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Dreizehntes Kapitel

Es ist Herbst. Die Türme von Sundin ragen aus dem Nebel, der aus dem Meere steigt wie graue Riesen der Vorzeit, und um die grauen Riesentürme flattern und schreien die Krähen und Dohlen, die aus den unwirtlichen Wäldern in die warme Stadt gezogen.

Die Sonne ist bereits seit einer Stunde im Meere untergesunken. Der letzte blutrote Streifen der schweren, tief ziehenden Wolken ist verblichen. In den Straßen der Stadt ist es still geworden, und der Laternenmann entzündet eine nach der andern die Öllampen, deren spärliches Licht nur dazu dient, den Nebel noch dichter und die Dunkelheit noch dunkler zu machen. Eben hat er vor dem Portale eines großen, massiven Hauses in einer der vornehmsten Straßen zwei besonders stattliche und helle Laternen angezündet, – zum ersten Male in diesem Jahre – ein Beweis, daß die hochadlige Familie, der dies Haus erb- und eigentümlich gehört und die den Sommer stets und manchmal auch den Winter auf ihren Gütern zu verleben pflegt, erst seit heute ihre Stadtresidenz bezogen hat.

Doch sind die nach der Straße blickenden Fenster des Hotels dunkel. Sie erhellen sich überhaupt selten, nur bei feierlichen Gelegenheiten, wenn die Familie eine der steifen Abendgesellschaften gibt, zu der selbstredend nur der Adel und von den Bürgerlichen höchstens die obersten Spitzen der Behörden geladen werden. Für gewöhnlich aber bleiben diese Prunkgemächer verschlossen wie die hohen Säle und Zimmer auf dem Stammschlosse, und die Familie begnügt sich mit den weniger pomphaften Räumen, die nach dem Hof hinaus liegen, und dem überaus bescheidenen, anspruchslosen Sinn der Herrin bei weitem mehr zusagen, besonders auch deshalb, weil diese Räume weniger schwer zu heizen und die Forsten des Grenwitzer Majorats nur für die lächerlich geringe Summe von jährlich zehntausend Talern verpachtet sind.

In einem dieser (übrigens noch immer stattlichen) Zimmer sitzt die Baronin Grenwitz auf dem Sofa an einem runden, teppichbedeckten Tische, auf dem zwei Wachskerzen brennen. Sie scheint seit den letzten acht Wochen um ebenso viele Jahre gealtert. Ihre Stirn ist eckiger und schmaler geworden; ihre Augen sind noch größer und noch um vieles starrer und unheimlicher als sonst. Ihr gegenüber in einem großen, weichgepolsterten Lehnstuhl lungert in einer halb liegenden Stellung ihr Neffe Felix. Der junge Mann trägt den rechten Arm in einer Binde und die krankhafte Blässe seines verwüsteten Gesichts kontrastiert seltsam mit den wie immer sauber gescheitelten und gelockten Haaren und der wie immer überaus sorgfältigen Toilette. Zwischen den beiden auf dem Tische sind Briefe und Papiere ausgestreut, die alle von derselben hübschen Hand geschrieben sind. Die Baronin und Felix scheinen soeben die Lektüre dieser Schriftstücke beendet und die Gedanken, die dadurch in ihnen erregt sind, noch nicht so weit gesammelt zu haben, um sie aussprechen zu können. Sie brüten schweigend über dem empfangenen Eindruck, während der Pendel in der Rokokouhr auf dem Kamine sein monotones Ticktack durch die Stille des Zimmers ertönen läßt.

Endlich unterbrach der junge Mann das Schweigen.

»Die Sache sieht ernsthafter aus, als wir beide gedacht haben«, sagte er, sich in seinem Lehnsessel in die Höhe richtend und das zuletzt gelesene Papier wiederum zur Hand nehmend.

»Ich glaube noch immer von alledem kein Wort«, erwiderte die Baronin.

»Das ist stark, liebe Tante! Trotzdem Sie die ganze miserable Geschichte schwarz auf weiß gelesen.«

»In Timms Hand! Von Timms Hand! Was kann der Bube nicht alles erfunden und zusammengeschrieben haben!«

»Sicher nichts, als was in den Originalen steht.«

»Und weshalb schickt er uns nicht die Originale selbst?«

»Aber, verzeihen Sie, liebe Tante, diese Frage ist beinahe naiv. Uns die Originale ausliefern, das heißt: die Waffen, die er gegen uns in Händen hat, wäre ein Edelmut oder ein Leichtsinn, den Sie einem so schlauen Fuchs wie meinem guten Freunde Timm doch unmöglich im Ernst zumuten können. Daß er nicht entlarvt, sondern nur von uns überlistet oder überrumpelt zu werden fürchtet, beweist sein Anerbieten, die Originale jederzeit in Gegenwart eines unparteiischen Dritten unserer genauesten Prüfung zu unterwerfen. Nein, nein, liebe Tante, geben Sie sich keinen leeren Hoffnungen hin. Diese Briefe und Papiere existieren wirklich, darauf können Sie Gift nehmen.«

»Was?«

»Ich meine, darauf können Sie sich verlassen. Ich meinerseits bin von der Verwandtschaft des Monsieur Stein mit der Familie der Grenwitz überzeugt wie von meinem eigenen Dasein und hasse demzufolge den Menschen, wie man einen unbequemen Verwandten zu hassen pflegt, besonders wenn er ein so naseweiser, eitler, aufgeblasener, impertinenter, verdammter Schuft ist wie dieser Halunke von einem nichtsnutzigen Federfuchser.«

Diese Flut von keineswegs salonfähigen Wörtern würde unter andern Umständen unzweifelhaft dem Exleutnant eine Zurechtweisung seiner hochmoralischen Tante zugezogen haben. In diesem Augenblick war die Dame mit wichtigeren Dingen beschäftigt.

»Aber bewiesen ist ja doch noch gar nichts«, sagte sie mit halsstarriger Heftigkeit, »solange die Identität dieses Menschen mit dem Kinde dieser Marie Montbert nicht durch unumstößliche Dokumente festgestellt ist. Die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit der Sache zugegeben, so werden wir doch nicht für Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten Hunderte von Talern wegwerfen sollen.«

»Hunderte?« erwiderte Felix mit einer Art von verächtlichem Lächeln. »Sagen Sie dreist Tausende! So billig läßt uns Timm nicht aus seinen saubern Krallen.«

»Das kann Ihr Ernst nicht sein«, sagte die Baronin, ihre Augenbrauen in die Höhe ziehend. »Soweit kann und wird der Mensch seine Unverschämtheit nicht treiben.«

»Nous verrons«, antwortete der Dandy lakonisch und ließ sich in seinen Lehnstuhl zurücksinken. Eine Pause in dem Gespräch der Mitschuldigen trat ein, die von Felix dazu benutzt wurde, die Nägel seiner Finger einer eingehenden Musterung zu unterwerfen, und von der Baronin, die auf dem Tisch zerstreuten Papiere nach den Nummern (denn sie waren alle sorgfältig numeriert) zusammenzulegen und zu ordnen.

»Der Herr bleibt lange«, sagte die Baronin.

»Er spielt den Gleichgültigen«, erwiderte Felix. »Ich kenne das von früher her. Wenn er vorgab, müde zu werden und nach Hause gehen zu wollen, konnte man sicher sein, daß er entschlossen war, die Bank zu sprengen.«

In diesem Augenblick meldete ein Diener: »Herr Geometer Timm wünscht seine Aufwartung zu machen.«

»Lassen Sie ihn eintreten«, sagte die Baronin, sich mit gewohnter Würde emporrichtend; aber ihre Stimme war weniger fest als sonst.

»Bewahren Sie um Himmels willen Ihre Ruhe, Tante!« sagte Felix in fliegender Eile, während der Diener Timm zu rufen ging. »Sobald der Schuft merkt, daß unser Puls schneller geht, zieht er die Daumschrauben um eine Windung fester an.«

»Ich bin vollkommen ruhig«, erwiderte die Baronin, während die ungewöhnliche Röte auf ihren Wangen und der schnelle Atem gerade das Gegenteil verkündeten.

Eine halbe Minute gespannter Erwartung von seiten der im Zimmer Befindlichen, und die Tür ging auf, und Herr Albert Timm trat mit leichten Schritten in das Zimmer.

Seine Erscheinung war, abgesehen von seiner Toilette, die ein wenig städtischer und sorgfältiger schien, genau dieselbe, wie Anna-Maria sie noch vom Sommer her in der Erinnerung hatte: dieselbe weiße klare Stirn, dieselben hintenübergekämmten blonden Haare, dieselben frischen, roten Backen, dasselbe übermütige Lächeln auf dem hübschen glatten Gesicht. Wenn die Baronin ihren Liebling, trotzdem er sich so gar nicht verändert hatte, jetzt mit sehr anderen Augen ansah, so lag die Schuld offenbar auf ihrer Seite, und Herr Timm konnte dem kalten Empfang ohne Zweifel keinen Einfluß auf die Wärme seiner Begrüßung verstatten.

»Guten Abend, gnädige Frau! Guten Abend, Baron!« sagte Herr Timm mit seiner klaren, frischen Stimme, indem er Anna-Maria die ihm nur mit Widerstreben dargebotene Rechte küßte und Felix freundschaftlich die Linke (die andere Hand lag in der Binde) schüttelte. »Freue mich ausnehmend, Sie so wohl und munter aussehend zu finden, Frau Baronin; und was Sie angeht, Baron – na, so kann man wenigstens sagen: den Umständen angemessen. Sie erlauben, daß ich Ihrem Beispiele folge –«

Und Herr Timm rückte einen von den schweren Lehnstühlen, die um den Tisch standen, heran, setzte sich hinein und schaute die beiden mit Augen an, die, soweit man es durch die Brillengläser sehen konnte, vor Übermut oder Schadenfreude glitzerten.

»Höchst komfortabel«, fuhr er fort, die Füße von sich streckend und mit den flachen Händen auf die Lehnen klopfend. »Und der Herr Baron ist noch auf Grenwitz geblieben? Muß jetzt verteufelt unheimlich sein in dem großen, alten, feuchten Kasten.«

»Der Baron hatte noch einige notwendige Geschäfte abzuwickeln«, sagte die Baronin, um doch etwas zu sagen.

»Geschäfte!« rief Herr Timm. »Wie kann sich nur jemand, wie der Baron, dessen Geschäft doch offenbar darin besteht, keine Geschäfte zu haben, um Geschäfte kümmern. Unbegreiflich!«

»Sie müssen das doch ganz gut begreifen können, Timm«, sagte Felix, »ich wüßte sonst nicht, weshalb Sie sich in eine bewußte Angelegenheit gemischt hätten.«

»Eine Angelegenheit ist kein Geschäft«, replizierte Timm.

»Aber man macht manchmal eins daraus«, sagte Felix.

»Zum Beispiel, wenn man von Juden Geld borgt und sie hernach, wenn's an das Bezahlen geht, auf Wucher verklagt« erwiderte Timm.

Diese Reminiszenz aus Felix' Kadettenleben war so wenig nach dem Geschmack des Exleutnants, daß er sich ungeduldig in seinem Stuhl herumwarf und mit hörbar gereiztem Ton sagte:

»Ich dächte, wir können endlich einmal zur Sache kommen.«

»Mit Vergnügen«, sagte Herr Timm, seinen Stuhl um einige Zoll näher an den Tisch rückend, mit einer Miene, die seine Worte durchaus nicht Lügen strafte.

»Sie haben die Güte gehabt«, begann Felix, während die Baronin mit gefurchter Stirn und gesenkten Augenlidern düster in ihren Schoß starrte, »uns auf unseren Wunsch Kopien von den bewußten Briefen und so weiter zu senden, die Sie unter den zurückgelassenen Akten Ihres verstorbenen Herrn Vaters gefunden haben wollen –«

»Sie meinen: gefunden haben, Baron.«

»Meinetwegen: gefunden haben. Wir können das zugeben, ohne uns etwas zu vergeben; denn wie Sie nun vermittels dieser Papiere dem fabelhaften Sohne meines Onkels Harald zu seinem Rechte verhelfen wollen – wie Sie in einem Ihrer Briefe sich auszudrücken die Güte haben –, ist auf keine Weise abzusehen.«

»Das kommt darauf an, welchen point de vue man überhaupt für die Frage nimmt«, erwiderte Herr Timm.

»Und darf ich bitten, mir den Ihrigen etwas genauer anzudeuten?«

»Warum nicht; ich mache mir sogar ein spezielles Vergnügen daraus. Meiner Meinung nach liegt die Sache etwa so: Ich habe hier eine Reihe von Dokumenten und Papieren, die nicht nur über das Verhältnis des Baron Harald mit Mademoiselle Marie Montbert das klarste Licht verbreiten, sondern auch in der Hand eines klugen, praktischen Mannes (wie es jeder beliebige gute Advokat ist) einen Faden abgeben würden, um über das Verbleiben besagter Marie Montbert, respektive ihres Kindes, das heißt also: über das Verbleiben der im Testamente des Baron Harald als Erben von Stantow und Bärwalde bezeichneten Personen eine sichere Kunde zu gewinnen.«

»Was nennen Sie sicher, Herr Timm?« fragte die Baronin.

»Was sich beweisen läßt, gnädige Frau. Beweisen läßt sich aber, daß die von mir angedeutete Person, in der ich durch eine glückliche Verkettung höchst eigentümlicher, fast wunderbarer Umstände den bewußten Erben gefunden zu haben glaube, erstens denselben Namen führt, den Monsieur d'Estein (ich bitte Sie den Brief Nr. 25 einzusehen) nach der Entführung der Marie Montbert von Grenwitz annehmen zu wollen erklärt; zweitens, daß ein Mann namens Stein in Begleitung einer jungen Person, die für seine Frau, und eines Kindes, das für seinen Sohn galt, kurze Zeit nach Baron Haralds Tod in Wolgast einwanderte.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Felix.

»Weil ich selbst dort gewesen bin und die alte Frau gesprochen habe, in deren Haus Herr Stein vom ersten bis zum letzten Tage seines Aufenthaltes in jener Stadt gelebt hat.«

»Weiter.«

»Drittens, daß dieser Herr Stein dieselbe Person ist, die Marie Montbert von Grenwitz entführte, das heißt, Monsieur d'Estein, der, sich der jungen Dame anzunehmen, einzig und allein das Recht und die Pflicht hatte.«

»Weshalb dieselbe Person?«

»Weil der Mann, der die Entführung bewerkstelligte, genauso aussah wie der Mann, der wenige Monate später in Wolgast einwanderte.«

»Das dürfte denn doch schwierig zu beweisen sein!« rief Felix mit ungläubigem Lächeln.

»Nicht so schwierig, als Sie vielleicht glauben. Ich habe, ganz zufällig, den Mann aufgefunden, bei dem sich Monsieur d'Estein – schon damals unter dem Namen Stein – vierzehn Tage lang aufgehalten hat, um die Gelegenheit in Grenwitz zu erspähen, und der auch hernach in der Nacht der Entführung das Paar in seinem Wagen von Grenwitz bis an die Fähre, über die Sie heute noch gekommen sind, gebracht hat. Dieser Mann heißt Clas Wendorf, wohnt in Faschwitz und ist jedermann, auch dem Pastor Jäger, als ein durchaus glaubwürdiges Individuum bekannt. Eine Konfrontation dieses Mannes mit der Frau Pahnke in Wolgast würde die Identität des Entführers der Marie Montbert, das heißt des Monsieurs d'Estein, mit dem französischen Sprachlehrer Stein bis zur Evidenz klarmachen.«

Die Baronin und Felix warfen sich während dieser Auseinandersetzung Blicke zu, die die Bestürzung, in die sie durch die unwiderstehliche Logik von Herrn Timms Argumenten versetzt waren, deutlich genug verrieten.

»Sie haben die vier Wochen gut angewandt«, sagte Felix.

»Es geht so«, sagte Herr Timm gemütlich. »Die Tage sind jetzt schon ein wenig kurz. Überdies mußte ich, um mein Versprechen zu halten, niemand in die Sache blicken zu lassen, bevor ich Ihnen vollständige Mitteilung gemacht hatte, bei den Erkundigungen, die ich einzog, sehr vorsichtig zu Werke gehen. Wenn wir hernach ohne diese Vorsichtsmaßregeln operieren und alle Hilfsmittel, die uns das Gesetz in die Hand gibt, benutzen können, so läßt sich in vier Tagen mehr tun, als jetzt in ebensoviel Wochen.« Und Herr Timm rieb sich vergnügt die Hände.

»So denken Sie wirklich daran, diese abenteuerliche Geschichte ins Publikum zu bringen?« sagte Anna-Maria mit einem Ton, der ironisch sein sollte.

»Ich verstehe Sie nicht, gnädige Frau«, erwiderte Herr Timm mit einer Miene treuherziger Einfalt, die ihm in einem Lustspiel den Applaus der Kenner des Parketts eingetragen haben würde.

»Ich meine: Beabsichtigen Sie in der Tat gegen unsern Wunsch und Willen eine Familienangelegenheit, die doch uns allein angeht, die nebenbei schon seit vielen Jahren begraben und vergessen ist, der Öffentlichkeit, das heißt dem Gespött und dem Geklatsch plebejischer gemeiner Menschen preiszugeben?«

Der Applaus der Kenner würde sich bei weiterer Beobachtung von Herrn Timms ausdrucksvollem Gesicht erneuert haben.

»Gegen Ihren Wunsch und Willen – eine Angelegenheit, die Sie allein angeht. – Ich habe wirklich nicht das Vergnügen zu wissen, wie ich die Worte der Frau Baronin deuten soll. Ich kann unmöglich glauben, daß es gegen den Wunsch einer Dame von dem bekannten strengen Rechtlichkeitsgefühl der Baronin von Grenwitz ist, wenn der letzte Wille eines Sterbenden heilig gehalten wird; wenn der Zufall oder die Vorsehung es so fügt, daß dieser Wille gegen alles Menschenerwarten nach soviel Jahren doch noch zur Ausführung gelangt; ich kann nicht glauben, daß Sie – aber was rede ich denn? – Sie werden mich auslachen, daß ich den Scherz, mit dem Sie meine vielleicht übergroße Dienstfertigkeit ironisierten, einen Augenblick für Ernst genommen habe. Weiß ich doch besser als andere, daß ich ganz in Ihrem Sinn gehandelt habe, wenn ich die aufgefundenen Dokumente, das heilige Vermächtnis Dahingeschiedener, als einen Schatz bewahrte; wenn ich, soviel in meinen Kräften lag, getan habe, den Schatz zu heben. Weiß ich doch, daß Ihr Zögern, Ihre Ungläubigkeit, Ihr Mißtrauen nur aus der edlen Furcht stammt, in dem Herzen eines Ihrer Mitmenschen glänzende Hoffnungen zu erwecken, die vielleicht – denn unmöglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich, ist ja nicht, daß wir uns irren – der Erfolg nicht realisiert. Weiß ich doch, daß alle Beteiligten in dieser Sache nur einer Meinung sind, nur einer Meinung sein können, daß vor allem Ihr edler Herr Gemahl, dem Sie ohne Zweifel von dem allem ausführliche Mitteilung gemacht haben, sich freut, eine alte, glücklicherweise noch nicht verjährte Schuld abzutragen.«

Die Situation einer eingefangenen Bärin, die die immer heißer werdenden Platten ihres Käfigs zwingen, sich auf die Hinterfüße zu stellen und graziös zu tanzen, während sie am liebsten durch das Gitter brechen und ihre Peiniger zerreißen möchte, gleicht aufs Haar der, worin sich die Baronin von Grenwitz befand, als Herr Timm mit so grausamer Ironie an eine Rechtlichkeit und Billigkeit appellierte, die sie ihr Leben lang zur Schau getragen hatte und von der sie eben nur den Schein besaß. In ihrem stolzen, egoistischen Herzen kochte es. Wut und Rache erfüllten ihre Seele. Sie hätte Timm, der mit lächelnder Miene vor ihr saß, vergiften, erdolchen, erwürgen mögen. Und sie konnte nichts, nichts, als ihren ohnmächtigen Grimm verschlucken und mit soviel Ruhe, als sie aufbringen konnte, sagen:

»Wir sehen die Sache nicht ganz so an wie Sie, Herr Geometer; und es ist auch kein Wunder, daß Sie, der Sie draußen stehen, nur die Außenseite zu Gesicht bekommen. Ich fühle mich leider heute abend zu angegriffen, um Ihnen meine Ansicht von der Sache darzulegen. Ich habe meinen Neffen Felix gebeten, dies an meiner Statt zu tun, und bitte Sie deshalb, was er Ihnen mitteilen wird, so anzusehen, als ob ich selbst es Ihnen gesagt hätte. Ich bin überzeugt, daß Ihnen die Wahl zwischen der Freundschaft der Familie Grenwitz und der eines namenlosen Abenteurers nicht schwerfallen wird. Leben Sie wohl, Herr Geometer.«

»Bedaure unendlich, daß wir nicht länger das Vergnügen haben können, gnädige Frau«, sagte Herr Timm, die fortgehende Baronin bis zur Tür des nächsten Zimmers begleitend, »hoffe, daß es nur eine vorübergehende Indisposition ist, die eine längere Ruhe beseitigen wird. Wünsche wohl zu schlafen, gnädige Frau!«

Und Herr Timm schloß die Tür hinter der Baronin, kam wieder zurück, setzte sich Felix gegenüber in den Lehnstuhl, stemmte die Hände auf die Knie und sagte in einem kurzen, trocknen Ton, der seltsam mit der glatten Freundlichkeit seiner bisherigen Redeweise kontrastierte:

»Eh bien!«

Es erfolgte nicht sogleich eine Antwort. Die beiden betrachteten ein paar Sekunden lang einer den andern mit scharfen, argwöhnischen Blicken, wie zwei Kämpfer, die sich ihre Blößen gegenseitig ablauern wollen, wie zwei falsche Spieler, von denen jeder weiß, daß er dem andern sehr genau auf die Finger sehen muß und dabei doch noch immer vor einer Teufelei nicht sicher ist. Dazu kam, daß sie von der Zeit her, wo der Portepeefähnrich Baron von Grenwitz den Portepeefähnrich Albert Timm in der Schlinge stecken ließ und sich selbst salvierte (es handelte sich um eine fatale Wechselsache), eine alte Rechnung miteinander abzumachen hatten, und Felix wußte sehr wohl, daß Albert zu denen gehörte, die sich, wenn das Gesetz oder die Macht auf ihrer Seite ist, von ihren Schuldnern auf Heller und Pfennig bezahlen lassen.

Er mußte deshalb seine ganze Gewandtheit aufbieten, um trotz des unbehaglichen Gefühls, das ihn, einem so gerüsteten, schonungslosen Gegner gegenüber, befiel, mit einer gewissen gutmütigen Offenheit, die ihm sehr seltsam stand, zu antworten:

»Ich denke, Timm, wir behandeln die ganze Affäre ohne alle Heuchelei und Winkelzüge wie zwei Menschen, die die Welt kennen und wissen, was sie wollen.«

»Wenn Sie so genau wissen, was Sie wollen, wie ich weiß, was ich will, so wird der ganze Handel sehr einfach sein«, antwortete Albert trocken.

»Nun sagen Sie aufrichtig, was wollen Sie denn?«

»Ich bin der Verkäufer, Sie der Käufer; es kommt Ihnen also zuerst zu, deutlich auszusprechen, was Sie von mir wollen.«

»Wir wollen die Originale jener Kopien dort auf dem Tisch und Ihr Ehrenwort, daß Sie niemals gegen irgendwen, sei es, wer es sei, durch Schrift oder Rede oder auf irgendeine Weise von der Entdeckung, die Sie gemacht haben, etwas verlauten lassen.«

»Bon! Die Forderung ist klar.«

»Und Ihre Gegenforderung?«

Albert beugte sich etwas vornüber und sagte mit leiser, aber sehr deutlicher Stimme – während seine Augen fest auf dem Gegner ruhten:

»Zwanzigtausend Taler Preußisch-Kurant, zahlbar binnen hier und acht Tagen.

»Sie sind des Teufels«, rief Felix, trotz seiner Schwäche aus dem Lehnstuhl auffahrend und in dem Zimmer umherrennend, »zwanzigtausend Taler, das ist ja ein ganzes Vermögen!«

Albert zuckte die Achseln:

»Die Zinsen zweier Jahre von dem Kapitale, das in Stantow und Bärwalde steckt. Sie müssen ja am besten wissen, was Ihnen das Legat wert ist.«

»Aber das ist ja horribel!« rief Felix, noch immer im Zimmer umherlaufend, »horribel!«

»Schreien Sie nicht so, Grenwitz; oder Ihre Leute hören es in der Küche. Setzen Sie sich gefälligst und lassen Sie uns von der Sache reden wie zwei Männer, die die Welt kennen.«

Die unerschütterliche Kaltblütigkeit und der schneidende Hohn, mit dem Albert diese Worte sprach, wirkten wie eine Dusche auf Felix' leidenschaftliche Heftigkeit. Er setzte sich wieder und sagte in ruhigerem Tone:

»Meine Tante wird niemals eine so hohe Forderung bewilligen.«

»Das sollte mir der Frau Baronin und Ihretwegen leid tun, denn, wenn Sie auf meinen Vorschlag nicht eingehen, so – haben Sie sich für die Folgen nur selbst verantwortlich zu machen.«

»Sie sprechen, als ob es einzig und allein von Ihnen abhinge, wer die beiden Güter haben soll.«

»Und von wem sonst sollte es abhängen?« erwiderte Albert – und seine Lippen schienen dünner, seine Nase spitzer, sein Gesicht schärfer zu werden, während er sprach, »ich sage Ihnen, ich habe das Netz bis auf einige Maschen, die ich absichtlich offen ließ, bis ich Ihre Entscheidung vernommen, so dicht und stark gewebt, daß ich es Ihnen jederzeit über dem Kopf zusammenziehen kann und Sie sich eher zu Tode zappeln, als es zerreißen werden. Sie wissen, Grenwitz, daß ich mich eines guten Kopfes für dergleichen erfreue. Sie wissen auch, daß ich Ihnen gegenüber durchaus keine Veranlassung habe, den Großmütigen zu spielen.«

»Mir gegenüber? Ich persönlich habe nicht das mindeste Interesse an der Sache.«

»Ich glaube, Sie halten mich für ein Kind, Grenwitz. Wollen Sie Fräulein Helene nicht heiraten und sind die beiden Güter nicht die Aussteuer der jungen Dame?«

»Ich Helene heiraten? Wer sagt das? Es fällt mir nicht im Traum ein.«

»Gut, so heiraten Sie sie nicht; so überlassen Sie die junge Schönheit einem Menschen, den Sie vor allen andern zu hassen Ursache haben, der schon jetzt als Ihr begünstigter Nebenbuhler – so sagt wenigstens die böse Welt – aufgetreten ist und der in den Augen Fräulein Helenens dadurch nicht gerade schlechter werden wird, wenn er als Vetter und rechtmäßiger Erbe eines bedeutenden Vermögens zum zweiten Male kommt.«

Felix war bei diesen Worten seines unerbittlichen Peinigers abwechselnd blaß und rot geworden. Seine durch die Erwähnung des fatalen Handels mit Oswald tief verletzte Eitelkeit krümmte sich wie ein zertretener Wurm. Er konnte nicht umhin, sich zu gestehen, daß Albert in diesem Augenblicke der bei weitem Stärkere, und daß er, der sich auf seine Klugheit und Gewandtheit so viel einbildete, machtlos in der Hand eines im Grunde so verachteten Gegners war.

»Ziehen Sie mildere Saiten auf, Timm«, sagte er fast kleinlaut. »Ich will es zugeben, mir liegt ungeheuer viel daran, daß die Geschichte totgeschwiegen wird, und wenn es auf mich ankäme, so würde ich mich vielleicht zur Zahlung der Summe, die Sie fordern, verstehen. Aber Sie kennen meine Tante und wissen, daß Sie es lieber auf das Äußerste ankommen lassen, als sich so tief ins Fleisch schneiden wird. Ich sage Ihnen, Timm: Es geht nicht; es geht auf Ehre nicht! Und was wollen Sie auch mit so vielen, Gelde auf einmal? Sie können es in ein paar Unglücksnächten beim Roulette verlieren und sind dann ärmer, als Sie vorher waren.

Kommen Sie! Ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Wir zahlen Ihnen ein Jahr lang monatlich vierhundert Taler und nach Ablauf des Jahres sechstausend Taler auf einem Brett.«

»Macht zusammen zehntausendachthundert«, antwortete Albert, »reicht nicht; und überdies, welche Sicherheit habe ich, daß die Termine richtig gehalten werden?«

»Die Dokumente, die in Ihrer Hand verbleiben und die erst bei Auszahlung der sechstausend von Ihnen ausgeliefert werden.«

»Hm!« sagte Albert, »es ist nicht viel; aber unter guten Freunden darf man die Sache nicht so genau nehmen. Machen wir es schriftlich.«

»Wozu? Wenn wir unser Wort nicht halten wollen, brechen wir es doch, und überdies, die Ehre der Familie Grenwitz könnte ein Dokument der Art, wenn es in falsche Hände käme, leicht stärker kompromittieren, als uns lieb sein dürfte, und würde, alles in allem – nur eine Waffe mehr in Ihren Händen sein. Wollen Sie die ersten vierhundert sofort?«

»Ich dächte, es wäre das beste.«

Felix stand auf, nahm eins der Lichter und ging an ein Schreibpult, das in der Tiefe des Zimmers stand, öffnete einen Schrank, nahm ein paar Banknoten heraus und legte sie vor Albert auf den Tisch.

»Zählen Sie!«

»Ist nicht nötig«, sagte Albert, nach einem kurzen scharfen Blick auf die Pakete, »Ihre Frau Tante verzählt sich nicht. – So, Grenwitz, die Angelegenheit wäre glücklich geordnet. Und nun lassen Sie uns eine Flasche Wein darauf trinken: Das viele Sprechen hat mich ganz durstig gemacht. Erlauben Sie, daß ich die Schelle ziehe.«

»Bitte.«

Felix befahl dem eintretenden Bedienten, eine Flasche Rheinwein und zwei Gläser zu bringen.

Es war Felix nicht unlieb, daß Albert in eine gemütliche Stimmung geriet; er hatte ihn noch um etwas zu fragen; worüber ihm niemand bessere Auskunft geben konnte.

»Sie haben gesehen, Timm«, sagte er, während er die Gläser füllte, »daß ich Ihnen so weit entgegengekommen bin, als ich konnte. Eine Liebe ist der andern wert. Wollen Sie mir einen Gefallen tun?«

»Lassen Sie hören.«

»So sagen Sie mir: Wie stehen Sie mit der kleinen Marguerite?«

»Weshalb interessiert Sie das?«

»Weil ich mich für die Kleine interessiere.«

»Und weshalb glauben Sie, daß es mir ebenso geht?«

»Weil ich euch beide in Grenwitz beobachtet habe und sodann aus – nun, aus verschiedenen anderen Gründen.«

»Zum Beispiel?«

»Ich will aufrichtig sein. Ich habe aus lieber Langerweile schon früher in Grenwitz und noch mehr während meiner Krankheit angefangen, der Kleinen den Hof zu machen, und damit aufgehört, sie wirklich ganz charmant und höchst begehrungswürdig zu finden. Die Kleine tut aber so spröde, daß sie notwendig ein ernstliches Attachement haben muß. Ich wüßte niemand, der mir den Rang abgelaufen haben könnte, als Sie.«

»Sehr schmeichelhaft«, sagte Albert. »Ich bin in der Tat mit der jungen Dame so gut wie verlobt.«

»Aber Timm, wollen Sie denn mit offenen Augen ins Verderben rennen! Sie und eine Frau! Und noch dazu eine arme Frau! Wo haben Sie denn Ihre früheren Grundsätze gelassen. Aufrichtig, ich hätte Ihnen eine solche Torheit nicht zugetraut.«

»Ich mir auch nicht«, erwiderte Albert, sein Glas leerend und wieder füllend.

»Lieben Sie das Mädchen?«

»Da fragen Sie mich wirklich mehr als ich selber weiß.«

»Hören Sie, Timm, ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Wir sind heute einmal in einer spekulativen Stimmung. Lassen Sie mir das Mädchen und ich übernehme die dreihundert Taler, um die Sie die Ärmste angepumpt haben.«

»Wer sagt das?« rief Albert auffahrend.

»Ihre augenblickliche Heftigkeit zum Beispiel; außerdem aber auch die kleine Luise, Helenens Kammerjungfer, und nebenbei meines Kammerdieners Schatz, die zufällig sah, wie Marguerite Ihnen im Grenwitzer Park das Geld gegeben hat.«

»Dummes Zeug!« sagte Albert.

»Ärgern Sie sich nicht!« sagte Felix, »sondern seien Sie froh, daß sich jemand findet, der gutmütig genug ist, Ihnen die unbequeme Last abzunehmen. Wollen Sie?«

»Wir sprechen schon noch darüber«, sagte Albert aufstehend und nach seinem Hut greifend. »Leben Sie wohl, Grenwitz!«

»Adieu! Seien Sie vernünftig, Timm, und sehen Sie sich bald einmal wieder nach Ihrem alten Kameraden um.«

Das würdige Paar schüttelte sich die Hand, Albert entfernte sich rasch. Sein Gesicht war finsterer als bei seiner Ankunft. Entweder hatte ihm der zweite Teil der Unterhaltung nicht gefallen, oder er hielt es auch nur in seinem Interesse, den Beleidigten zu spielen. Felix, der ihn von früher her ziemlich genau kennen mußte, neigte zu der letzteren Ansicht.


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