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Dreiundfünfzigstes Kapitel

Und wieder ist die leuchtende Frühlingssonne zweimal aufgegangen, wieder trägt die ungeheure Stadt ein festliches Kleid; aber die Farbe des Kleides ist die der Trauer, denn das Fest, das sie feiern, ist ein Totenfest.

Schwarze Fahnen wehen von den Türmen und den Zinnen des Schlosses, Trauerflore sieht man überall aus den Fenstern hangen, mit Trauerfloren sind die Hüte der Frauen, sind die Hüte der Männer, sind die Arme der Unzähligen alle umwunden, die nach dem herrlichen Platz in dem Herzen der Stadt wallen, wo zwischen den im Mittagssonnenschein gebadeten Tempeln auf einer Estrade die Särge derer stehen, die in der Schreckensnacht fielen – einhundertsiebenundachtzig Tote – darunter Frauen und Kinder – unschuldige Blumen, die dem grausen Schnitter, als er die Garben mähte, aus denen die Saat der Freiheit geerntet werden sollte, unter die erbarmungslose Sense kamen. Und selbst damit ist die blutige Ernte noch nicht vollendet. Noch liegen in den Hospitälern, in den Häusern, überall in der Stadt Schwerverwundete, von denen noch mancher den goldenen Tag der Freiheit nimmer schauen wird.

Und nun beginnen von allen Türmen in feierlichen Klängen die Glocken zu läuten – dieselben Glocken, die in der Barrikadennacht den Schlachtruf heulten.

Die kirchliche Handlung ist vollendet. Der Zug setzt sich in Bewegung. Ein Zug, wie ihn die Stadt nimmer sah, wie er vielleicht einzig ist in der Welt Geschichten.

Da schweben die gelben, von reichen Kränzen umwundenen Särge in unabsehbarer Reihe auf den Schultern der Bürger hin durch die blaue Frühlingsluft und zwanzigtausend Menschen jeden Alters und Standes geben ihnen das Geleit. An jedem Sarge ist ein Zettel mit dem Namen des Toten. Namenlose Namen! Wer war Oswald Stein? Wer war Eberhard Wolfgang Berger?

Was tut der Name? Was tut es, was sie im Leben waren, was sie im Leben taten und litten, fehlten und sündigten, strebten und irrten? Der Tod für die Freiheit krönt alles Streben, sühnt alle Schuld. Das fühlen, das sagen die Hunderttausende, die, rechts und links in gedrängten Reihen am Wege stehend, den Zug an sich vorüberziehen lassen, und vor jedem Sarge die Häupter ehrfurchtsvoll entblößen.

Und so geht der unabsehbare Zug lang und langsam in lautloser feierlichen Stille zum Tore hinaus nach seinem Ziel, dem Hügel vor der Stadt, wo von den Barrikadenkämpfern an den Tagen vorher ein großes Viereck ausgeschaufelt ist. Der Zug geht in die Grube hinein. Die Träger setzen ihre Särge stille nieder und schreiten weiter, und so die anderen, bis der Zug hindurch ist.

Und die Tausende stellen sich in andächtigem Schweigen ringsumher. Gewehrsalven krachen, und an den Gräbern seiner Märtyrer betet ein ganzes Volk.

Und einer aus dem Volke – ein langer, schwarzbärtiger Mann – erhebt seine Stimme und spricht:

»Für wen beten wir, liebe Brüder?

Für die Toten?

Sie bedürfen der frommen Wünsche nicht in ihrer kühlen Grabesruhe, in ihrem ewigen Schlaf.

Aber wir, die Lebenden!

Uns ist nicht das schlechtere, doch das schwerere Los gefallen. Wir sollen schaffen und wirken in dem heißen Staub der Alltäglichkeit, rastlos, ruhelos, denn nimmer schläft die Tyrannei. Wir sollen arbeiten und schaffen, daß die Nacht nicht wieder hereinbreche, in der es dem Braven unheimlich und nur dem Schlechten heimlich war; die Nacht, durch deren dunkle Schatten so viel romantische Larven und phantastische Gespenster huschten; die Macht, die so arm war an gesunden Menschen und so reich an problematischen Naturen – die lange schmachvolle Nacht, aus der nur der Donnersturm der Revolution durch blutige Morgenröte hinüberführt zur Freiheit und zum Licht.«


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