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Drittes Kapitel

Die Sonne war bereits seit einer halben Stunde hinter dem breiten Rücken des tannenbewaldeten Hügels untergegangen, der Fichtenau von der Westseite einschließt, als der Wagen mit den beiden Freunden aus den Bergen heraus in die Talebene gelangte, in der das Städtchen liegt. Die müden Pferde, erfreut über den glatten Boden und das leichtere Rollen des Wagens, griffen wacker aus in der sichern Hoffnung auf baldigen Abendhafer, und angefeuert durch die schrillen Töne einer Klarinette, die nebst obligaten dumpfen Trommelschlägen aus einem dichten Kreis von Menschen herüberschallten, der sich auf der Gemeindewiese unmittelbar vor dem Eingang in das Städtchen um eine Seiltänzerbande versammelt hatte. Der Weg führte an diesem Orte vorüber, und da die gaffende Menge die etwas höherliegende Landstraße dicht besetzt hatte, war der Kutscher genötigt, langsamer zu fahren und zuletzt, da die Leute trotz seines Scheltens und Fluchens sich in der Lust des Schauens nicht stören ließen und wie angenagelt auf ihren Plätzen standen, stillzuhalten.

Allerdings konnte man den guten Leuten ihre Unhöflichkeit nicht so hoch anrechnen, denn in diesem Augenblicke gaben die wandernden Künstler ihr vorzüglichstes Stück, das sie immer bis zum Schluß der Vorstellung aufsparten, um ihre Zuschauer mit einem möglichst günstigen Eindruck zu entlassen.

Aus dem kleinen Zirkus war bis zu dem Gipfel einer mäßig hohen, aber breitastigen Eiche, die den Gemeindeanger schmückte, ein Seil gespannt, von dem dünnere Stricke rechts und links nach dem Boden liefen, wo sie von stämmigen Burschen, die sich im Interesse der Kunst freiwillig zu diesem Dienst erboten hatten, festgehalten wurden. Die schriller kreischende Klarinette und die immer lauter donnernde Pauke verkündeten, daß der große Augenblick gekommen sei, in dem, wie die Zettel an den Straßenecken verkündet hatten, »der berühmte Akrobat, John Cotterby aus Ägypten, genannt die ›Fliegende Taube‹, eine an der Spitze eines vierhundert Fuß hohen Turmes befestigte Fahne auf einem ausgespannten Seile herabzuholen und sie auf demselben Wege rückwärts schreitend zurückzubringen, vor einem hohen Adel und kunstliebenden Publikum Fichtenaus mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung auszuführen die Ehre haben werde.«

Nun war freilich aus dem vierhundert Fuß hohen Turm eine vierzig Fuß hohe Eiche geworden; und die Feinde und Neider behaupteten, daß durch diese Abänderung des Programms das Wagstück an Gefährlichkeit ebenso verliere wie an Interesse. Aber war es Herrn John Cotterbys aus Ägypten Schuld, daß die Kaiserlichen im Dreißigjährigen Kriege den Turm der kleinen Kirche am Markt bei einer Belagerung Fichtenaus, das von den Schweden besetzt gehalten wurde, herunterkanonierten, daß die Väter der Stadt schon seit zwei Säkulis alljährlich beschlossen, diesen Turm wieder aufzubauen, sobald einmal bessere Zeiten für Fichtenau kämen und schließlich, daß diese Zeiten noch immer nicht gekommen waren?

Und jetzt erschien unter dem Quinkelieren der Klarinette und dem Tamtam der Pauke, zu denen sich in diesem feierlichen Augenblicke noch das Geklingel eines Triangels und das Kreischen einer verstimmten Fiedel gesellte, auf dem kleinen, mit schmutzigen Laken behangenen Schafott, dem irdischen Ausgangspunkt seiner himmlischen Reise, ein hübscher, prächtig gewachsener Bursche mit dunklem, von einem schmalen Messingreif zusammengehaltenen Lockenhaar, in weißen, enganliegeden Trikots und einem blauseidenen Wamse, auf dessen Schulterstücke zwei Flügel genäht waren.

Ein ermutigender Beifallsruf, in dem das Zischen der Gegner ungehört verhallte, begrüßte den Künstler, der sich nach allen Seiten mit jener Grazie verbeugte, die ein ausschließliches Geheimnis von Kunstreitern, Seiltänzern und sonstigen Angehörigen der luftigen Gilde ist. Aber der Beifallsruf verstummte, als jetzt gegen aller Erwarten eine unförmliche dicke Gestalt, die sich durch eine weiße Zipfelmütze, große blaue Schürze, und vor allem durch eine unförmliche purpurrote Nase als Bierwirt oder dergleichen darstellte, hinter dem sich verbeugenden Künstler auf das Schafott geklettert kam, ihm derb zwischen die Ikarusflügel auf den Nacken schlug und ihm einen ellenlangen Streifen Papier präsentierte, der unter diesen Umständen kaum etwas anderes als eine unbezahlte Rechnung sein konnte.

Der Künstler schien durch dieses unerwartete Hereinbrechen der derben Realität in die heitern Gefilde der Kunst in die bitterste Verlegenheit gesetzt zu werden. Eine pantomimische Szene folgte, in der er durch häufiges Achselzucken und vergebliches Zupfen an den Stellen seiner Trikots, wo bei Beinkleidern, die in größeren Dimensionen angelegt sind, die Taschen zu sitzen pflegen, seine Zahlungsunfähigkeit beteuerte und durch Händeringen und flehentliche Gebärden den plumpen Wirt zu christlicher Nachsicht ermahnte, während dieser durch schreckliche Grimassen und wiederholtes Schlagen mit der Faust in die Fläche der Hand seine unerbittliche Hartherzigkeit genugsam an den Tag legte.

Das Publikum von Fichtenau und Umgebung, von dem ein nicht kleiner Teil die Sache für baren Ernst nehmen mochte, sperrte Mund und Nase bei diesem seltsamen Schauspiel auf. Aber die Spannung wurde noch erhöht, als jetzt auf einen Wink des rotnasigen Wirtes zwei schnurrbärtige Gesellen in blauen Fracks und schwarzen dreieckigen Hüten, in denen niemand den strafenden Arm der Gerechtigkeit verkennen konnte, auf die Bühne geklettert kamen, unter fürchterlichem Gesichterschneiden und Gestikulationen den unglücklichen Künstler ergriffen und ihm die zahlungsunfähigen Hände auf den geflügelten Rücken banden.

Und jetzt trat aus den Zweigen der Eiche, da, wo das Seil um den mächtigen Ast geschlungen war, die Gestalt eines lieblichen Genius hervor, mit einem Kranz im Haar und in der Hand eine bunte Fahne.

Bei dem Erscheinen des himmlischen Boten befiel die Diener der irdischen Gerechtigkeit und den hartherzigen Wirt ein jäher Schrecken. Sie ließen ihr Opfer los und stürzten unter allen Zeichen tiefster Zerknirschung in die Knie, während die »Fliegende Taube« die Banden von den Händen streifte und mit einer Geschicklichkeit und Geschwindigkeit, die seinem Namen und Ruf alle Ehre machte, den schwanken Pfad, der zum Himmel führte, hinanzulaufen begann. – In der Mitte angekommen, ließ er sich vor der himmlischen Erscheinung, die ihm ohne Aufhören mit der bunten Fahne Ermutigung zuwinkte, auf die Knie nieder, richtete sich sodann wieder auf, drehte sich um und machte, der Erde und aller Erdenfurcht entrückt, den zerknirschten Verfolgern eine Geste, die unter der Bezeichnung »jemandem einen Esel bohren« bekannt ist. Beifallsruf und Gelächter begleiteten den humoristischen Künstler bis hinauf in den Himmel, wo er aus den Händen des Genius, der dann in den Zweigen verschwand, den Kranz auf das Haupt gesetzt und die Fahne in die Hand gedrückt erhielt, und wieder hinab zu dem Schafott, wo ihn die bekehrten Häscher mit vielen Bücklingen empfingen, während der reuige Wirt in einer edlen Wallung die lange Rechnung von einem Ende bis zum andern durchriß und so den Zuschauern die tröstliche Gewißheit gab, daß die Freiheit der »Fliegenden Taube« für heute wenigstens nicht weiter gefährdet sei.

Die Vorstellung war zu Ende. Die Ansprache des Wirtes und zugleich Direktors der Gesellschaft, der jetzt als Epilogus allein auf dem Schafott geblieben war und dem hohen Adel und kunstsinnigen Publikum von Fichtenau und Umgegend für morgen eine noch viel glänzendere Vorstellung versprach, wurde mit lautem Jubel aufgenommen und die Zuschauer entfernten sich langsam, während seit einigen Minuten ein gelegentliches Klappern von Geldstücken auf Tellern an eine Pflicht erinnerte, der nachzukommen einigen Undankbaren unnötig schien und anderen, Dankbaren, zu ihrem größten Bedauern, unmöglich war.

Indessen waren bei weitem die meisten der Zahlungsfähigen ehrlich genug, den klappernden Teller an sich herankommen zu lassen, und wen die Ehrlichkeit nicht hielt, den bannte die Neugier, wie wohl der Genius aus der Eiche, den man bis jetzt nur aus der Ferne erblickt hatte, in der Nähe aussehen möchte. Denn niemand Geringeres als der Bote Apollos sammelte für die Bedürfnisse seiner Söhne auf Erden.

Und der schlaue Direktor hätte keine bessere Wahl treffen können. Der Genius (man wußte kaum, war es ein Mädchen oder ein Knabe) blickte aus so einzig schönen braunen Augen so bescheiden bittend in die Gesichter, daß sich die Börsen mit den Herzen öffneten. Freundliche Worte begleiteten das Kind überallhin, und einer und der andere behäbige Spießbürger glaubte sich für seinen Groschen auch das Recht erworben zu haben, es in die braunen Wangen zu kneifen – eine Liebkosung, die indessen jedesmal sehr ungnädig von dem Genius aufgenommen wurde.

Der Kutscher hatte, sobald sich das Gedränge hinreichend verlaufen, weiterfahren wollen, aber Franz und Oswald, die dem Schauspiel von Künstlers Erdenwallen und Apotheose mit großem Interesse und hier und da herzlichem Lachen gefolgt waren, befahlen ihm, halten zu bleiben, bis der behend durch die Menge schlüpfende Genius auch zu ihnen gekommen wäre. Der Genius ließ nicht lange auf sich warten – ein Reisewagen, mit zwei Herren darin, wog mindestens ein Dutzend Fichtenauer Spießbürger auf.

Franz suchte in seiner Börse nach kleiner Münze, als er durch einen lauten Ausruf Oswalds erschreckt wurde.

»Was gibt's?« fragte er, verwundert zu Oswald aufblickend, der im Wagen in die Höhe gesprungen war.

Oswald antwortete nicht, sondern war mit einem Satz aus dem Wagen auf dem Boden und eilte auf den Genius zu, der, sobald er den jungen Mann erblickte, den Teller samt den Silber- und Kupfermünzen fallen ließ und sich ihm in die Arme stürzte.

»Czika, bist du es denn wirklich?«

»Ja, Mann mit den blauen Augen!« antwortete das Kind, noch an seinem Halse, zärtlich und innig; dann aber, sich plötzlich gewaltsam losreißend und ängstlich nach dem Wagen blickend:

»Kommst du mit dem andern?«

»Nein, Czika!« sagte Oswald, wohl wissend, daß Oldenburg mit dem andern gemeint sei. – »Bist du denn allein?«

»Nein; Mutter ist bei mir; Mutter verläßt die Czika nicht. Komm, Herr, hilf mit das Geld sammeln«, und das Kind bückte sich nieder und suchte nach den im Sande zerstreuten Münzen.

»Oldenburgs Kind in einer Seiltänzerbande!« murmelte Oswald, in der Verwirrung, die sich seiner Seele bemächtigt hatte, mechanisch Czikas Bitte Folge leistend und neben ihr auf den Knien das umhergestreute Geld zusammenraffend.

Das kunstliebende Publikum von Fichtenau fand diese Begrüßung und Umarmung eines scheinbar vornehmen Herrn und eines Seiltänzerkindes merkwürdiger als alles, was es an diesem Abend gesehen hatte. Jung und alt drängte sich in dichtem und immer dichter werdendem Kreise heran und schien entschlossen, nicht vom Platz zu weichen, als bis es eine Aufklärung dieser rätselhaften Begebenheit erhalten hätte.

Franz, der vom Wagen aus die Szene mit angesehen hatte, war kaum weniger verwundert gewesen als die andern. Im nächsten Augenblick indessen fielen ihm die mysteriösen Gerüchte ein, die über ein Zigeunerkind in der Gegend zirkuliert hatten, das der Baron Oldenburg mehrere Wochen lang auf seiner Solitüde beherbergt habe, bis es ihm eines Tages wieder entlaufen sei. Und mit jener Schnelligkeit der Kombination, die guten Köpfen eigentümlich ist, schloß er, daß Oswald, der jedenfalls bei seiner Intimität mit dem Baron um das Geheimnis wußte, in dem schönen Genius das Zigeunerkind erkannt habe. Sein nächster Gedanke war, in Oswalds eigenem Interesse die wunderliche Szene abzukürzen und die Sensation, die sie schon erregt hatte, möglichst zu vertuschen. Er sprang also aus dem Wagen, eilte auf Oswald zu und sagte:

»Um Himmels willen, Oswald, lassen Sie uns fort. Es ist ja ein leichtes, zu erfahren, wo die Leute wohnen; Sie können sie ja zu jeder andern Zeit aufsuchen.«

Oswald, der jetzt, nachdem sich das erste überwältigende Erstaunen, die Czika unter solchen Verhältnissen wiederzufinden, bei ihm gelegt hatte, die Wunderlichkeit der Situation wohl erkannte, fand Franz' Rat zu vernünftig, als daß er ihm nicht hätte folgen sollen.

Die Czika hatte ruhig, als wäre nichts vorgefallen, ihr Sammelgeschäft wieder begonnen; ja, sie warf nicht einmal einen Blick auf Oswald, der jetzt, von Franz beinahe gezogen, nach dem Wagen zurückschritt.

Der Wagen rollte davon. Die Menge verlief sich um so schleuniger, als die Kühle des bereits stark dunkelnden Abends sie an die warme Suppe in der warmen Stube zu Hause mahnte.


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