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Das Eintreten des Nachzüglers erregte eine gewisse Sensation, um so mehr, als man seiner Ankunft mit einiger Spannung entgegengesehen hatte. Oswald war in diesem Kreis vollkommen fremd. Er hatte bis jetzt nur mit dem Direktor und auch mit diesem nur geschäftlich verkehrt. Heute mittag, als er seine Visiten machte, hatte er, mit Ausnahme der Familie Kübel, niemand zu Hause getroffen. Die Herren waren begierig, den neuen Kollegen, die älteren Damen, einen jungen Mann, der möglicherweise noch einmal ihr Schwiegersohn werden konnte, die jungen Damen die neue Akquisition für ihre geselligen Zusammenkünfte zu sehen, zu mustern, zu kritisieren. Infolgedessen entstand eine Pause in dem munter schwirrenden Gespräch und aller Augen richteten sich unverwandt auf ihn.
Oswald schritt, uneingeschüchtert durch dieses Kreuzfeuer von Blicken, auf die Frau Direktor zu, küßte ihr die Hand, entschuldigte sich mit wenigen Worten wegen seines späten Kommens und bat sie, ihn den übrigen Damen, die zu kennen er noch nicht das Glück habe, vorzustellen. Nachdem diese Zeremonie in aller Form ausgeführt, wandte er sich zum Direktor, darauf wieder zu den Damen, um noch einmal der Frau Direktor einige verbindliche Worte zu sagen und sodann mit Primula ein Gespräch anzuknüpfen, auf das die Dichterin mit ganz besonderem, auffälligem Eifer einging. Primula hatte Oswald wegen seiner »schönen, ritterlichen, echt romantischen Erscheinung«, wie sie zu sagen beliebte, vom ersten Augenblicke in ihr poetisches Herz geschlossen und all die Abmahnungen ihres vorsichtigen Gatten waren nicht imstande gewesen, den Strom ihrer sympathetischen Empfindung dauernd zu hemmen. Sie hatte zwar auf dem Lande den Verhältnissen Rechnung tragen und schließlich die gefallene Größe auch ihrerseits fallenlassen müssen; aber sie hatte sich vorgenommen, »sobald ihre gebundene Psyche jemals freier die Schwingen regen könnte, dem Zuge ihres Herzens frei zu folgen«. Dieser Augenblick war jetzt gekommen; sie begrüßte Oswald, der ihr durch die »überaus romantische Katastrophe auf Schloß Grenwitz« noch viel interessanter geworden war, mit der doppelten Wärme und Freundschaft und Bewunderung. Indessen ließ sich Oswald, der entschlossen war, die Damen sich womöglich sämtlich geneigt zu machen, nicht lange von der Dichterin aufhalten; er sprach ernst mit den älteren; er scherzte mit den jüngeren, und hatte nach Verlauf von zehn Minuten offenbar das gewünschte Ziel erreicht.
Währenddessen war er von den Herren, die sich um Herrn Jäger versammelt hatten, eifrig beobachtet worden. Der Interpret der Fragmente des Chrysophilos haßte Oswald mit einem ganz gesunden langatmigen Haß. Oswald war dem eitlen Mann niemals mit der Aufmerksamkeit, die er beanspruchte, entgegengekommen, hatte ihn ihm Gegenteil, besonders in der letzten Zeit in Grenwitz, mit ganz unverhohlener Geringschätzung behandelt. Der Konsistorialrat Jäger hatte die dem Pastor Jäger angetane Beleidigung nicht vergessen und wartete nur auf eine passende Gelegenheit, die so lange aufgesammelte Summe des Hasses abzutragen. Indessen war er viel zu klug und zu feige, offen mit der Sprache herauszugehen, als ihn jetzt die Herren vom Gymnasium über Oswald, den »er ganz genau zu kennen« behauptete, befragten. Er begnügte sich mit mysteriösen Andeutungen, wie: Ein junger Mann, über den sich viel sagen ließe; – Sie werden ihn ja selbst kennenlernen, meine Herren; – ich will wünschen, daß er sich mittlerweile die Hörner etwas abgelaufen hat; hm, hm! Er ist, wie Sie wissen, der Schüler Bergers. Nun, Berger war ein bedeutender Mann, ein glänzender Geist; aber er sitzt jetzt in der Heilanstalt zu Fichtenau und es zeigt sich wieder einmal, daß nicht alles Gold ist, was glänzt; hm, hm! –
»Wenn wir das gewußt hätten, Kollega«, sagte Direktor Klemens heimlich zu Professor Snellius.
Professor Snellius zuckte die Achseln und erwiderte. »Ich hoffe viel von dem Vorteil, den er aus unserm Umgang schöpfen wird. Der Verkehr mit wahrhaft gebildeten, gelehrten –«
»Wahrhaft humanen«, schaltete der Direktor ein.
»Wahrhaft humanen Menschen«, fuhr der Professor fort, »ist das beste Mittel der Erziehung zur wahren Bildung und Gelehrsamkeit –«
»Und Humanität«, ergänzte der Direktor.
»Was halten Sie von dem neuen Kollegen, Wimmer?« fragte Doktor Breitfuß, der mit großem Mißfallen bemerkt hatte, wie lustig Fredegunde Klemens, die sich sonst durch einen gewissen, mürrischen Ernst auszeichnete, mit Oswald scherzte und lachte.
»Ich glaube, daß der Herr ein großer Geck ist«, erwiderte Herr Wimmer, sich durch die Haare fahrend, »er hat eine Manier, sich über sitzende Damen zu beugen, die geradezu unerhört ist. Ich fürchte, ich werde niemals sehr intim mit ihm werden.«
»Aber das wird zu arg!« rief Herr Breitfuß und schritt mit der Absicht, die Konversation Fredegundens und Oswalds zu stören, auf das Paar zu, verlor aber unterwegs den Mut und nahm, den verfehlten Angriff zu maskieren, dem ihm begegnenden Dienstmädchen eine Tasse vom Präsentierbrette, mit der er in der Hand – ein Bild hilfloser Verlegenheit – mitten im Zimmer stehenblieb.
Aus dieser Situation befreite ihn die Frage der Direktorin an die Gesellschaft, ob man jetzt mit der Lektüre des Wallenstein – dem eigentlichen Zweck des Zusammenseins – beginnen wolle?
Alles erhob sich; die Herren griffen nach den Büchern, die sie bei ihrem Eintritt in die Fensterbretter und auf die Schränke gelegt hatten. Die Damen holten ihre Exemplare aus ihren Nähbeuteln; Frau Jäger brauchte nach dem von ihr mitgebrachten nicht lange zu suchen; sie trug es seit ihrem Eintreten in der Hand. Eine sanfte Röte fieberhaft gespannter Erwartung ergoß sich über ihre welken Züge; ihre wasserblauen Augen schmachteten Oswald mit sanfter Begeisterung an, als er jetzt auf sie zutrat und ihr den Arm bot, um sie ins nächste Zimmer zu führen.
»Mit welcher Rolle werden denn Sie uns erfreuen, gnädige Frau?« fragte Oswald. »Doch was will ich denn? Es gibt im Wallenstein nur eine Rolle für Sie, wie es in dieser Gesellschaft nur eine für diese Rolle gibt.«
»Sie Spötter«, sagte die Dichterin, ihn mit dem Buche sanft auf den Arm schlagend, »was hätte denn ich vor anderen voraus?«
»Aber, Gnädigste, es kann doch nur eine Meinung darüber sein, daß der poetischste Charakter in dem Stück auch durch den poetischsten Charakter in der Gesellschaft repräsentiert werden muß; und wiederum doch auch nur darüber eine Ansicht, wer jener und wer dieser ist.«
»Und wer – ich will einmal die kindische Schüchternheit überwinden – wer wäre dieser und jener!« fragte Primula mit schmelzender Stimme, die verklärten Augen zu Oswald erhebend.
»Erlauben Sie mir für einen Moment das Exemplar, das Sie da in der Hand tragen. Danke! Ich bemerke, es liegt ein Zeichen darin. Lassen Sie uns sehen, wo es liegt. Dritter Aufzug. Erste Szene. Gräfin Terzky, Fräulein von Neubrunn. Thekla unterstrichen. Ich danke Ihnen, Thekla!«
»Das ist ein Zufall!« rief die errötende Dichterin, das Buch, das ihr Oswald mit einer ironischen Verbeugung wieder überreicht hatte, an ihren Busen drückend. »Ich schwöre es Ihnen bei allen neun Musen, daß dies ein Zufall ist.«
»Und ich schwöre Ihnen beim Vater Apollo selber und bei sämtlichen übrigen Olympiern dazu, daß ich an keinen Zufall glaube, höchstens an den glücklichen, der mich heute abend wider alles Erwarten mit einer Freundin – ich darf Sie ja wohl so nennen? – zusammengeführt hat.«
»Ob Sie mich so nennen dürfen?« rief die Dichterin, Oswalds Arm zärtlich an sich pressend. »Ob Sie es dürfen? Oh, glauben Sie mir, Stein, ich bin seit dem Augenblicke, da Sie den Fuß über unsere niedrige Schwelle setzten, Ihre Freundin gewesen; ich habe Sie stets in Schutz genommen, wenn prosaische Gemüter, die keine Ehrfurcht vor dem Großen und Schönen haben –«
Primula mußte dem überströmenden Quell der Zärtlichkeit, den Oswald so glücklich erschlossen hatte, Einhalt tun, denn sie langte in diesem Augenblicke in dem Nebenzimmer an, wo ein Teil der Gesellschaft um einen langen Tisch, der mit einem weißen Tuch bedeckt und mit zwei Lampen und zwei Lichtern erleuchtet war, bereits Platz genommen hatte. An dem oberen Ende stand Frau Direktor Klemens, die Gründerin und Leiterin des »dramatischen Kränzchens«, überschaute ihre Gesellschaft wie ein Hirt die Herde und wies den noch umherirrenden Gliedern ihre Plätze an, wobei sie heftig mit ihren starken Armen gestikulierte und ihre tiefe Stimme lauter erschallen ließ, als vielleicht unumgänglich nötig war.
»Setzen Sie sich zu Fredegunde, Doktor Breitfuß! Wollen Sie neben meiner Tochter Thusnelde Platz nehmen, Doktor Stein! Frau Konsistorialrat Jäger, Sie placieren sich gefälligst bei Professor Snellius; Herr Konsistorialrat, Sie bei Frau Doktor Kübel. So, nun säßen wir ja endlich!«
Frau Direktor ergriff nun eine große Schelle, die vor ihr auf dem Tische stand, und begann damit eine halbe Minute lang mit der Energie eines Parlamentspräsidenten zu läuten, der die zornigen Stimmen einiger hundert durcheinander schreiender Volksvertreter übertönen will. Da die absolute Stille, die in der Gesellschaft herrschte, endlich durchaus keinen Vorwand für die Entfaltung einer so energischen Kraftanstrengung mehr bot, so setzte Frau Direktor die Schelle wieder auf den Tisch und ergriff statt ihrer einen halben Bogen Papier, auf dem, wie auf einem Theaterzettel, die Rollen des Stücks nebst den betreffenden Personen der Gesellschaft, denen sie zugeteilt waren, verzeichnet standen.
»Meine Damen und Herren!« sprach sie darauf, die Mienen der zu ihr aufschauenden Gemeinde wohlgefällig musternd, »Sie wissen, daß wir in der viertletzten Sitzung Wallensteins Tod von Schiller für die diesmalige Zusammenkunft ausgewählt haben. Da in dem herrlichen Stück leider mehr Rollen sind, als wir besetzen können, so sah ich mich genötigt, unterschiedliche, die mir weniger wichtig schienen, zu streichen. Indessen blieben doch auch so noch einige unbesetzt und würden unbesetzt geblieben sein, wenn uns nicht einige liebe Gäste heute abend mit ihrer Gegenwart erfreut und mir es durch ihre gütig zugesagte Unterstützung möglich gemacht hätten, den Rollenzettel ganz nach meinem Wunsch anzufertigen. Obgleich nun die meisten von Ihnen schon wissen, welches ihre Rolle ist, so will ich der Ordnung wegen und vor allem unserer lieben Gäste halber den Zettel von Anfang an noch einmal vorlesen.«
Frau Direktor räusperte sich und las unter dem ehrfurchtsvollen Schweigen der Gesellschaft:
»Wallenstein, Direktor Klemens
Octavio Piccolomini, Professor Snellius Max Piccolomini, Doktor Wimmer Terzky, Fredegunde Klemens Illo, Doktor Kübel Buttler, Doktor Breitfuß Gordon, Frau Doktor Kübel Seni, Fräulein Ida Snellius Herzogin, Frau Professor Snellins Gräfin Terzky, Meine Wenigkeit Thekla, Thusnelde Klemens Fräulein Neubrunn, Marie Kübel Schwedischer Hauptmann, Doktor Stein |
||||
Deveroux
Macdonald |
}
} |
Hauptleute in der
Wallensteinschen Armee |
{
{ |
Herr und Frau
Konsistorialrat Jäger« |
Oswald. dem diese originelle Besetzung nicht wenig Vergnügen gemacht hatte, mußte sich auf die Lippen beißen, um nicht laut herauszulachen über die albernen Gesichter, die die beiden Letztgenannten machten, als sie ihre Namen in so inniger Verbindung mit den Namen der Mörder des Helden nennen hörten. Herr Jäger zog die Mundwinkel so tief herunter, wie Oswald es noch nie beobachtet hatte, und Primula, die so weiß wie der Spitzenkragen auf ihrem gelbseidenen Kleid geworden war, schien die größte Lust zu haben, in Tränen auszubrechen.
Das also war der Triumph, den er, den sie sich für den heutigen Abend versprochen hatten! War dies das gastfreundliche Haus von Menschen, die sich so viel auf ihre vollendete Humanität zugute taten? War es die bluttriefende Höhle vertierter Troglodyten? War er der Interpret der Fragmente des Chrysophilos, oder war er es nicht? War sie die gefeierte Dichterin der Kornblumen, oder war sie es nicht? Brach nicht ein Schrei der Entrüstung aus den Kehlen aller, die mit eigenen Ohren die Entweihung in Wissenschaft und Kunst so berühmter Namen vernommen hatten?
Der Konsistorialrat und seine Gattin sahen sich über den Tisch mit Augen an, in denen ein aufmerksamer Beobachter diese und noch mehr Fragen der Art hätte lesen müssen; ließen sodann ihre Blicke über die Tafelrunde schweifen, den Eindruck zu erkunden, den eine solche Blasphemie auf die Anwesenden notwendig hervorgebracht haben mußte. Aber niemand schien etwas Besonderes in diesem schmählichen Hohn auf alle gelehrte und dichterische Berühmtheit zu finden, niemand, mit Ausnahme vielleicht des alten dicken Doktor Kübel, der einen erstaunt fragenden Blick Jägers mit einem freundlichen Grinsen erwiderte, und Oswald, der Primula, die auf der linken Seite neben ihm saß (auf der rechten hatte er Thusnelde Klemens), zum Zeichen seines Beileids unter dem Tische die Hand drückte. Im übrigen achtete niemand auf die verhöhnten Dulder; jeder war in Gedanken mit seiner Rolle und mit dem Eindruck, den er auf die übrigen hervorbringen würde, beschäftigt und erwartete nur das Signal zum Anfang, das jetzt von der Direktorin durch ein minutenlanges Läuten mit der Glocke gegeben wurde.
Der Direktor Klemens stellte nun in seiner sanftesten Redeweise an Fräulein Ida Snellius die Aufforderung, herabzukommen, da der Tag anbreche und Mars die Stunde regiere; worauf ihn die angeredete junge Dame mit einer Stimme, die entweder durch die zu große Entfernung des Astronomen oder durch die Befangenheit der Vortragenden bis zur Unhörbarkeit undeutlich war, bat, »sie noch die Venus betrachten zu lassen, die eben aufgehe und wie eine Sonne im Osten glänze.«
Diesem interessanten Aufgang entsprach das übrige vollkommen; Direktor Klemens machte aus dem Wallenstein das sanfte Mitglied einer friedlichen Brüdergemeinde, Professor Snellius aus dem klugen, verstellungsreichen Octavio einen überaus hölzernen Pedanten; Doktor Wimmer winselte und heulte den edlen Sohn des unedlen Vaters so, daß unnennbarer Jammer jedes fühlende Herz befallen mußte; Doktor Kübel schien den wilden Illo für die Waschfrau Chamissos und Doktor Breitfuß den verschlossenen Buttler für einen marktschreierischen Zahnbrecher zu halten; Gräfin Terzky wurde in Frau Direktor Klemens Munde zu einem Pappenheimischen Kürassier und Thekla in dem ihrer Tochter Thusnelde zu einem verliebten Nähmädchen.
Und dabei dieser heilige Eifer, der offenbar alle beseelte und sie trieb, schon lange bevor sie wieder an die Reihe kamen, in ihrem Buche nach ihrer Rolle zu blättern, wodurch ein fortwährendes geheimnisvolles Rauschen und Rascheln hervorgebracht wurde; diese ungeschminkte Begeisterung, mit der man besonders hervorragende Leistungen, wie die des Kollegen Wimmer, aufnahm; diese selbstlose Bescheidenheit, mit der sich weniger begabte Talente, wie Fräulein Marie Kübel, eine Zurechtweisung von seiten der Direktorin Klemens gefallen ließen, der nach den Statuten des Kränzchens das Recht zustand, den Leser zu unterbrechen und ihn auf diesen oder jenen Fehler im Vortrage aufmerksam zu machen.
Unterdessen saß Konsistorialrat Jäger in seinem Stuhle zusammengekauert unbeweglich da, die Winkel des Mundes so energisch nach unten gezogen, daß die Linie die Gestalt eines Hufeisens beschrieb, während er mit den kleinen grünen Augen über den Rand seiner großen runden Brillengläser seine Gattin, die Gefährtin seiner Leiden, die Teilhaberin seiner Schmach, anblinzelte. Die Dichterin warf sich bald mit untereinandergeschlagenen Armen in den Stuhl zurück und ließ die Blicke an der Decke haften, bald lehnte sie sich vornüber und stützte das kornblumengeschmückte Haupt in die Hände. Jetzt lächelte sie das Lächeln unsäglicher Verachtung; jetzt gähnte sie, wie von der entsetzlichsten Langenweile gequält. Oswald war äußerst begierig, zu sehen, was sie tun würde, wenn an sie die Reihe käme; denn sie hatte ihm schon gleich zu Anfang in fieberhafter Aufregung zugeflüstert: »Ich lese nicht; verlassen Sie sich darauf: Ich lese nicht.«
Aber seine Neugier sollte nicht so schnell befriedigt werden, denn nachdem sich Herr Wimmer am Schluß des dritten Aktes mit Aufbieten all seiner Stimmittel »zum Sterben bereit« erklärt hatte, begann Frau Direktor Klemens wiederum mit aller Macht zu läuten und gab damit das Signal zu der großen Pause, die (nach § 25 der Statuten) bei fünfaktigen Stücken jedesmal nach dem dritten und bei vieraktigen nach dem zweiten Akt eintrat, und in der (nach § 26) Wein und Backwerk zur Erfrischung gereicht werden mußte.
Um den Bestimmungen dieses Paragraphen nachzukommen, verließ man den Tisch und begab sich nach dem Salon in der lebhaft angeregten Stimmung einer Gesellschaft, die eben von einem hohen Kunstgenuß kommt. Man saß und stand mit den Gläsern in der Hand im Zimmer umher und sprach von dem Stücke und von der Deklamation. Man war darüber einig, daß Kollege Wimmer diesmal wie stets den Preis davongetragen habe, und daß Fräulein Marie Kübel noch immer nicht laut genug spreche, obgleich ihre Fortschritte im allgemeinen zu beloben seien. Die Herren stellten sich untereinander Zensuren aus und gaben sich natürlich gegenseitig die Nummer Eins. Die Damen sprachen von dem herrlichen Dichter, von dem keuschen Adel seiner Verse. Fräulein Ida Snellius behauptete, daß Schiller sie vielfach an Euripides erinnere, und nun wirbelten die Namen Sophokles, Goethe, Shakespeare, Schiller, Aristophanes, Calderon, Äschylus, Plautus und Terenz wie Schneeflocken durcheinander. Oswald spähte nach der Dichterin der Kornblumen, die er seit dem Anfang der Pause aus den Augen verloren hatte. Er fand sie in einer Fensternische des zweiten Salons (sonst jungfräuliches Schlafgemach der beiden Fräulein Klemens) mit ihrem Gemahl eifrig flüstern. Er wollte sich bescheidentlich zurückziehen; aber Primula sprang, sobald sie ihn erblickte, auf ihn zu, ergriff seine Hand und zog ihn mit in die Fensternische.
»Reden Sie leise«, sprach Primula mit hohler Geisterstimme.
»Was gibt es?« fragte Oswald in demselben Ton.
»Sie sollen mir sagen, ob ich lesen darf?« hauchte Primula. »Jäger hat kein Gefühl für diese Schmach.«
»Doch, Gustchen, doch!« flüsterte er. »Aber ich möchte eine Szene vermeiden; ich bitte dich, Gustchen, was werden die Leute sagen, wenn – oh, ich darf gar nicht daran denken.«
»Ich möchte mich der Meinung des Herrn Konsistorialrat anschließen«, sagte Oswald, »ich sehe nicht, wie Sie gerettet werden können, nachdem Sie einmal in die Löwengrube gefallen sind.«
»Ich, die Dichterin der Kornblumen, ein Mörder, ein feiler Meuchelmörder«, wimmerte Primula, »nimmermehr, nimmermehr!«
»Es ist schändlich«, bestätigte Oswald, »aber der Interpret des Chrysophilos ist in derselben Lage, und Sie sehen: Er erträgt mit Würde sein hartes Los.«
Ein Händedruck des eitlen Herrn belohnte Oswald für diese Schmeichelei.
»Oh, ihr Männer habt kein Gefühl für Beleidigungen«, schluchzte Primula, »nun gut, ich will es versuchen, aber wenn –«
Das Sturmgeläut der Präsidentinglocke aus dem Nebenzimmer ließ Primula ihren Satz nicht beendigen. Sie schritt den beiden Herren voran mit der Miene jemands, der, geschehe, was da will, seinen Entschluß gefaßt hat.
»Jetzt kommt bald an Sie die Reihe, Kollege«, sagte Herr Wimmer zu Oswald; während man (unter fortwährendem Sturmläuten) wieder Platz nahm, »ängstigen Sie sich nur nicht, und lesen Sie frisch drauf los. Wenn's auch das erste Mal ein wenig hapert; das nächste Mal geht es schon besser und die Übung macht den Meister.«
»Den ich in Ihnen verehre und bewundere«, erwiderte Oswald, sich verbeugend.
»Nun, nun!« sagte Herr Wimmer, sich lächelnd durch die Haare fahrend. »Es könnte noch besser sein. Freilich, als ich vor einiger Zeit Holtei hörte, gestehe ich, daß mir das alte Wort: ›Anch io son' pittore‹ unwillkürlich auf die Lippen kam.«
»Ich glaub' es gern«, versicherte Oswald.
Die Glocke schwieg und Kollege Breitfuß erhob (als Oberst Buttler) seine Stimme und schrie, daß die Fenster klirrten:
»Er ist herein. Ihn führte das Verhängnis.« |
Die Mordnacht in dem Schlosse zu Eger entwickelte sich nun rasch von Szene zu Szene. Oswald war so gespannt darauf, wie Primula sich benehmen würde, deren Aufregung, je mehr man sich dem verhängnisvollen Augenblick näherte, sichtbar zunahm, daß er die Nachricht des Fräulein Neubrunn, »der schwedische Herr« sei da, ohne alles Herzklopfen vernehmen und vier Zeilen später ganz kaltblütig die Prinzessin Thekla-Thusnelde wegen seines »unbesonnenen, raschen Wortes« um Verzeihung bitten, ja sogar die auffallende Wärme des Tons, mit welchem Fräulein Klemens die Worte sprach:
»Ein unglücksvoller Zufall machte Sie
Aus einem Fremdling schnell mir zum Vertrauten« |
gänzlich überhören konnte, obgleich dieser Ton Herrn Wimmer alles Blut zum Herzen trieb und Fredegunde ob desselben ihrem Doktor Breitfuß einen sehr bezeichnenden Blick zuwarf. Er achtete nicht des beifälligen Gemurmels, das ihm seine Erzählung von dem Tod des Reiterobersten einbrachte; auch die folgenden Auftritte gingen spurlos an ihm vorüber, bis denn endlich das verhängnisvolle Netz sich ganz über dem Haupte des Friedländers zusammenzieht und der finstere Buttler in der Heimlichkeit seines Zimmers die Mörderrollen verteilt. Schon ist Major Geraldin mit seinem blutigen Auftrage davongeeilt und jetzt ist der Augenblick gekommen, wo auf der Bühne der Vorhang sich auseinandertut und die grimmen Hauptleute Deveroux und Macdonald in Koller und Kanonen, die langen Schwerter an der Seite, vor ihrem Regimentschef erscheinen.
Was wird sie tun? dachte Oswald, der sah, daß das Gesicht der Dulderin bald blaß und bald rot wurde, sie wird nicht lesen.
Aber Primula überwand den edlen Unwillen, der ihr Herz schwellen machte, räusperte sich und sagte mit der sanften Stimme einer Heiligen, die sich in die Hände der Henkersknechte gibt:
»Da sind wir, General.« |
Die Direktorin, welcher, da es doch zwei waren, der Akzent auf wir liegen zu müssen schien, verbesserte, kraft des ihr nach § 73 der Statuten zustehenden Rechtes:
»Da sind wir, General.« |
Das war zuviel. Die zu straft gespannte Bogensehne riß; die beleidigte Dichterin erhob sich, klappte ihr Buch zu und sagte mit bleichen Lippen:
»Es tut mir leid, wenn ich die Gesellschaft durch meine Erklärung, nicht weiter lesen zu können, stören sollte. Aber, da ich eine Rolle, zu der ich mich – mit Gewalt – zwingen muß, nicht einmal lesen – kann – ohne –«
Sie konnte nicht weitersprechen und brach, in ihren Stuhl zurücksinkend, in ein konvulsivisches Weinen aus.
Die Bestürzung, die durch dieses Benehmen Primulas in der harmlosen Gesellschaft hervorgebracht wurde, konnte nicht größer sein. Man sprang von den Stühlen empor; man drängte sich um die schluchzende Dichterin; man fragte einander, was der Dame fehle, und den Gatten, ob seine Gemahlin oft dergleichen Anfälle habe? Niemand ahnte die eigentliche Ursache von diesem Zustande, dem die Herren durch Zureden, die Damen durch Eau de Cologne beizukommen suchten. Aber Primula wollte von beidem nichts wissen. Sie sprang nach wenigen Sekunden vom Stuhle auf; erklärte mit Entschiedenheit, nach Hause gehen zu müssen, und verschwand an dem Arme ihres Gatten, der zu dieser ganzen Szene ein sehr albernes Gesicht gemacht hatte, ohne irgend jemand gute Nacht zu sagen.
In dem Augenblicke, als die durch das Verschwinden der Gastfreunde äußerst bestürzte Gesellschaft im Salon noch durcheinanderstand und sprach, wurde Oswald ein Brief übergeben, den, wie das junge Mädchen sagte, ein junger Mann, der auf Antwort warte, soeben überbracht habe.
Oswald erbrach das Billett, in dem weiter nichts stand, als:
»Mach, daß Du fort kommst. Ich warte auf der Straße. Dein Timm.«
Oswald ließ sich einen so vortrefflichen Vorwand, aus einer Gesellschaft zu entkommen, die ihm mit jedem Augenblicke unerträglicher wurde, nicht entgehen. Er habe eine Nachricht erhalten, die ihn nötige, sofort nach Hause zu eilen. In der nächsten Minute stand er auf der Straße.
»Gott sei Dank, daß ich fort bin!« rief er, Timm, der ihn lachend in Empfang nahm, beim Arm ergreifend und mit sich fortziehend.
»Konnt's mir denken«, rief Herr Timm, »daß du Höllenpein ausstandst; dachte, dem armen Schelm muß geholfen werden. Komm, wir wollen den gelehrten Staub, so du verschluckt hast, mit edlem Wein hinunterspülen.«