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Elftes Kapitel

Es war in der ersten Frühstunde eines trüben Herbsttages. In den Bergen von Fichtenau braute der Nebel so dicht, daß, wer auf der Landstraße dahinfuhr, die sich gleich hinter dem Städtchen, steil aufsteigend, in die Wälder verliert, kaum die ersten Tannen an dem Rande unterscheiden konnte.

An dem Wegrande, an einer Stelle, wo sich zwei Straßen kreuzten, saßen Xenobi und die Czika. In dem Graben vor ihnen weidete ihr treuer Gefährte auf allen Irrzügen, der kleine Esel mit dem roten Federbusch auf dem Kopf und der roten Schabracke auf dem Rücken, das kurze, halbfaule Gras. Es schien ihm nicht sonderlich zu munden: Er schüttelte oft unwillig den dicken Kopf, als wollte er sagen: Ich bin genügsam, aber es hat alles seine Grenzen.

Auch der Zigeunerin und dem Kinde konnte das Wetter nicht eben behagen. Sie saßen da, jedes in ein grobes Tuch gehüllt, stumm und regungslos wie zwei ägyptische Statuen. Diese Haltung, die an dem Weibe erklärlich sein mochte, hatte etwas Unheimliches bei einem so jungen Geschöpf wie Czika.

Und auch Xenobi selbst war nicht mehr das stahlkräftige Weib, wie es Oswald an jenem Sommernachmittage im Walde von Berkow gesehen hatte. War es nur der Einfluß des Wetters, oder war es Krankheit und Kummer – aber in ihren Zügen war wenig mehr zu erblicken von der stolzen Energie, die sie früher so auszeichnete. Ihre Stirn war von schmalen Falten durchfurcht; ihre Augen waren tiefer in den Kopf gesunken und leuchteten nicht mehr in dem alten Glanz, wie sie jetzt den Blick nach jener Gegend richtete, als ihr scharfes Ohr das Geräusch eines Wagens vernahm, der von Fichtenau heraufkam.

»Sie sind es nicht«, murmelte sie, den Kopf wieder sinken lassend.

Nach einigen Minuten tauchte eine wohlverschlossene, von zwei Pferden gezogene Reisechaise aus dem Nebel auf. Vorn auf dem Bock neben dem Kutscher saß ein alter Mann mit einem langen, eisgrauen Schnurrbart. Er wandte sich oft halb um, einen Blick in das Innere des Wagens zu werfen und die Insassen – eine Dame und einen Knaben – ehrerbietig freundlich anzulächeln.

So hatte er auch die Zigeunerin nicht bemerkt, die, eine vornehme Dame im Wagen erblickend, eine Gabe zu heischen, herantrat. Wie erstaunt war er deshalb, als er sah, daß die Dame ihm plötzlich, mit allen Zeichen äußerster Bestürzung, zurief, halten zu lassen, und noch ehe der Wagen hielt, auf der Landstraße stand.

»Isabel, sind Sie es! Und die Czika! Gott, welches Glück«, rief Melitta, die Zigeunerin bei den Händen ergreifend, »nun lasse ich euch nicht wieder fort! Gott, welches Glück, welches Glück!« und die junge Frau umarmte mit Tränen in den Augen das Zigeunerweib.

Die aber machte sich fast gewaltsam los und trat einen Schritt zurück, die Arme über der Brust kreuzend und Melitta mit einem argwöhnischen, beinahe feindlichen Blick ansehend.

»Kennst du mich nicht mehr, Isabel?« sagte Melitta, »ich bin es ja! Denkst du nicht mehr an die Tage in Berkow vor fünf Jahren? Das ist mein Julius! Und wie groß und schön die Czika geworden ist!«

Melitta eilte auf Czika zu, schloß das Kind in ihre Arme und herzte und küßte es.

Julius war aus dem Wagen gesprungen, der alte Baumann vom Bock herabgeklettert. Sie sprachen zu Xenobi, die ihrer nicht achtete, sondern mit angstvollen Augen auf Melitta blickte, die jetzt, Czika an der Hand, wieder auf sie zutrat.

»Isabel!« sagte Melitta, »du mußt, du mußt mir die Kleine geben. Ich darf, ich kann nicht ohne sie weiterreisen.«

»Warum willst du uns nicht lassen, wie wir sind«, sagte die Zigeunerin. »Du bist eine Edeldame, du taugst für das Haus; die Zigeunerin gehört in den Wald. Ich kann nicht mit dir gehen.«

»So gib mir die Czika.«

»Willst du mir deinen Knaben geben?«

Melitta wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie fühlte zu tief, daß die Zigeunerin nicht anders handeln könne, daß sie an der Stelle der Zigeunerin ebenso handeln würde. Und doch! Die beiden wieder ziehen lassen in die weite Welt? Oldenburgs Töchterchen, nach dem er sich so sehnte, das er noch immer suchte, wieder verschwinden zu sehen, nachdem ein Zufall, wie er vielleicht nie im Leben wieder eintrat, es ihr in den Weg geführt – sie konnte den Gedanken nicht ertragen und brach, wie ein Kind, das sich hilflos und ratlos sieht, in Tränen aus.

Die Zigeunerin schien gerührt. Sie nahm und küßte Melittas Hand.

»Du bist sehr gut!« sagte sie, »ich weiß es. Ich würde dir die Czika lieber geben als jedem anderen.«

Sie stand nachdenklich da; plötzlich ergriff sie Melitta wieder bei der Hand und führte sie etwas an die Seite.

»Weißt du«, sprach sie, »wer der Czika Vater ist?«

»Ja.«

»Und tust du, was du tust, des Vaters halber oder des Kindes?«

Melittas Wangen färbten sich.

»Um beider willen«, antwortete sie nach einigem Zögern.

»Wohin gehst du jetzt?«

»Nach Hause, nach Berkow.«

»Und bleibst dort?«

»Ja, diesen Winter wenigstens.«

»So höre mich. Ich schwöre dir bei dem großen Geist, ich will dir die Czika bringen, sobald ich verspüre, daß ich versammelt werden soll zu meinen Vätern. Das ist vielleicht sehr bald. Mehr kann ich nicht, mehr darf ich nicht versprechen.«

Melitta fühlte, daß sie sich mit diesem Versprechen begnügen müsse. Sie kannte den Charakter der braunen Gräfin zu gut, um nicht zu wissen, daß, wenn sie einmal einen Entschluß gefaßt hatte, alle Bitten, alle Vorstellungen vergeblich seien. So stieg sie denn, nachdem sie Xenobi und das Kind noch einmal umarmt, traurig in den Wagen, der sich dann alsbald wieder in Bewegung setzte.

Das Rollen der Räder und der Hufschlag der Pferde waren verhallt.

Wieder saßen die Zigeuner am Rande des Weges.

Da kam abermals ein Fuhrwerk von Fichtenau herauf. Man hörte schon von weitem das Hot und Hü des Fuhrmanns und das Klirren der Ketten, mit denen die Pferde angeschirrt waren.

Wenige Minuten später tauchte der Wagen aus dem Nebel auf. Es war ein riesiger Kasten – ein ganzes Haus auf vier Rädern, bis unter das Dach und noch hoch oben über dem Dach mit Kasten und Kisten, Pauken und Trompeten, Kulissen, Stangen und Leitern, Küchen- und Seiltänzergerätschaften aller Art vollgepfropft. Die vier Pferde, die diese Arche Noä zogen, hatten genug zu tun.

Vor dem Wagen her gingen der Ägypter Cotterby, der Künstler mit dem Riesenfaß, Herr Stolzenberg, und der Komiker, Herr Pierrot. Sämtliche Herren trugen bunte Schals um den Hals gewunden und kurze Pfeifen im Munde. Aus dem offenen Fenster der Arche ertönte Kindergeschrei und die kreischende Stimme Mamsell Adeles. Hinter dem Wagen gingen in eifrigem Gespräch, wie es schien, Herr Direktor Schmenckel (ebenfalls mit einem bunten Schal um den Hals und einer kurzen Pfeife im Munde) und ein Mann in blauer Bluse mit einem Knotenstock in der Hand und einem alten Filz auf dem Kopf, dessen Bekanntschaft Direktor Schmenckel vor einigen Abenden unter höchst eigentümlichen Verhältnissen in der Trinkstube zur »Grünen Mütze« machte, der sich seitdem öfters in dem genannten Gasthause hatte sehen lassen, und sich heute morgen, als die Seiltänzer kaum aus dem Städtchen heraus waren, ganz unverwandt zu ihnen gesellte.

Als der Wagen an den Kreuzweg gekommen war, hielt der Fuhrmann an, um seine dampfenden Pferde sich verschnaufen zu lassen. –

Die Zigeunerin mit ihrem Kinde trat heran und wurde von den Seiltänzern freundlich begrüßt.

Herr Direktor Schmenckel schüttelte ihr die Hand und patschte Czika väterlich auf die braune Wange.

»Ist gut, Xenobi, daß ihr wieder hier seid!« sagte er, »es wollte, hol' mich der Kuckuck, ohne euch gar nicht mehr gehen. – Adies, Professor! Danke für freundliche Begleitung! Du mußt hier umkehren; find'st sonst den Weg nicht zurück nach Fichtenau.«

»Ich gehe noch ein Streckchen mit«, erwiderte der Mann in der Bluse.

»Mir soll's recht sein«, sagte Herr Schmenckel, »je weiter, je lieber. So ein altes, braves Haus wie du trifft man nicht alle Tage.«

Das Fuhrwerk setzte sich wieder in Bewegung. Nach einigen Augenblicken war alles – Wagen, Pferde und Menschen in dem dichten grauen Nebel verschwunden.


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