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Viertes Kapitel

Es war etwa eine Stunde später. Der Abend war vollends herabgesunken. Die Berge von Fichtenau hatten sich in den doppelt dichten Schleier der Nacht und des Nebels gehüllt; vom dunkeln Himmel blinkten zwischen treibenden Wolken hier und da einzelne Sterne hervor. In den Straßen des Städtchens war es still geworden; aus den Fenstern der niedrigen Häuser schimmerten Lichter. Die Leute saßen nach dem frugalen Abendessen um das Ofenfeuer und erzählten einander von den Wundern der Stärke, Geschicklichkeit und Gewandtheit, deren Zeuge sie draußen auf der Finkenwiese gewesen waren, und von dem verrückten Herrn, der das hübsche Zigeunerkind, während es mit dem Teller umherging, vor allen Leuten umarmt hatte. – Die alte halbtaube Großmutter, die neben dem Ofen in ihrem Lehnstuhl nickte, und die Geschichte nur halb gehört hatte, meinte: »Ja, ja, Zigeuner sind Kinder des Satans, das weiß alle Welt. Mein Urgroßvater selig hat noch ihrer fünf mit verbrennen helfen auf der Finkenwiese.«

In der »Grünen Mütze«, einer Fuhrmannskneipe am Eingange in das Städtchen, nahe an der Finkenwiese, ging es heute abend sehr lebhaft zu. Die »Grüne Mütze« war das Hauptquartier der wandernden Seiltänzerbande und mithin in diesen Tagen für das Fichtenauer Publikum ein anziehender Punkt.

Der lange Tisch in der tabaksraucherfüllten Trinkstube konnte heute die Zahl der Gäste nicht fassen, obgleich sie sich eng genug auf den Bänken zusammendrängten; besonders nach dem obersten Ende zu, wo die Künstler im vollen Gefühl ihrer Bedeutung und im Hochgenuß einer freien Zeche saßen und tranken. Der Direktor, Herr Kaspar Schmenckel, präsidierte, wie sich's gebührte. Er hatte die Zipfelmütze abgesetzt und die große blaue Schürze samt den hineingestopften Kissen beiseite getan, und erschien nun in der ebenso bequemen wie eleganten Tracht eines Herrn, der Rock und Weste ausgezogen hat und sich über die mangelhafte Reinlichkeit seiner Wäsche im Bewußtsein seines Künstlerruhmes und seiner breiten gestickten Beinkleiderträger hinwegsetzt. – Eine größere Veränderung hatte Herr John Cotterby aus Ägypten, der seinem Herrn und Meister zur Rechten saß, mit seiner Toilette vornehmen müssen. Er trug jetzt einen grauen kurzen Rock mit grünen Aufschlägen und sah, alles in allem, einem hübschen Tiroler-Burschen, der er in Wirklichkeit war, ähnlicher als einem Sohne des geheimnisvollen Landes, das der Nil durchströmt, wenn nicht der schmale Messingreif, der noch immer seine dunkeln Locken zusammenhielt und das entsetzliche Deutsch, das er höchst kunstreich radebrechte, seine mystische Abstammung hinreichend bezeugt hätten. – Von den beiden andern Künstlern, die weiter unten am Tisch saßen, war der eine ein bescheidener, stiller, langer Mensch, der es mit seiner Kunst ernst nahm und stets darüber grübelte, wie er in seiner berühmten Produktion »das tanzende Riesenfaß« noch einen neuen Zug anbringen könnte, der andere, der Clown der Gesellschaft, eine kugelrunde, possierliche Person, die jedesmal, wenn sie mit einem der Gäste anstieß, eine neue Fratze schnitt.

Der Vorfall heute abend auf der Finkenwiese zwischen dem Reisenden und der Czika, über den sehr eifrig debattiert wurde, war zu merkwürdig, als daß ihn Herr Schmenckel nicht in seiner Weise hätte ausbeuten sollen. Nun war freilich die Zigeunerin erst vor einigen Tagen, als er mit seiner Truppe durch die Berge von Braunburg nach Fichtenau zog, ganz zufällig mit ihrem Kinde zu ihm gestoßen, und Herr Schmenckel wußte von ihrer Vergangenheit so wenig wie irgendeiner der Anwesenden; aber um so freieres Spiel hatte seine Phantasie bei der Erfindung eines Märchens, das sich den neugierigen Gästen aufheften ließ.

»Ja, ihr Herren«, sagte Direktor Schmenckel, »das ist eine geheimnisvolle Geschichte, und ich möchte sie wohl erzählen, wenn selbige nicht gar so sehr unglaublich wäre.«

»Erzählen Sie, erzählen Sie, Herr Direktor«, schrie ein halbes Dutzend Stimmen.

»Ein neues Seidel für den Herrn Direktor, ein anderes halbes Dutzend.«

»Darf ich erzählen, Cotterby?« fragte Herr Schmenckel.

»Diderunkankinsavalilaloramei«, antwortete der Ägypter, der keine Ahnung hatte, wozu sein Herr und Meister die erbetene Erlaubnis haben wollte.

»Danke, Cotterby«, sagte Herr Schmenckel, »meine Herren! Ihr Wohl! – Also wie ich die Bekanntschaft von Madame Xenobi oder Kussuk Arnem, wie sie eigentlich heißt, gemacht habe. Aber die Geschichte ist fast unglaublich und spielt in gewisse Regionen hinein, die mich zwingen, nur in allgemeinen Andeutungen –«

»Oh, das tut nichts! – Erzählen Sie nur!« riefen die Zuhörer, noch näher zusammenrückend.

»Na, so hören Sie denn! – Kurze Zeit, nachdem ich Herrn Cotterby in Ägypten für meine Gesellschaft gewonnen, gab ich einige Vorstellungen in Konstantinopel auf dem Platze vor dem Palast des Sultans, der sich ganz ungemein für unsere Kunst interessierte und uns die Erlaubnis gegeben hatte, das Seil an der obersten Zinne des Palastes, auf dem flachen Dache selbst, zu befestigen. Nun müssen Sie wissen, daß in dem obersten Stockwerk dieses Palastes die Frauen des Sultans wohnen, weshalb man ihn auch Harem nennt. Ich hatte immer gewaltiges Verlangen danach gehabt, einmal in einen solchen Harem zu gelangen, der sonst für alle streng verschlossen ist. Und nun erst recht, nachdem mir Cotterby gesagt hatte, daß, wenn er an dem obersten Stock vorbeikäme, ihn immer die schönsten schwarzen Augen durch die Ritzen der Bretter anblitzten. – Was tue ich also? Ich sage zu Cotterby: ›Cotterby‹, sage ich, ›Sie können ja alles, was Sie wollen. Wie wär's, wenn Sie mich morgen in die Karre nähmen und oben auf dem Dache absetzten. Ich muß einmal sehen, wie's da oben aussieht. Sie können mich morgen ja wieder auf demselben Wege zurückbringen. Wollen Sie?‹ – ›Warum nicht?‹ sagt Cotterby, ›wenn ich Ihnen damit einen Gefallen tun kann.‹ – Am nächsten Tage steckte ich mich in die Karre; Cotterby karrt mich auf das Dach, stülpt die Karre um, und, da bin ich denn oben auf dem Dach, ganz allein, denn Cotterby war, um kein Aufsehen zu erregen, sogleich wieder umgekehrt. – Nun mögen Sie mir glauben oder nicht, meine Herren; aber ich versichere Sie, daß mir in dieser Situation doch etwas wunderlich zumute war. Wie leicht konnte aus den Dachluken der schwarze Kopf eines Wächters auftauchen – und dann wäre es um mein Leben geschehen gewesen. Indessen, ich saß nun einmal in der Falle. Als ich noch so überlege, was ich nun beginnen soll, höre ich mit einem Male Säbelrasseln und Sporenklingen auf der Treppe, die zu dem Dache führt. Es war der Sultan selbst, der Herrn Cotterby von oben herab bewundern wollte. Ich, in meiner Herzensangst, laufe nach dem nächsten Schornstein, der aus dem Dach herausragt, krieche hinein und plumps! – zum Besinnen war keine Zeit – so eine zwanzig Fuß heruntergerutscht und wohin glauben die Herren? Direkt in den Kamin von der Schlafstube der Favoritin des Sultans. – Hier muß ich indessen die geehrten Herren um Verzeihung bitten, wenn ich, um die Ehre einer Dame nicht zu kompromittieren, nur andeutungsweise so viel sage, daß die nächsten vierundzwanzig Stunden zu den schönsten gehören, die ich in meinem Leben gehabt habe, daß ich am folgenden Tage von Herrn Cotterby, der etwas der Art geahnt haben mußte und eine noch größere Karre wie gewöhnlich mitgebracht hatte, auf die angegebene Weise abgeholt wurde – daß wir noch in derselben Nacht Konstantinopel verließen und seit dieser Nacht meine Gesellschaft um eine vorzügliche Künstlerin reicher und der Palast des Sultans um seine schönste Blume ärmer war.«

Herr Schmenckel sah sich triumphierend um. Er konnte mit dem Eindrucke, den seine Geschichte auf die in atemloser Spannung Horchenden hervorbrachte, zufrieden sein. – In diesem Augenblick kam die Dame, die an der Kasse zu sitzen pflegte und überhaupt die inneren Angelegenheiten der Gesellschaft verwaltete, eilig in die Trinkstube gerannt und flüsterte Herrn Direktor Schmenckel etwas ins Ohr, wovon die Gesellschaft nur die Worte: braunes Weib – fortgelaufen – verstehen konnte. Des Direktors Gesicht verfinsterte sich zusehends. Er murmelte etwas von Teufel und Dreinschlagen und verließ den Tisch, ohne auch nur sein Seidel auszutrinken.

Die Nachricht aber, die dem Direktor eben geworden, bestand in nichts Geringerem als darin, daß die Zigeunerin samt ihrem Kinde in ihrer Kammer, im ganzen Hause nicht zu finden sei. Mamsell Adele hatte diese Entdeckung gemacht, als sie die beiden aus ihrer Kammer zum gemeinschaftlichen Mahle der Frauen der Gesellschaft, das in einer anderen Kammer serviert war, holen wollte. Für Herrn Schmenckel war diese Nachricht ein Blitz aus heiterm Himmel. Die Flucht der Zigeunerin und ihres Kindes war ihm, was einem Menageriebesitzer der Tod seiner besten Löwin samt ihren Jungen ist. Er verlor in den beiden ein Kapital, das er für so gut wie nichts erworben und welches doch die reichsten Zinsen zu bringen versprach – den Schmuck, die Zierde, den Glanz, die Poesie seiner Gesellschaft. Selbst Herr John Cotterby aus Ägypten wäre leichter zu ersetzen gewesen als ein Genius mit so schönen Augen, mit so freundlich-ernstem Lächeln, das den filzigsten Spießbürger in einen leichtsinnigen Verschwender umwandelte. Herr Schmenckel geriet in einen ganz unglaublichen Zorn, dessen erster Ausbruch sich natürlich gegen die Überbringerin der Hiobsbotschaft wendete, um so mehr, als Herr Schmenckel das eifersüchtige Temperament dieser Dame aus langjährigem, vertrautem Umgang hinreichend kannte. Er beschuldigte sie in beleidigenden Ausdrücken, die Zigeunerin durch ihre Intrigen zur Flucht gezwungen zu haben. – Mamsell Adele antwortete in einem Tone, der ihre innere Erregung nur zu deutlich verriet. Herr Schmenckel konnte, wenn er getrunken hatte, Widerspruch nur schwer vertragen, und Mamsell Adele fühlte kaum die schwere Hand des Meisters auf ihrer Wange, als sie so laut und schrill zu zetern begann, daß die Trinker drinnen von ihren Biergläsern in die Höhe fuhren und nach der Tür eilten, in der Meinung, es sei auf dem Flur ein Unglück geschehen.

Der Anblick so vieler ungebetener und unerwünschter Zeugen brachte den um die Ehre seiner Gesellschaft besorgten Direktor einigermaßen wieder zu sich, und die Dame, die ihre Ehre vor so vielen Männern kompromittiert sah, vollends außer sich. Vorher hatte sie gedroht, den Direktor ihre Nägel fühlen zu lassen, jetzt fügte sie der Drohung die Tat hinzu.

Das Staunen des kunstsinnigen Publikums von Fichtenau, den gefeierten Künstler, den Helden so vieler Abenteuer in solcher Not und Bedrängnis zu sehen, war außerordentlich. Einige wollten Frieden stiften, andere lachten und hetzten, wieder andere (Männer in blauen Blusen und Gamaschen, die regelmäßig mit Roß und Wagen in der »Grünen Mütze« einkehrten und die Seiltänzerwirtschaft, die sie in ihrem gewöhnlichen Komfort störte, mit mißgünstigem Auge betrachten) sprachen laut von Lumpenpack und Hinauswerfen, was denn wieder von den Kunstenthusiasten äußerst mißliebig aufgenommen wurde. Zornige Gesichter, drohend erhobene Arme; schimpfende Stimmen hinüber und herüber: endlich ein Gewirr, in dem selbst der Wirt der »Grünen Mütze«, der, die kurze Pfeife im Munde, in der Küchentür lehnte, nichts einzelnes mehr zu unterscheiden vermochte.


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