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Zweiundvierzigstes Kapitel

In einem Zimmer der dritten Etage desselben Hotels saß zu eben der Stunde eine junge Dame, die mit ihrem Gatten – dafür nahm man wenigstens den Herrn, der sie begleitete – unlängst in dem Hause angekommen war. Da auf den Reiseeffekten »Paris« stand und der Herr mit der Dame französisch gesprochen hatte, so nahm man im Hause an, daß es Franzosen seien, um so mehr, als das Hotel gerade von Franzosen sehr stark frequentiert wurde. Frau Hauptmann Schwarz, die Besitzerin des Hotels, hatte selbst die Fremden auf ihr Zimmer geführt, und, da die junge Dame angegriffen und leidend aussah, teilnehmend gefragt, ob sie etwas für Madame tun könne? Der Herr hatte gebeten, Tee zu besorgen und im übrigen alle Dienstleistungen abgelehnt; bald darauf war er ausgegangen.

Er war kaum fünf Minuten fort, als eine Droschke, die seit dem Augenblick, wo die Fremden gekommen waren, ein paar Schritte die Straße weiter hinauf gehalten hatte, vor dem Hause vorfuhr. Ein junger Mann stieg aus und fragte den Portier, ob ein Herr oder eine Dame, die vor einer Viertelstunde etwa aus Paris gekommen wären, zu Hause seien? Als der Portier antwortete, daß der Herr soeben mit dem Bemerken, er werde in einer Stunde etwa wiederkommen, das Haus verlassen habe, Madame aber, soviel er wisse, sich auf ihrem Zimmer befinde, bat der junge Mann, ihn unverzüglich zu ihr zu führen. Der Portier – ein vielerfahrener Mann – sah, daß der junge Mann, der übrigens offenbar den höheren Ständen angehörte, sehr aufgeregt war, und da ihm neun Uhr abends nicht die ganz geeignete Zeit schien, eine Dame, die allein auf ihrem Zimmer war, in einem ehrbaren Hotel aufzusuchen, sagte er, er glaube nicht, daß die Dame noch zu sprechen sei; ob der Herr nicht lieber morgen früh wiederkommen wolle?

»Ich habe es sehr eilig«, sagte der junge Mann, »ich – ich muß die junge Dame in – Familienangelegenheiten sprechen. Wollen Sie nicht einmal nachfragen lassen, ob sie nicht noch Besuch empfängt, und ihr« – er besann sich einen Augenblick – »und ihr diese Karte bringen.«

Die Hand des jungen Mannes zitterte so sehr, als er die Karte hinreichte, und sein Gesicht war so blaß und verstört, daß der Portier mehr wie überzeugt war, die Sache sei nicht richtig und die Zusammenkunft des jungen Herrn mit der französischen Dame könne nur auf Kosten des ausgegangenen Herrn stattfinden.

»Was will ich denn«, sagte er, »da hängt ja der Schlüssel; sie sind alle beide ausgegangen.«

Der junge Mann hielt das Etui noch in der Hand.

»Ich bin überzeugt«, sagte er, indem er ein Goldstück aus dem Etui nahm und es dem Portier in die Hand drückte, »daß die Dame zu Hause ist und daß sie mich empfangen wird, wenn man ihr die Karte bringt.«

Der Portier war ein ehrlicher Mann, aber er hatte eine zahlreiche Familie und mußte morgen das Schulgeld für die beiden ältesten Kinder bezahlen.

»Drei Treppen, die zweite Tür auf dem Korridor links«, sagte er mürrisch.

Der junge Mann sprang, immer drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und klopfte an die bezeichnete Tür.

»Entrez!« antwortete eine leise Stimme.

Die junge Dame war, nachdem ihr Begleiter sie verlassen – er hatte nach der langen Fahrt das Bedürfnis gefühlt, noch ein Stündchen in den Straßen umherzuwandern – unbeweglich in der Sofaecke sitzen geblieben, den Kopf in die eine Hand gestützt, während die andere schlaff an ihrer Seite herabhing. Der Schein der Lichter auf dem Tische vor ihr fiel hell in ihr Gesicht. Es mochte ein gar reizendes Gesicht sein, wenn es, wie es wohl konnte, von Übermut und Lebenslust strahlte; aber jetzt war es blaß und die Züge vom Weinen wie verzerrt. Die großen grauen Augen starrten auf den Fußboden; die schönen Brauen waren düster zusammengezogen und die Lippen aufeinandergepreßt. Mechanisch hatte sie Entrez! gesagt, als der Kellner klopfte, um den Tee zu bringen; sie hatte nicht einmal emporgeblickt, während er die Sachen auf dem Tisch ordnete, und er mußte seine Frage, ob Madame noch etwas zu befehlen habe, zweimal wiederholen, bevor sie mit einem kurzen Nein! antwortete; ja sie hatte, sobald er die Tür hinter sich geschlossen, vergessen, daß er dagewesen, und sagte, als es unmittelbar darauf wiederum klopfte, ebenso mechanisch wie das erste Mal: »Entrez!«

»Emilie!«

Die junge Dame fuhr mit einem Schrei in die Höhe und starrte den jungen Mann, der vor ihr stand, mit weitgeöffneten Augen an, als ob sie jäh aus tiefem Schlaf erwache und nicht wisse, ob das, was sie da vor sich sah, ein Traumbild sei oder Wirklichkeit.

»Emilie!« wiederholte der junge Mann und breitete seine Arme aus.

»Adolf!« rief sie, sich an seine Brust werfend, »Adolf!«

Die Geschwister hielten sich umschlungen, wie sie sich in den Tagen ihrer Kindheit umschlungen hatten, wenn der Bruder aus den Ferien nach Hause kam und die Schwester ihm schon bis an die Grenze des Parks entgegengegangen war; aber heute riß Emilie sich alsbald aus seinen Armen, und rief, die Hände, wie um ihn abzuwehren, vor sich streckend:

»Wo kommst du her? Was willst du hier?«

»Kannst du das fragen, Emilie?« erwiderte er traurig. »Was ich hier will? Dich! Woher ich komme? Von Paris, wo ich nach monatelangem Suchen deine Spur fand, in dem Augenblicke, als du abreistest, und von wo ich dir von Stadt zu Stadt, von Gasthof zu Gasthof gefolgt bin, ohne daß es mir einmal gelungen wäre, dich allein zu finden. – Nicht, als ob ich mich vor ihm fürchte!« sagte der junge Mann, indem er sich unwillkürlich stolz zu seiner vollen stattlichen Höhe aufrichtete. »Aber ich wollte freundlich und gut mit dir sprechen, und ich wußte, daß mir das in seiner Gegenwart nicht möglich sein würde.«

Adolf von Breesen näherte sich seiner Schwester und wollte ihre Hand ergreifen; sie wich vor ihm zurück.

»Was willst du von mir?« murmelte sie.

»Emilie«, sagte er traurig, »ist das die alte Liebe? Emilie! Kind! Besinne dich! Was soll ich anders wollen, als dich aus diesem unwürdigen Verhältnis befreien, das dir schon längst zur Qual geworden ist. Oh, sage nicht nein! Ich sehe es ja an deinen Augen, an deinem blassen Gesicht, folge mir! Bei unseren alten Vater, der aus Gram um dich vergeht, bei dem Andenken an unsere selige Mutter, bei allem, was dir heilig ist, beschwöre ich dich, folge mir!«

Emilie hatte sich schluchzend und ihr Gesicht in den Händen verbergend in die Sofaecke geworfen. Adolf kniete vor ihr nieder. Er nahm ihre Hände in die seinen, er küßte ihr die Stirn und Haar und Augen; er sprach zu ihr in beredten Worten, wie sie auch einfache Menschen finden, wenn ihr Herz von treuer Liebe voll ist. Er sagte ihr, daß er nicht daran denke, sie zu ihrem Gatten zurückzuführen, den er selbst niemals habe leiden können, den sie gegen seinen Willen geheiratet habe; daß sie niemals in ihre Heimat zurückkehren solle, wenn sie es nicht wünsche, daß er mit ihr in ein fernes Land gehen, daß er sie nie verlassen wolle. Er berührte alle Saiten ihrer Seele, von denen er wußte, von denen er hoffte, daß sie ihm antworten würden. Aber es war lange Zeit vergeblich.

»Ich kann ihn nicht verlassen«, war alles, was sie unter Schluchzen und Tränen immer wiederholte.

»Aber um Gottes willen, Emilie«, rief der junge Mann, »ist es denn möglich, daß eine Torheit so lange währt? Ist es denn möglich, daß du diesen Menschen noch immer liebst?«

»Ja, ja, ich liebe ihn; liebe ihn mehr, als ich ihn je geliebt habe«, schluchzte sie.

Adolf sprang empor und ging ein paarmal mit heftigen Schritten im Zimmer auf und ab. Dann trat er wieder an Emilie heran und sagte: »Ich will es glauben, weil du es sagst; aber Emilie, bei deiner Ehre – denn deine Ehre ist es, die auf dem Spiel steht – beantworte mir diese Frage: Bist du ebenso auch noch von seiner Liebe überzeugt?«

Ein heftigeres Weinen war Emiliens Antwort, und in dem Weinen schüttelte sie mit dem Kopfe.

»Oh, mein Gott«, sagte Adolf bitter, »bist du so tief gesunken, daß du einem Manne folgst, der dich nicht liebt? Dem du zur Last bist? Der viel darum gäbe, wenn er dich nur wieder los wäre? Ist das meine stolze Schwester? So will ich denn unser altes Wappen zerbrechen und vor jedem Lump auf der Straße die Augen niederschlagen und, wenn mich jemand einen Buben schimpft, tun, als hätte ich es nicht gehört.«

Der junge Mann schlug sich mit der geballten Faust vor die Stirn, und Tränen des Zornes und der Scham drangen aus seinen Augen.

Emilie sprang von dem Sofa auf.

»Komm!« sagte sie hastig. »Komm! Du hast recht! Ich bin ihm zur Last! Er wird froh sein, wenn er mich los ist, komm!«

»Gott sei gelobt!« rief Adolf.

»Sogleich wollen wir fort!« sagte Emilie, in dem Gemache hin und her irrend und leidenschaftlich die Hände ringend, »ich will ihn nicht wiedersehen. Ich will ihm schreiben –«

»Ja, ja!« sagte Adolf. »Hier ist ein Blatt aus meinem Portefeuille, Tinte und Feder ist hier; – schreib ihm, aber nur wenige Worte!«

Emilie setzte sich an den Tisch, aber sie hatte kaum ein paar Buchstaben geschrieben, als sie von neuem in Tränen ausbrach.

»O Gott, o Gott!« sagte sie, die Feder sinken lassend. »Ich kann es nicht.«

»Gib mir!« sagte Adolf, ihr die Feder aus der Hand nehmend. »Ich will es tun. Binde unterdessen deinen Mantel um; ich bin gleich fertig.«

Während Emilie sich den Mantel umband, schrieb Adolf mit fliegender Feder ein paar Zeilen. Er war nicht eben gewandt in solchen Dingen, aber in diesem Augenblick kamen ihm die Ausdrücke wie von selbst.

»Bist du bereit?«

»Ja!«

Sie gingen die Treppe hinunter. Es begegnete ihnen niemand.

Adolf gab dem Portier den Schlüssel zum Zimmer.

»Sagen Sie dem Herrn, wenn er nach Hause kommt, Madame sei ausgegangen und würde wohl so bald nicht wiederkommen.«

Adolf hatte Emilie in die Droschke gehoben.

Die Droschke fuhr in ungewöhnlicher Eile davon.

»Hm!« murmelte der Portier, indem er den Schlüssel zu den andern hing. »Ich dacht's mir gleich, daß es so kommen würde. Nun, ich kann die Leute nicht halten, wenn sie partout davon wollen.«


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