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Fünfunddreißigstes Kapitel

Seit einigen Tagen war Helene von Grenwitz die Braut Sr. Durchlaucht des Fürsten Raimund von Waldernberg, Grafen von Malikowsky, Erbherr zu Letbus.

Vorläufig allerdings im stillen, da es noch geraume Zeit brauchte, bis die Präliminarien des Bundes, der die durchlauchtige Familie Waldernberg mit der hochgeborenen Familie Grenwitz auf immer vereinigte, abgeschlossen waren, und überdies die öffentliche Feier der Verlobung in der Residenz stattfinden sollte, wohin der Fürst gleich nach Neujahr zu seinem Regiment zurückkehrte und auch die Eltern des Fürsten – die Mutter aus Petersburg, der Vater aus Paris – zu kommen versprochen hatten.

So hatte die Baronin also ihr großes Ziel glücklich erreicht, und die triumphierende Freude darüber war ihr eine reichliche Entschädigung für alle Demütigungen und Enttäuschungen, für alle die in Sorge und Angst durchwachten Nächte der letzten Monate. Sie trug ihr Haupt so stolz wie nie zuvor. Verdankte sie doch alle Erfolge, die sie im Leben gehabt hatte, und so auch diesen letzten größten nur sich allein; verdankte sie doch nur ihrer Klugheit, Mäßigung, Umsicht und Schlauheit, daß sie aus einem simplen adligen Fräulein, das keinen Pfennig im Vermögen hatte, Baronin von Grenwitz und Schwiegermutter des Fürsten Waldernberg geworden war! Hatte sie doch ihr Leben lang nicht bloß mit den Verhältnissen, sondern mit den ihr zunächst stehenden Personen kämpfen müssen: mit ihrem schwachen, energielosen, für große Pläne unzugänglichen Gemahl, mit ihrer stolzen, eigenwilligen Tochter! Hatte sie doch für alle denken und sorgen, ihnen gleichsam das Glück aufnötigen müssen!

Die Mienen der Beglückten freilich verrieten wenig oder nichts von innerer Freude und Erhebung; im Gegenteil, seitdem dies entscheidende Wort gesprochen, war ein Schleier von Verlegenheit, ja von Unmut über ihre Mienen gefallen. Des Fürsten dunkles Gesicht war noch um eine Schattierung dunkler geworden, und seine schwarzen Augen hingen oft mit einem eigentümlichen unerklärlichen Ausdruck an den schönen, stolzen Zügen seiner Verlobten, die auffallend blaß und still einherschritt und einer kalten Marmorstatue viel ähnlicher sah als einer glücklichen Braut. Indessen diese melancholische Stimmung schien gerechtfertigt durch die Sorge für den Vater, der schon lange gekränkelt hatte und nun mit einem Male sehr ernstlich krank wurde.

In der Nacht, die dem Verlobungstage folgte, hatte der alte Herr wieder einen Gichtanfall bekommen, und die herbeigerufenen Ärzte erklärten sofort, daß sie diesmal für den Ausgang nicht stehen könnten. Seit dem Augenblick war Helene an das Schmerzenslager des Vaters gebannt, um so mehr, als er nur sie um sich sehen, nur aus ihren Händen die Medizin nehmen, nur von ihr sein Kissen geglättet haben wollte.

Der frühe Winterabend begann hereinzubrechen. Auf der Straße, die mit hohem Schnee bedeckt war, herrschte tiefe Stille, die nur von Zeit zu Zeit durch die Klingel eines Schlittens unterbrochen wurde. Niemand war bei dem Kranken als Helene. Sie saß dicht an seinem Bett, hielt seine welke, in Fieber zuckende Hand in ihren warmen, weichen Händen und suchte, so gut es ging, seine immer größer werdende Unruhe zu beschwichtigen.

Unterdessen wandelte die Baronin in dem halbdunkeln Salon des Erdgeschosses auf und nieder. Die Krankheit ihres Gemahls gab ihr viel zu denken. Wenn der alte Mann sterben sollte – und die Ärzte machten so sehr ernste Gesichter –, so mußte sich ihre Lage sehr wesentlich verändern, aber sie war im ganzen mit dieser Veränderung keineswegs unzufrieden. Freilich die Ersparnisse aus den Einkünften vom Majorat, die bis jetzt ihr und Helenen zugute gekommen waren und nach dem Tode des Barons bis zu Maltes mündigem Alter zum Kapital geschlagen wurden, gingen dann verloren; aber die Gesamtsumme dieser Ersparnisse belief sich jetzt schon auf mehrere hunderttausend Taler, alle in guten Papieren angelegt – eine kleine Summe, wenn man sie mit dem Majoratsvermögen verglich; aber immerhin genug, wenn man Stantow und Bärwalde, die beiden Güter aus dem Nachlasse Haralds, dazurechnete.

In diesem Augenblick wurde der Baronin ein Brief gebracht. »Von Felix«, murmelte sie, einen Blick auf das Kuvert werfend, und sie trat an das Fenster.

Der Brief, offenbar von der zitternden Hand eines Kranken mühsam geschrieben, lautete:

Liebe Tante! Seit einigen Tagen geht es mit meinem Befinden so spottschlecht, daß, wenn dieser Brief in Ihre Hände gelangt, ich möglicherweise nicht mehr am Leben bin, kann man dies von Schmerz geplagte, gottverdammte Vegetieren überhaupt noch Leben nennen. Wie's aber auch kommt, es ist die höchste Zeit, daß ich Ihnen über die Timmsche Angelegenheit reinen Wein einschenke. Timm ist nicht, wie ich Ihnen gesagt habe, bereits abgefunden; er hat, bis das Legat Onkel Haralds verjährt ist, monatlich 400 Taler, und dann, wenn er bis dahin reinen Mund hält, weitere 6000 Taler zu fordern, die Sie ihm geben werden, wenn Sie nicht durch den Halunken in des Teufels Küche gebracht sein wollen. Pro Monat November habe ich ihm bereits 400 vor meiner Abreise von Sundin geschickt. Ich kann nicht weiter.

Ihr treuer Felix.

Die Baronin trat vom Fenster zurück, ging an den Kamin, legte den Brief auf die glühenden Kohlen und wartete bis die Flamme ihn erfaßt und verzehrt hatte. Dann schritt sie langsam in dem Zimmer, in dem es bereits zu dunkeln begann, auf und ab. Sie murmelte Verwünschungen gegen Felix, gegen Albert, gegen Oswald leise durch die Zähne. »Nicht einen Pfennig soll der Schuft haben, nicht einen roten Pfennig! Ich werde ihn zu mir kommen lassen und es ihm ins Gesicht sagen, und daß er sich hüten soll, noch ein einziges Wort – Was gibt's?« unterbrach sie sich, als der Bediente abermals ins Gemach kam.

»Herr Geometer Timm wünscht in Geschäftsangelegenheiten seine Aufwartung zu machen.«

Anna-Maria schrak zusammen. Dieses ungerufene Kommen des gefährlichen jungen Menschen sah wie eine Drohung aus. Sie hatte auf einmal alle Lust verloren, Herrn Timm ins Gesicht zu sagen, daß er nicht einen roten Pfennig von ihr zu erwarten habe.

»Melden Sie Herrn Timm, ich ließe sehr bedauern, ihn nicht empfangen zu können; der Herr Baron sei gefährlich erkrankt!«

»Das habe ich ihm schon gesagt, Frau Baronin; aber er meint, er müsse Sie in wichtigen Angelegenheiten sprechen und wolle Sie nur zwei Minuten aufhalten.«

»So lassen Sie ihn kommen, aber – Sie können Licht bringen, Johann, und dann im Vorzimmer bleiben, im Fall ich etwas auszurichten hätte.«

»Zu Befehl, Frau Baronin.«

Gleich darauf trat, von dem Bedienten, der die Tür wieder hinter ihm schloß, hereingeführt, Albert Timm in das Zimmer.

»Guten Tag, oder vielmehr guten Abend«, sagte der junge Mann, indem er sich der Baronin mit scheinbar vollkommener Unbefangenheit näherte, »ich bitte tausendmal um Entschuldigung, wenn ich zu einer ungelegenen Zeit komme. Der alte Herr ist krank, höre ich? Hoffe, es wird nicht viel zu sagen haben; wäre wieder fortgegangen; aber ich habe Ihnen in der bewußten Angelegenheit eine neue wichtige Entdeckung mitzuteilen, die keinen Aufschub verstattet. Wollen wir uns indessen nicht setzen? Sie erlauben?«

Und Herr Albert Timm schob mit einem Ruck der Baronin einen Lehnsessel hin und hatte sich in dem nächsten Augenblick in einen andern gesetzt.

Anna-Maria war noch immer nicht mit sich einig, welches Benehmen sie gegen diesen Menschen annehmen sollte. Aber sie fühlte wohl, daß man so leicht mit Herrn Albert Timm nicht fertig werde. So nahm sie denn auf dem dargebotenen Sessel Platz und sagte in ihrem feierlichsten Ton:

»Sie werden entschuldigen, wenn ich Sie unter den Ihnen schon vom Bedienten mitgeteilten traurigen Umständen ersuche, sich möglichst kurz zu fassen, Herr Geometer.«

»Bitte, bitte«, sagte Albert, »ganz mein Fall; bin im Handumdrehen fertig. Die Sache ist die: Ganz zufällig, wie denn überhaupt der Zufall eine merkwürdige Rolle in dieser Angelegenheit spielt, habe ich in Erfahrung gebracht, daß zwei Personen noch existieren, die zu der Zeit, als Fräulein Marie Montbert in Grenwitz lebte, im Dienste des Baron Harald standen und von dem Herrn Baron mit seinem ganz besonderen Vertrauen beehrt wurden, besonders auch in die ganze Entführungsgeschichte vollkommen eingeweiht waren, und wie ich nicht zweifle, bereit sein würden, in einem etwaigen Erbschaftsprozeß vor dem Gericht als Zeugen aufzutreten. Die Aussagen dieser Personen würden um so schwerer ins Gewicht fallen, als sie beide sich nicht nur des besten Leumundes erfreuen, sondern schon durch ihre Lebensstellung besonderes Vertrauen erwecken. Die eine dieser Personen ist Küster in hiesiger Stadt, ein allgemein geachteter Mann; die andere – eine Frau – lebt in Berlin und ist trotz ihres hohen Alters noch immer in ihrem Berufe – der nebenbei ein halb ärztlicher ist – tätig. Wenn ich überhaupt je gezweifelt hätte, daß der bewußte junge Mann wirklich, ich meine, vor Gericht erweislich, der Sohn des seligen Baron Harald von Grenwitz sei, so würde dieser Zweifel nach diesen neuesten Entdeckungen vollkommen bei mir geschwunden sein, und ich glaube, Frau Baronin, daß Sie mir darin beistimmen werden.«

»Darf ich Sie ersuchen, Herr Geometer, mir zu sagen, zu welchem Zwecke Sie mich mit diesen Mitteilungen beehren?« erwiderte die Baronin mit der Ruhe, die sie sich in Geschäftsverhandlungen zur unumstößlichen Pflicht gemacht hatte.

»Recht gern, Frau Baronin; ich komme eigentlich nur deshalb, Sie wissen, daß man für einen Vogel in der Hand mehr fordern kann als für einen, der vorläufig noch auf dem Dache sitzt, und daß, wer ein Ding billiger verkauft, als es wert ist, gerechten Anspruch auf den Titel eines Narren hat. Nun kennen Sie die Bedingungen, unter denen ich Baron Felix versprochen habe, in der bewußten Erbschaftsangelegenheit reinen Mund zu halten –«

»Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche, Herr Geometer. Ich weiß nichts von solchen Bedingungen; ich habe meinem Neffen Auftrag gegeben, Sie, einzig und allein zu dem Zweck, uns vor Ihnen Ruhe zu verschaffen, durch irgendeine beliebige Summe abzufinden, und mein Neffe hat mir noch vor seiner Abreise die Versicherung gegeben, daß diese Angelegenheit definitiv erledigt ist. Ich muß sie also ein für allemal bitten, nicht wieder auf abgetane Sachen zurückzukommen und mich zu entschuldigen, wenn ich Sie heute nicht länger mehr bei mir sehen kann.«

Die Baronin wollte sich erheben, als Albert mit einem so scharfen, schneidenden Tone sagte: »Bitte, behalten Sie noch einen Moment Platz, Frau Baronin!«, daß sie diesem Befehl halb aus Verwunderung und halb aus Furcht Folge leistete.

»Ich habe es satt, länger mit mir spielen zu lassen«, fuhr Albert in demselben Tone fort. »Wenn Baron Felix Ihnen nicht gesagt hat, was wir untereinander abgemacht haben, so ist er einfach zu feig dazu gewesen. Übrigens kommt auch gar nichts darauf an, ob Sie die alte Verabredung kennen oder nicht, denn ich komme gerade deshalb, um Ihnen zu sagen, daß ich nach den neuesten Entdeckungen nicht länger gesonnen bin, Sie so leichten Kaufes loszulassen. Ich fordere jetzt rund und klar vierzigtausend Taler, zahlbar binnen hier und vierzehn Tagen und ersuche Sie, mir ebenso rund und klar zu antworten, ob Sie zahlen wollen oder nicht.«

»Diese Unverschämtheit geht zu weit«, sagte Anna-Maria, sich von ihrem Sitz erhebend und nach der Schelle greifend, die neben ihr auf dem Tische stand.

»Lassen Sie das Ding stehen«, sagte Albert, »das Klingling könnte Ihnen teuer zu stehen kommen. Bedenken Sie wohl, was Sie tun! Wenn wir aufhören, gute Freunde zu sein, so gibt's einen Kampf auf Tod und Leben; und seien Sie versichert, Albert Timm gibt keinen Pardon. Noch einmal: Wollen Sie zahlen oder nicht?«

In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet. Der Bediente trat mit zwei brennenden Armleuchtern herein, dicht hinter ihm kam der Fürst. Der Bediente stellte die Leuchter auf den Tisch und entfernte sich; der Fürst bemerkte erst, als er das halbe Zimmer schon durchschritten hatte, daß außer der Baronin noch jemand da war.

»Ah pardon, Madame«, sagte er, »ich glaubte von dem Bedienten zu vernehmen, daß Sie allein seien. Befehlen Sie, daß ich mich wieder entferne?«

»Nicht doch, mein Fürst«, erwiderte Anna-Maria, »ich habe mit dem jungen Menschen nichts mehr zu reden«, und sie machte gegen Albert eine Handbewegung, die ausdrücken sollte, daß er entlassen sei.

Albert Timm wedelte mit dem Hut, den er in den auf den Rücken gelegten Händen hielt und sagte, den einen Fuß ein wenig vorstreckend: »Es scheint mir, gnädige Frau, Sie wollen, daß ich meine letzte Frage in Gegenwart dieses Herrn wiederhole?«

»Wer ist der junge Mensch?« fragte der Fürst, einigermaßen verwundert über Alberts Benehmen und das aufgeregte Wesen der Baronin.

»Ein Mensch«, antwortete diese, »der uns seit einiger Zeit unter dem Vorwande, im Besitz von Gott weiß welchen Familiengeheimnissen zu sein, mit unverschämten Forderungen verfolgt, so daß ich mich wohl genötigt sehen werde, die Polizei gegen ihn in Anspruch zu nehmen.«

Der Fürst blickte Albert aus seiner stattlichen Höhe herab von oben bis unten an, ging dann langsam nach dem Tisch, nahm das silberne Glöckchen und schellte.

Der Bediente trat sofort herein.

»Führen Sie diesen Menschen hinaus!« sagte der Fürst.

Der Bediente war über diesen Befehl so erstaunt, daß er nicht wußte, ob er recht gehört hatte oder nicht. Er blickte mit einem verlegenen Gesicht von dem Fürsten auf Herrn Albert Timm, der noch immer, mit dem Hute wedelnd, ruhig dastand; von Herrn Albert Timm auf den Fürsten.

»Haben Sie nicht gehört«, sagte dieser letztere, die schwarzen Brauen drohend zusammenziehend.

Der Mann trat einen Schritt auf Timm zu.

»Ich will Ihnen die unangenehme Alternative, von mir die Nase eingeschlagen zu bekommen oder aus dem Dienst gejagt zu werden, ersparen, guter Freund«, sagte Albert, »und deshalb selber gehen. Was Sie anbetrifft, Frau Baronin, so sprechen wir uns in kurzer Zeit wieder, aber aus einem andern Ton; und was Sie angeht, junger Mensch, so möchte ich Ihnen den guten Rat geben, sich künftig nicht in Angelegenheiten zu mischen, die Sie trotz der pompösen Airs, die Sie sich geben, durchaus nichts angehen.«

Der Fürst machte eine Bewegung nach seiner linken Seite hin. Glücklicherweise hatte er den Degen im Vorzimmer abgelegt. Albert aber wartete weitere Entschließungen des Schwergereizten nicht ab, sondern verließ mit einer spöttischen Verbeugung das Gemach.

Der Fürst sah ganz verblüfft drein, die Baronin blickte verlegen zu Boden.

»So etwas könnte bei uns in Rußland nicht vorkommen«, sagte der Fürst.

»Ich bedaure, daß Sie der Zufall zum Zeugen einer so unangenehmen Szene gemacht hat«, sagte die Baronin.

In diesem Augenblick kam der Bediente schreckensbleich wieder ins Zimmer gestürzt und rief atemlos:

»Gnädige Frau, kommen Sie geschwind, der gnädige Herr liegt im Sterben!«

»O mon Dieu!« rief die Baronin. »Wo ist meine Tochter?«

»Fassung, Madame, Fassung!« sagte der Fürst. »Ertragen Sie, was ertragen werden muß! Wollen Sie sich auf meinen Arm stützen? Sie da, leuchten Sie uns!«


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