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Während in dem Brennpunkte der Stadt solche Szenen stattfanden und die Bewohner dieser und der nächstgelegenen Straßen in fieberhafte Aufregung versetzten; hier die Menge vor einer anrückenden Militärtruppe davonlief, um sich an einem für den Augenblick nicht bedrohten Punkte abermals zu sammeln, Verhaftungen in Masse vorgenommen wurden, Verwundungen nicht ausblieben und so die Erbitterung von beiden Seiten in beängstigender Weise wuchs – lebten die Bewohner der abgelegenen Quartiere ohne die geringste Kunde dieser Vorgänge in einem tiefen Frieden, der in einem gemeindeangerumgebenen idyllischen Landstädtchen nicht größer sein konnte.
In einem kleinen einstöckigen Hause einer dieser stillen Straßen an einem Fenster, das auf ein hübsches Vorgärtchen ging und durch eine Glaskugel mit Goldfischen, einen Messingbauer mit einem grüngelben Kanarienvogel, durch Blumen in Töpfen und Vasen als das Lieblingsplätzchen einer Dame bezeichnet war, saßen kurz vor Sonnenuntergang Sophie und Bemperlein in eifriger Unterhaltung.
»Und Franz ist mit seinen hiesigen Verhältnissen ganz zufrieden?«
»Ganz! Wie würde sich der gute Vater gefreut haben, wenn er –«
Die junge Frau vollendete den Satz nicht, sondern wandte sich nach dem Fenster und machte sich etwas mit ihren Blumen zu schaffen. Bemperlein betrachtete sie ein Weilchen liebevoll durch seine Brillengläser, dann legte er leicht seine Hand auf ihren Arm und sagte:
»Sie müssen sich nicht bloß stark zeigen, liebe Freundin; Sie müssen es auch sein – Sie, die Tochter eines solchen Vaters!«
»Sie haben recht, Bemperchen; ich will versuchen, so stark und vernünftig zu sein, wie ich aussehe. Aber jetzt lassen Sie uns von was anderem sprechen. Was sagt denn Marguerite zu dem neuen Plane?«
»Sie ist entzückt oder charmé, wie sie sagt. Ich glaube aber allen Ernstes weniger über die Verbesserung unserer Lage – obgleich, ganz entre nous, liebe Freundin, ein verheirateter Student ein höchst eigentümliches Amphibium ist – als darüber, daß sie jetzt wieder in Ihrer Nähe leben kann. Sie glauben gar nicht, welchen Eindruck Sie auf ma petite femme gemacht haben!«
»Das gute Herz! Und ich habe so wenig für sie getan, für sie tun können! Habe sie eigentlich immer nur geneckt, und noch am letzten Abend – wissen Sie noch Bemperchen, wie Sie als Amor erschienen, ihr euch in dem Fenster den verhängnisvollen Kuß gabt und Papa hernach beim Hochheimer die köstliche Rede hielt, die letzte, die ich aus seinem Munde gehört habe? Jetzt weiß ich erst, was zu der Stunde sein edles Herz bewegte. Er nahm nicht bloß für damals, er nahm für immer von uns Abschied.«
Sophie kämpfte die Rührung, die sie zu überwältigen drohte, gewaltsam nieder und fuhr fort:
»Ich habe so wenig für Marguerite getan und sie im Gegenteil so viel für mich! Wissen Sie, Bemperchen, daß ich schwach genug war, ordentlich eifersüchtig auf die Kleine zu werden, als ich aus Papas Briefen sah, in wie hoher Gunst sie bei ihm stand und wie er sich gegen eure Verheiratung fast nicht weniger hartnäckig wehrte als gegen die unsere?«
»Und doch ist diese Verheiratung nur durch seine Bemühungen so bald zustande gekommen; zum mindesten hat Marguerite es nur ihm zu danken, wenn unsere Einrichtung so glänzend ausfiel, wie ich sie mit meinen schwachen Kräften allerdings nicht hätte herstellen können. Sie wissen doch, was ich meine?«
»Die Timmsche Angelegenheit? Marguerite hat mir davon geschrieben. Was mich dabei am meisten gewundert, ist, daß Timm so prompt das Geld zurückbezahlt hat.«
»Wir alle sind erstaunt gewesen, niemand mehr als ich, der ich wußte, daß er bis über die Ohren in Schulden steckte und schon aus diesem Grunde dem Papa riet, von seinem Versuch als von einem ganz vergeblichen abzustehen. Mir hat die ganze Affäre viel Kopfzerbrechen verursacht, sowenig Ursache gerade ich habe, Herrn Timm hold zu sein, so hat's mir doch leid getan, als er gleich darauf einer Wechselschuld wegen, die er vielleicht nur um uns zu bezahlen, kontrahiert hatte, in den Turm wandern mußte, in dem er, soviel ich weiß, noch heute sitzt.«
»Oh!« sagte Sophie. »Hat's mein alter Anbeter also endlich doch durchgesetzt?«
»Ihr alter Anbeter?«
»Ja, wissen Sie das nicht? Ich habe noch mit Timm zusammen Tanzstunde gehabt, und ich kann sagen, daß ich mit niemand lieber getanzt und mich unterhalten habe als mit ihm. Er ist ein höchst geistreicher und, wenn er will, sehr liebenswürdiger Mensch, um den es wahrhaftig Jammer und Schade ist, daß er mit seinen herrlichen Gaben so unverantwortlich wirtschaftet. Er hat in dieser Beziehung die größte Ähnlichkeit mit –«
»Mit Oswald Stein, wollen Sie sagen, nur zu! Ich habe das bittere Gefühl glücklich besiegt, das mich jedesmal bei Nennung dieses Namens überkam. Er existiert für mich nicht mehr, besonders nach seinen letzten Abenteuern.«
»Das ist nicht recht, Bemperchen. Sie wissen, ich habe Stein nie besonders gemocht, aber seitdem ihr alle gegen ihn seid und selbst Franz, der ihn noch immer in Schutz nahm, anfängt, mit in den Chor einzustimmen, habe ich große Lust, mich auf seine Seite zu schlagen.«
»Natürlich«, sagte Bemperlein, mit einem leisen Anflug von Bitterkeit, »ist es doch eine alte Erfahrung, daß die Frauen viel, ich möchte sagen alles einem Manne verzeihen, der, was er tut, für euch tut oder doch zu tun scheint. Mußte ich doch neulich selbst von meiner Marguerite, die ihn sonst nicht ausstehen konnte, ein in den sanftesten Tönen hingehauchtes pauvre homme! hören. Pauvre homme! Nun frage ich einen vernünftigen Menschen! Also, wenn jemand wie ein ungezogenes Kind durch das Leben rast, statt nach Grundsätzen, stets nur nach seinen souveränen Launen handelt; wenn er wie ein Kind alles haben muß, was ihm gefällt, um es, wenn's ihm nicht mehr gefällt, in törichtem Zorn und Übermut wieder zu zerbrechen – wenn er, statt seinen Nächsten zu lieben, mit seines Nächsten Frau bei Nacht und Nebel durchgeht, so sagt man von ihm, womöglich mit einer Träne des Mitleids im schönen Auge: Pauvre homme!«
»Bravo, Bemperchen«, rief Sophie beinahe mit der alten Lustigkeit, »bravo! Sie könnten nicht schöner predigen, wenn Sie selbst der betreffende unglückliche Nächste wären! Aber, sagen Sie, hat man denn von den losen Vögeln noch immer keine Nachricht?«
»Soviel ich weiß, nein! Es ist, als hätte die Erde sie eingeschluckt.«
»Aber wie erträgt denn der verratene Gatte sein grenzenloses Leid?«
»Ach, man sollte sich eigentlich dieser Menschen wegen gar nicht weiter ereifern«, erwiderte Bemperlein unmutig, »Sie sind es nicht besser wert und wollen es nicht anders haben. Denken Sie sich, Fräulein Sophie, wollte sagen: Frau Sophie – dieser Mensch, dieser Cloten, der, als Stein mit seiner keuschen Penelope durchgegangen war, tat, als ob die Sonne niemals wieder für ihn scheinen könnte, hat sich nicht nur in überraschend kurzer Zeit getröstet, sondern dasselbe Unglück, das jener in sein Haus getragen hat, in seines Nachbars Hause ebenfalls angerichtet. Herr von Barnewitz, der Vetter der Frau von Berkow – der mit dem breiten roten Bart, wissen Sie, und den breiten Schultern – oh, Sie müssen ihn ja gesehen haben – nein? Na, es kommt auch nicht darauf an – eh bien, Herr von Barnewitz kommt neulich zu ungelegener Zeit nach Hause, findet – so erzählen sich die Leute – die Tür zum Zimmer seiner Frau verschlossen, wittert Unrat, zerschlägt ein Fenster, reißt den ganzen Fensterflügel heraus, steigt ins Zimmer, erwischt Herrn von Cloten, der eben von der Dame zu einer Hintertür hinausgeschoben wird, und hat eine Auseinandersetzung mit dem edlen Paar, infolge deren Hortense nach Italien und Herr von Cloten, nachdem er acht Tage lang das Bett gehütet, auf seine Güter gereist ist, ohne von jemand Abschied zu nehmen.«
»Da haben ja die Sundiner Klatschschwestern wieder etwas zu reden gehabt!«
»Das können Sie glauben, fast so viel, als damals bei der Verlobung von Helene Grenwitz mit dem Fürsten Waldernberg.«
»Wie steht es denn damit?«
»Soviel ich weiß, soll die Verlobung, ich meine die eigentliche, offizielle, in diesen Tagen hier in Berlin stattfinden. Anna-Maria sagte mir neulich, daß sie mit Helene Anfang März hier eintreffen werde.«
»So sind Sie also mit der Familie in Verbindung geblieben?«
»Ich hatte keinen rechten Grund, meine Stunden aufzugeben. Anna-Maria beehrte mich fortwährend mit ihrer besonderen Gnade und überdies habe ich mich in der letzten Zeit mehr mit ihrem Wesen ausgesöhnt. Ich glaube, wir haben ihr vielfach unrecht getan. Sie hat gewiß ihre bedenklichen Seiten, aber man muß auch so gerecht sein, anzuerkennen, daß die Verhältnisse, in denen sie lebt, eigentümlich genug sind. Wenn sie Helene einen reichen Mann verschafft, so tut sie nicht mehr und nicht weniger, als was alle Frauen in ihrer Lage auch tun würden. Und ihre Lage ist keineswegs so glänzend, wie wir glaubten. Seit dem Tode des Barons hat sie von dem ganzen großen Vermögen außer dem, was sie bis jetzt gespart hat, und das kann – für die Ansprüche solcher Leute wenigstens – nicht allzuviel sein, eine verhältnismäßig geringe Witwenpension; und auch die fällt weg, im Falle Malte dem Beispiele seines Cousins Felix nachfolgen und auch an der Auszehrung sterben sollte, was nebenbei im höchsten Grade wahrscheinlich ist. Der Junge besteht jetzt schon nur aus Haut und Knochen.«
»Da wäre ja allerdings Helenens glänzende Heirat eine Art von Notwendigkeit im Sinne dieser Leute, obgleich ich überzeugt bin, daß es für Helene eine traurige Notwendigkeit ist.«
»Weshalb?«
»Im Vertrauen! Ich glaube, ihr Herz hatte sich bereits nach einer andern Seite entschieden, als sie dem Fürsten das Jawort gab. Wollte Gott, sie wäre von Anfang an weniger zurückhaltend gegen mich gewesen; vielleicht wäre alles anders gekommen.«
»Glauben Sie das nicht, in diesem Mädchen steckt ein hartnäckiger Stolz, den kein einzelner Mensch, den, glaube ich, nur das Schicksal beugen kann. Sie wird niemand einen unbedingten Einfluß auf ihre Entschließungen gestatten.«
»Sagen Sie, Bemperchen, was ist denn eigentlich an dem Gerücht, das Ihre Frau von Berkow und den Baron miteinander in einem – sehr intimen Verhältnisse leben läßt?« fragte Sophie nach einer kleinen Pause.
»Nichts, reinweg gar nichts«, sagte Bemperlein mit großem Eifer, »ich möchte nur wissen, was die Leute eigentlich wollen! Es besteht eine Freundschaft zwischen ihnen, die sich von ihren gemeinsam verlebten Jugendjahren her datiert. Das ist alles. Wenn sie Nachbarn sind und sich infolgedessen häufig sehen, so ist doch das wahrhaftig ganz unverfänglich. Sie könnten sich ja heiraten, wenn sie sonst nur wollten. Anstatt dessen reist der Baron nach Paris und läßt sie in Schnee und Eis auf dem einsamen Berkow. Das beweist doch sonnenklar, daß von Liebe zwischen ihnen die Rede nicht ist, oder es müßte denn eine kuriose Liebe sein.«
In diesem Augenblick schrak Sophie freudig zusammen. In dem Fensterspiegel hatte sie die Gestalt eines schlanken, eleganten, schwarzbärtigen Mannes erblickt, der die nicht eben belebte Straße eiligen Schrittes heraufkam.
»Franz kommt!« rief die junge Frau, während ihre großen blauen Augen aufleuchteten und ein tieferes Rot ihre Wangen färbte. »Verstecken Sie sich, Bemperchen!«
»Aber, wohin?« rief Herr Bemperlein, von dem Fenstertritt herabspringend.
»Nur dort hinter die Portiere! Halten Sie in der Mitte fest, daß sie nicht auseinanderfällt – so!«
Die Klingel an der Haustür ertönte, unmittelbar darauf wurde die Stubentür geöffnet, und Franz trat schnell ein.
»Ist Bemperlein nicht gekommen?«
»Siehst du ihn etwa hier?«
Nun sah Franz Herrn Anastasius Bemperlein freilich nicht, wohl aber auf einem Stuhl einen Herrenhut und überdies die Falten der Portiere in einer Weise arrangiert, die nur dadurch möglich war, daß eine Hand hineingegriffen hatte und jetzt die beiden Teile fest zusammenhielt.
Er sagte:
»Dieser Bemperlein ist doch ein ganz unzuverlässiger, leichtfertiger, gewissenloser Springinsfeld; ein Mensch ohne Treu und Glauben, ohne Grundsätze; ein Scharlatan, von dem es mir schon hundertmal leid getan hat, daß ich ihn meinem Freunde Herrn Professor Planke als Bibliothekar so lange empfohlen habe, bis er ihn mit tausend Talern jährlich angestellt hat; ein Don Juan von einem Bemperlein, der mit den Frauen seiner Freunde heimliche Zusammenkünfte hat, beim Nachhausekommen des Ehemannes sich hinter der Portiere versteckt, und dabei so dumm ist, seinen Hut im Zimmer stehenzulassen; ein Harlekin von einem Bemperlein –«
»Halt«, sagte Bemperlein, den Vorhang auseinanderschlagend, »ich bin erkannt.«
Die beiden Freunde eilten aufeinander zu und umarmten sich mit großer Herzlichkeit.
»Wißt ihr, wen ich soeben gesehen habe?« sagte Franz, nachdem man das Notwendigste durchgesprochen.
»Nun?« riefen Bemperlein und Sophie.
»Den Baron Oldenburg und Frau von Berkow.«
»Unmöglich!« rief Bemperlein, einen verlegenen Blick auf Sophie werfend, den diese mit einem schalkhaften Lächeln beantwortete.
»Was ich euch sage. Ich begegnete ihnen in der Nähe des Schlosses Arm in Arm. Frau von Berkow hat mir ihre Adresse gegeben und mich gebeten, sie zu besuchen. Da! Sie hat die Kinder mit, und ich vermute, daß sie längere Zeit hierbleiben wird. Ich sagte ihr, daß wir Bemperchen heute erwarten, und sie war über diese Nachricht sehr erfreut. Auch Baron Oldenburg läßt grüßen und Ihnen sagen, daß er seit gestern mit Professor Berger von Paris zurück sei. Ihr wißt doch, daß sich die beiden in Paris getroffen und die ganze Revolution mitgemacht haben? Sie logieren Hotel de Russie Unter den Linden. Ich habe Frau von Berkow geraten, wenn sie nicht ganz besonders dringende Geschäfte hier halten, die Stadt zu verlassen, da wir voraussichtlich sehr unruhige Tage haben werden. In der Friedrichstraße schwirrt und wirrt es wie in einem Ameisenhaufen. Adjutanten und Ordonnanzen jagen ventre à terre durch die Straßen. An der Friedrich- und Bärenstraßen-Ecke sah ich sogar schon Kanonen aufgefahren. Unter den Linden soll es zu einem blutigen Zusammenstoß gekommen und ein Gardeoffizier von dem Volke arg mißhandelt sein. Einige nannten den Fürsten Waldernberg. Der Lärm ist so groß gewesen, daß das Publikum das Opernhaus, trotzdem ein neues Ballett gegeben wird, gleich nach Beginn der Vorstellung wieder verlassen hat. In der Fischerstraße hat ein Volkshaufe einen Angriff auf einen Waffenladen gemacht, und ein Bekannter will in der Grünstraße die Anfänge einer Barrikade gesehen haben. Mit einem Worte: Die Stadt ist in einer fieberhaften Aufregung, und deshalb, liebes Weibchen, wär es recht gut, du verschafftest uns Tee mit Rum, anstatt hier zu stehen und mit offenem Munde den Schreckensnachrichten zu lauschen.«
Sophie fiel ihrem Gatten um den Hals, drückte ihm einen Kuß auf die Lippen und eilte zur Tür hinaus, um das Abendbrot zu besorgen. Die beiden Freunde setzten sich unterdessen auf das Sofa und besprachen mit Ernst und Gründlichkeit ihre eigenen und die öffentlichen Angelegenheiten.