäht; jetzt späht sie noch – aber wehe ihm, wenn er kommt! er mag sich vor der Sichel hüten! Habe ich recht?

Vollkommen, erwiderte Ferdinande, – und jetzt freue ich mich doppelt darauf, mit dir in die Ausstellung zu gehen. Wer so feinsinnig eine Dilettantenarbeit zu beurteilen weiß, mit dem muß es ein Genuß sein, die Werke wahrer Künstler zu betrachten.

Sie stand in der Tiefe des weiten Raumes und ließ aus einem Hahn in der Wand Wasser über ihre Hände in ein Waschbecken laufen: entschuldige, sagte sie, – aber das ist nun einmal bei uns nicht anders. – Übrigens – wie hast du geschlafen?

Vortrefflich, nachdem ich erst einmal eingeschlafen war – ich war ein wenig aufgeregt.

Mir ist es ebenso gegangen – ich mußte sogar noch eine lange Promenade im Garten machen, um mich zu beruhigen. Darf ich es gestehen? – ich schämte mich über des Vaters Heftigkeit in deiner Gegenwart, der du ihn doch nicht nach dieser Seite kanntest und nicht wußtest, daß er außer sich geraten kann über ein wirkliches Nichts. Das beste dabei ist, daß er diese Schlachten nur in der Phantasie auskämpft, und zum Beispiel, wenn der Sohn des Mannes, dessen bloßer Name – der Himmel mag wissen, warum – ihn in solche Wut versetzte – wenn Herr von Werben dich zu besuchen käme und der Vater ihm begegnete, er die Höflichkeit selber sein würde. Ich sage dir das, weil ich annehme, daß du den Verkehr mit den Werbens ja doch nicht wirst vermeiden können und du dir die Situation auch nicht schwieriger denken darfst, als sie in Wirklichkeit ist. Ja, ich bin überzeugt, hätte ich gestern auf dem Bahnhof aus übertriebener Ängstlichkeit die Vorstellung nicht verhindert, und der Vater gesehen, daß ein Herr von Werben ein Mensch ist, wie andere Menschen auch – die Szene hätte gar nicht gespielt. Aber wer denkt gleich an alles!

So sprach Ferdinande, während sie langsam durch den Garten, in den man aus dem Atelier durch eine Hintertür gelangte, nach dem Hause schritten. Auf die Gartenwand malte jetzt die Sonne der Bäume Schatten, wie heute nacht der Mond. – Es war wirklich nur ein Schattenspiel an der Wand, sprach Reinhold bei sich.


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