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»Guten Abend, hochverehrliches christliches Brautpaar«, sagte der darauf ins Zimmer Tretende, »störe ich Sie vielleicht in Ihrer Andacht?«
»Guten Abend, Bemperchen«, erwiderte Sophie, sich aus Franz' Arm losmachend und dem kleinen Mann, der zierlichen Schritts auf sie zukam, herzlich die dargebotene Hand drückend, »Sie kommen gerade zur rechten Zeit, mich gegen diesen Erzspötter in Schutz zu nehmen.«
»Guten Abend, Bemperlein«, sagte Franz, »Sie kommen gerade zur rechten Zeit, mir diese halsstarrige Sünderin überzeugen zu helfen.«
»Ehe ich das eine tun und das andere lassen kann«, erwiderte Herr Bemperlein, seine Handschuhe ausziehend und sie sorgfältig zusammenlegend, »erlaube ich mir, mich nach dem Befinden des Herrn Geheimrats pflichtschuldigst zu erkundigen.«
»Es geht viel besser«, erwiderte Franz.
»Ich schloß das aus Ihrer heitern Stimmung«, sagte Bemperlein. »Nun, das freut mich sehr. So können wir doch heute endlich einmal zu Abend essen, ohne daß uns, wie in den letzten vierzehn Tagen, jeder Bissen vor Wehmut und Trauer im Grunde steckenbleibt. Ad vocem Abendessen: Wie steht es damit, Fräulein Sophie? Ich, der ich nicht wie Sie das Glück habe, mit dem Nektar der Liebe meinen Durst und mit der Ambrosia traulichen Geschwätzes meinen Hunger stillen zu können, empfinde eine nicht mißzudeutende Regung nach irdischer Speise und Trank.«
»Ich glaube, das Abendessen steht schon seit einer halben Stunde auf dem Tisch«, sagte Sophie, »ich hatte es wahrhaftig ganz vergessen.«
»So lassen Sie uns keine Minute länger zögern«, sagte Bemperlein, Sophie den Arm bietend und sie den wohlbekannten Weg in das anstoßende Gemach führend, wo stets gespeist wurde.
»Ich fürchte, die Kartoffeln sind eiskalt«, sagte Sophie, den Deckel von einer Schale abhebend.
»So haben sie genau die Temperatur dieses Fisches«, sagte Franz, ihr die Schüssel präsentierend.
»Oder dieser Sauce«, sagte Bemperlein, ihr die Sauciere von der andern Seite darreichend.
Sophie zuckte die Achseln:
»Nichts wird so warm gegessen, wie es gekocht ist, meine Herren. Das muß ich als zukünftige Hausfrau wissen.«
»Wir heiraten nämlich heut über vier Wochen, Bemperlein«, sagte Franz.
»Das heißt, wenn Ihr Frack, den Sie schon, seitdem Sie in Sundin sind, machen lassen wollen, bis dahin fertig wird, Bemperlein; sonst unter keiner Bedingung«, sagte Sophie.
»Der Frack wird fertig! Der Frack wird fertig!« rief Herr Bemperlein, »und sollte ich ihn selber zurechtschneidern, nähen und bügeln.«
»Das würde ein schönes Kleidungsstück werden, Bemperchen.«
»Vielleicht nicht so schlecht, wie sie glauben. Es wäre wenigstens nicht der erste Frack, den ich mir höchst eigenhändig fertigte.«
»Unmöglich, Bemperlein!« rief Franz voll Erstaunen.
»Was ich Ihnen sage. Es ist nun freilich schon ein wenig lange her – fünfzehn Jahre etwa – und ich war dazumal, in meiner Robinson-Crusoe-Periode, erfinderischer und fleißiger als jetzt; aber für unmöglich halte ich die Sache auch noch heute nicht.«
»Aber was zwang Sie denn, so wunderliche Experimente anzustellen?«
»Die Erfinderin aller Künste, die Not. Sie wissen, Fräulein Sophie, daß ich zu denjenigen Kindern Gottes gehöre – oder vielmehr gehörte, denn jetzt bin ich in meiner Eigenschaft als wohlsituierter Sundiner Privatgelehrter, der mehr Stunden hat, als er geben kann, in eine andere Rangklasse versetzt –, denen das Himmelreich versprochen ist, weil sie auf Erden nichts ihr eignen nennen. Infolgedessen war ich, als ich damals aus den elysäischen Gefilden meines Heimatdorfes nach Grünwald kam, gezwungen, eine Art von Zikadendasein zu führen und alle unnötigen Ausgaben zu vermeiden. So verfiel ich denn unter anderem auf den sehr naheliegenden Gedanken, ob es nicht möglich sein sollte, sich auch in unserem tinteklecksenden Säkulum die nötigen Kleidungsstücke selbst zu fertigen, wie weiland Eumäus, der göttliche Sauhirt. Gedacht, getan. Ich hatte eine vertraute Freundschaft mit einem Knaben geschlossen – er hieß Christian Süßmilch, der Sohn von dem alten Schneidermeister Süßmilch in der Langenstraße –, der durchaus Schneider werden sollte und durchaus ein Gelehrter werden wollte. Wir machten einen Konvenant, daß ich, wenn Papa Süßmilchs Stentorstimme Feierabend verkündigt hatte, den Zumpt und den Rost mit ihm traktierte, wogegen er mich lehren sollte, wie man die Nadel und das Bügeleisen führt. Unsere Studien wurden mit ebensoviel Eifer wie Heimlichkeit betrieben, denn ich fürchtete nicht ohne alle Ursache den Spott meiner Mitschüler und er die sichertreffende Elle seines Vaters und Lehrherrn. Oh, es waren köstliche Stunden, die wir so zusammen verlebten, Stunden, die er und ich nie vergessen werden. Ich sehe uns noch beim traulichen Schein einer Tranlampe auf meinem kleinen Dachstübchen zusammensitzen – an einem Herbstabend wie heute, wenn der Regen auf die Ziegel dicht über unseren Köpfen tappte und die Rinne gurgelte und die Eulen und Dohlen auf dem Turm der nahen Nikolaikirche krächzten und schrien. Wir aber froren nicht, trotzdem kein Feuer in dem kleinen Kanonenofen brannte, denn die heilige Flamme der Freundschaft durchströmte unsere Adern mit sanfter Glut, und ich nähte, daß der Faden rauchte, und er lernte in seiner Grammatik, daß ihm der Kopf dampfte, und wenn ich dann die Naht nach allen Regeln der Kunst genäht hatte und er sein ›tüpto, tüpteis, tüptei‹ ohne Anstoß aufsagen konnte, so sanken wir uns gerührt in die Arme und beneideten keinen König auf dem Thron um seine Herrlichkeit.«
Herr Bemperlein schwieg und blickte gerührt in sein Glas.
»Die alte Zeit soll leben, Bemperlein!« sagte Franz.
»Und die neue«, erwiderte Bemperlein mit dem Brautpaare anstoßend.
»Aber wie war das mit dem Frack, Bemperchen?« fragte Sophie, »es war doch nicht gar Ihr Konfirmationsfrack?«
»Richtig geraten, schöne Dame; es war mein Konfirmationsfrack. Die Zeit der Einsegnung war vor der Tür. Ich hatte von einem Kaufmann, dessen Kinder ich im Lesen und Schreiben unterrichtete und bei dem ich auch wöchentlich einen Freitisch hatte, Tuch zu einem Frack geschenkt bekommen. Der brave Mann sagte mir sogar: Ich sollte ihn nur bei seinem Schneider auf seine Kosten machen lassen. Ich glaubte indessen, die Güte des Mannes zu mißbrauchen, wenn ich auch dies Geschenk noch annähme, und bat um die Erlaubnis, den Frack bei meinem eigenen Schneider machen lassen zu dürfen. Nun, wer der ›eigene Schneider‹ war, können Sie sich denken. Christian Süßmilch und ich wollten uns beinahe totlachen über den genialen Witz; und wir beschlossen, sofort ans Werk zu gehen und ein Meisterstück zu liefern, das unserm ›eigenen Schneider‹ Ehre machen sollte. Aber, o des Jammers! Papa Süßmilch war hinter unsere ›verdammten Schliche‹ gekommen, wie er in seiner banausischen Redeweise die Weihestunden der Freundschaft und Arbeit zu nennen beliebte. Er hatte eine griechische Grammatik entdeckt, die Christian beim Eintritt des böotischen Vaters in die Hölle unter die Lumpen zu schleudern pflegte und eine Folge dieser entsetzlichen Entdeckung war die, daß er zuerst einmal seine Elle auf dem Rücken des attischen Jünglings entzweischlug und zweitens ihm bei Androhung sofortiger Enterbung und Verbannung aus dem väterlichen Hause kategorisch befahl, in Zukunft allen Umgang mit mir gänzlich und durchaus abzubrechen. Weinend erzählte mir der treue Freund das Entsetzliche, als ich ihm tags darauf an der Straßenecke begegnete, wie er eben ein fertiges Beinkleid zu einem der Kunden seines Vaters trug. ›Aber ich beuge mich nicht länger unter diese Tyrannei‹, rief er mit einer Armschwenkung, die einem Demosthenes Ehre gemacht haben würde, ›noch diesen einen Sklavendienst‹ (und er schlug dabei mit der geballten Faust auf die sauber zusammengefalteten Inexpressiblen) ›und dann gehe ich hinaus in die weite Welt. Willst du mit?‹ Nur mit Mühe konnte ich den armen Jungen beruhigen; ich wußte, daß ihm der Gedanke, mir nun nicht bei meinem Frack helfen zu können, weher tat als alles andere. Ich erinnerte ihn an das Gebot, das uns befiehlt, Vater und Mutter zu ehren, auf daß es uns wohlgehe und wir lange leben auf Erden; ich sagte ihm, daß sein Vater doch endlich nachgeben werde; und was den Frack betreffe, so würde der Schüler seinem Meister Ehre machen. – Christian schüttelte wehmütig den Kopf: ›Du wirst nicht fertig, Anastasius‹, sagte er, ›du wirst nicht fertig, auch angenommen, daß du mit dem Zuschneiden zustande kommst.‹ – ›Was gilt die Wette, Christian?‹ rief ich, ›du siehst mich heute über acht Tage bei der Einsegnung in der Kirche in dem Frack, den ich ohne deine Hilfe machen werde, und da sollst eingestehen, daß er gut gemacht ist. Gewinn' ich, schenkst du mir deinen Dompfaffen, gewinnst du, gebe ich dir die Odyssee in der Heyneschen Ausgabe. Willst du?‹ – ›Topp!‹ sagte Christian, trotz seines Jammers lächelnd. ›Ich sollte eigentlich nicht wetten, weil du doch verlierst; aber wenn du willst, so sei's.‹«
»Nun, und wer gewann die Wette?« fragte Sophie eifrig.
»Am nächsten Sonntag, in der Nikolaikirche«, sagte Herr Bemperlein, und seine Stimme zitterte und seine Brillengläser wurden feucht, »am nächsten Sonntag kniete ich zwischen vielen Jünglingen an dem Altar, und die Orgeltöne fluteten durch die hohen Hallen und der Priester murmelte den Segen Gottes über uns, aber ich hörte von allem nichts; ich sah nur immer nach der Empore hinauf zu einem Knaben mit langen braunen Haaren und braunen Augen, der mir Kußhände zuwarf und dessen liebes Gesicht vor Stolz und Freude darüber erglänzte, daß sein Freund gegen all sein Erwarten so stattlich aussah, und der, als an mich die Reihe kam, daß der Herr mich segnen und behüten möchte und sein Antlitz leuchten lassen über mich, fromm die Hände faltete und mit gebeugtem Haupte für mich inbrünstiglich betete.«
Bemperlein schwieg. Er hatte die Brille, die immer trüber geworden war, abgenommen und rieb die Gläser mit dem Taschentuche wieder blank.
»Und was ist aus Christian geworden?« fragte Franz.
»Er ist jetzt Professor der alten Sprachen an einem belgischen hochberühmten Lyzeum; seine Grammatik über den dorischen Dialekt ist epochemachend für die Sprachwissenschaft. Ich hatte vorgestern einen sechzehn Seiten langen Brief von ihm.«
»Und was ist aus dem Frack geworden?« fragte Sophie.
»Er hängt noch heutzutage wohlerhalten als teures Andenken in meinem Schrank«, erwiderte Herr Bemperlein, die Brille wieder aufsetzend und Sophie schalkhaft anlächelnd, »Ja, und was noch mehr sagen will: Er paßt mir noch heute so gut, als er mir damals paßte, und ich kann mich in ihm jederzeit vorstellen, falls mein gnädiges Fräulein an der Wahrheit dieser wahrhaftigen Geschichte zweifeln sollte.«
»Wollen Sie mir eine Bitte erfüllen, Bemperchen?« sagte Sophie mit ungewöhnlichem Ernst, ihm die Hand entgegenstreckend.
»Jede!« sagte Bemperlein mit Enthusiasmus, die Hand des Mädchens ergreifend.
»Lassen Sie sich zu meiner Hochzeit keinen neuen Frack machen, sondern kommen Sie in dem alten, der für Sie durch so herrliche Erinnerungen geweiht.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Zweifeln Sie daran?«
»Nun gut«, sagte Herr Bemperlein, Sophie die Hand küssend, »ich will in dem Frack, den ich mir zu meiner Konfirmation selbst gemacht habe, Ihr Brautführer sein.«
Die kleine Gesellschaft beendigte ihr kaltes Abendbrot und begab sich in das trauliche Wohnzimmer zurück, wo Sophie den Tee bereitete, während Franz ging, sich nach des Geheimrats Befinden umzusehen. Er kam mit der erfreulichen Kunde zurück, daß Papa, seit dem Beginn seiner Krankheit zum ersten Male in einem ruhigen, erquickenden Schlafe liege, in den er, wie der Diener, der diese Nacht bei ihm wachte, erzählte, alsbald gefallen sei, nachdem er noch eine Zeitlang mit gefalteten Händen abgebrochene Worte gemurmelt hatte.
Franz sagte, daß die Rekonvaleszenz von diesem Augenblick rasch fortschreiten werde und daß er jetzt die beste Hoffnung für eine mögliche vollständige Wiederherstellung habe. Sophie umarmte und küßte ihn für diese frohe Botschaft und Herr Bemperlein schwur, daß er von heute abend an außer den vier heiligen Evangelisten noch einen höchst unheiligen, namens Franziskus, kenne und verehre.
Sie hatten sich um den Kamin herumgesetzt. Der Dampf der Teemaschine und der Rauch der Zigarren, die sich die Herren angezündet hatten, stieg in Wolken zu der Büste des Zeus hinauf, der nun zu einem behaglichen Jupiter Xenius wurde. Franz war in einer eigentümlich aufgeregten Stimmung, die sich Sophie durch die Freude über die günstige Wendung erklärte, die die Krankheit des Vaters genommen hatte, die aber einen noch ganz anderen Grund hatte. Es war die nervöse Erregung, die auch den Mutigsten vor dem Beginn der Schlacht überkommt, und Franz fühlte und wußte, daß der Kampf des Lebens heute für ihn in Wahrheit entbrannt war. Hatte er doch die ernstesten Verpflichtungen übernommen, die von unabsehbaren Folgen für seine, für Sophiens Zukunft sein konnten! Lag doch von heute an die ungeheuerste Verantwortung auf seinen Schultern! Sah er doch plötzlich das Meer, auf dem das Fahrzeug seines und ihres Glückes schwamm, von den gefährlichsten Klippen angefüllt, die sicher zu durchsteuern, es eines allzeit klaren Kopfes, eines allzeit mutigen Herzens, einer allzeit festen Hand bedurfte!
Sophie ahnte nicht, was ihr Verlobter empfand, als sie jetzt in Gemeinschaft mit Bemperlein anfing, sich die Zukunft nach ihrem Geschmack auszumalen – ein kleines, behagliches Paradies voll Ruhe, Frieden und Sonnenschein.
»Sie müssen auch heiraten, Bemperchen«, rief sie.
»Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Herr Bemperlein, »finden Sie nur erst die Hauptsache.«
»Das wäre?«
»Ein Mädchen, das mich lieben will, und das ich lieben kann.«
»Ich werde Ihnen eins aussuchen, Bemperchen. Ich kenne Ihren Geschmack und weiß ganz genau, wie die zukünftige Frau Professor Bemperlein beschaffen sein muß.«
»Da wäre ich doch neugierig«, sagte Herr Bemperlein, sich behaglich in seinem Lehnstuhl zurechtrückend.
»Zuerst«, sagte Sophie, »was das Äußere betrifft – denn Sie legen doch auch etwas Gewicht auf das Äußere, Bemperchen, oder nicht?«
»Doch, doch!« sagte Bemperlein eifrig.
»Nun wohl! So darf Ihre Zukünftige nicht eben groß sein.«
»Weshalb nicht?«
»Weil Sie selbst kein Riese sind, Bemperchen, und Sie wissen: Nur gleich und gleich gesellt sich gern. Ich schlage deshalb vor, daß sie zierlich und manierlich ist, ein hübsches kleines Figürchen mit dunkelm Haar und dito Augenpaar, gewandt, anstellig, munter und beweglich. Sind Sie's zufrieden?«
»Hm!« sagte Bemperlein, »nicht übel; gar nicht übel! Weiter!«
»Sodann, was die Vermögensumstände angeht, so darf sie nicht reich sein. Sie wissen, weshalb?«
»Weil ich mit dem Gelde doch nichts anzufangen wüßte?«
»Das meine ich. Habe ich recht?«
»Vollkommen. Aber nun erklären Sie mir noch nachträglich, weshalb die in Frage stehende Dame gerade braunes Haar und braune Augen haben soll?«
»Ich habe, soviel ich weiß, nur von dunkelm Haar und dunkeln Augen gesprochen; aber wenn Sie die braune Farbe vorziehen, Bemperchen –«
»Ich vorziehen!« sagte Herr Bemperlein eifrig, »ich vorziehen! Warum nicht gar!«
»Bemperchen, Sie sind rot dabei geworden! Die Sache ist verdächtig! Meinst du nicht auch, Franz?«
»Höchst verdächtig«, bestätigte Franz, »ich trage darauf an, daß der Inkulpat auf das allerschärfste inquiriert und auf jede Weise zu einem offenen und umfassenden Geständnis persuadieret werde.«
»Ja, er soll gestehen; er soll gestehen!« rief das übermütige Mädchen in die Hände klatschend, »er soll sich über diese verräterische Röte seiner Wangen verantworten. Angeklagter, ich frage Sie auf Ihr Gewissen: Kennen Sie eine Dame mit braunem Haar und Augenpaar?«
»Aber, wie Sie auch fragen, Fräulein Sophie!« erwiderte Herr Bemperlein, noch röter werdend als vorhin.
»Eure Rede, Angeklagter, sei ja, ja! oder nein, nein! Was darüber ist, ist vom Übel.«
»Nun denn: ja!« sagte Herr Bemperlein lachend.
»Haben Sie, als Sie von dem braunen Haar und Augenpaar sprachen, an diese Dame gedacht?«
»Ja«, antwortete Herr Bemperlein nach einigem Zögern.
»Da haben wir's! Er hat an sie gedacht! Er hat an sie gedacht!« rief Fräulein Sophie und schnappte vor Vergnügen mit den Fingern.
»Aber, wer ist sie?« warf Franz ein.
»Wir werden es gleich erfahren. – Angeklagter, wohnt sie in dieser Stadt?«
»Ja.«
»Franz, nimm zu Protokoll: Sie wohnt in dieser Stadt. Angeklagter: Sehen Sie sie oft?«
»Nein.«
»Hm! Haben Sie sie heute gesehen?«
»Aber, Fräulein So –«
»Keine Ausflüchte! Haben Sie sie heute gesehen?«
»Nun, ich merke schon, ich komme besser weg, wenn ich nur gleich alles offen gestehe«, sagte Herr Bemperlein, der trotz seiner Bemühung, unbefangen auszusehen, immer befangener geworden war. »So hören Sie denn, gestrenger Herr Untersuchungsrichter und Sie, diabolisch lächelnder Herr Beisitzer, die sonderbare Geschichte, die mir heute passiert ist und die eigens darauf angelegt scheint, mich aus einer Verlegenheit in die andere zu bringen.«
»Erzählen Sie, Bemperchen! Erzählen Sie«, rief Sophie, »die Sache wird romantisch.«
»Nun denn, Sie wissen, Fräulein Sophie, daß Grenwitzens heute morgen in die Stadt gekommen sind.«
»Wir sind davon unterrichtet. Weiter, Angeklagter!«
»Sie wissen aber noch nicht, daß die Baronin gleich nach ihrer Ankunft an mich geschrieben und mich gebeten hat, sie noch im Laufe des Tages zu besuchen. Sie habe über eine Sache von der äußersten Wichtigkeit mit mir zu sprechen.«
»Die Sachen der Baronin sind immer von der äußersten Wichtigkeit«, meinte Franz.
»Das wußte auch ich und beeilte mich deshalb nicht eben mit meiner Visite. Gegen Abend indessen, kurz vorher, ehe ich hierher kam, war ich dort.«
»Nun, um welche Bagatelle handelte es sich?«
»Ich habe es nicht erfahren, denn ich hatte nicht das Glück, vorgelassen zu werden. In der Haustür begegnete ich Herrn Timm, der in solcher Eile war, daß er mich fast über den Haufen lief und eben nur noch Zeit hatte, zu sagen: ›Wie zum Teufel kommen denn Sie hierher, Bemperlein?‹ Im Vorzimmer, in welches mich der Bediente gewiesen hatte, traf ich Mademoiselle Marguerite.«
»Hat sie braune Augen, Bemperchen?«
»Sie hat braune Augen, Fräulein Sophie, sehr schöne braune Augen, die in diesem Augenblicke um so glänzender erschienen, als sie voll heller Tränen standen.«
»Oh!« sagte Fräulein Sophie, »weshalb denn?«
»Weiß ich es? Ich war, weil ich niemand im Zimmer vermutete, ohne anzuklopfen eingetreten. Bei meinem Erscheinen fuhr die junge Dame, die mit dem Kopf auf dem Tisch schluchzend dasaß, empor und suchte, so gut es gehen wollte, ihre Tränen zu verbergen. Sie erwiderte auf meine Frage, ob die Baronin zu sprechen sei, sie wolle gehen und nachsehen. Sie ging aber nicht, wenigstens nur bis an die nächste Tür, wo sie stehenblieb, um abermals in Tränen auszubrechen. Sie können sich meine Verlegenheit denken. Ich kann niemand weinen sehen, geschweige denn ein so junges, armes, hilfloses Geschöpf wie Mademoiselle Marguerite. Ich trat also auf sie zu, faßte sie bei der Hand – ich konnte bei Gott nicht anders – und sagte – was sollte ich sonst sagen? – ›Weshalb weinen Sie, Mademoiselle?‹ Ihre Tränen flossen nur noch reichlicher. Ich wiederholte meine Frage wieder und wieder. ›Je suis si malheureuse!‹ war alles, was sie endlich herausschluchzte. Dabei blieb es. Das arme Kind tat mir von Herzen leid. Ich fragte, ob ich ihr helfen könne? Sie schüttelte weinend den Kopf. Ich suchte sie zu trösten, und sagte alles, was man in einer solchen Situation zu sagen pflegt. Nach und nach wurde sie ruhiger, trocknete sich die Augen, drückte mir die Hand und sagte: ›O vous êtes bon.‹ Damit schlüpfte sie aus der Tür. Ich war so klug, als ich vorher gewesen war. Nach einigen Minuten kam nicht sie, sondern Baron Felix, um mir zu sagen, daß seine Tante unendlich bedaure, mich heute Abend nicht mehr sehen zu können. Sie sei von der Reise zu angegriffen. Ich möchte morgen wiederkommen. Da Baron Felix es ebenfalls sehr eilig zu haben schien, empfahl ich mich schleunigst. Als ich schon in der Tür war, rief er mir nach: ›Apropos, Her, Bemperlein, wissen Sie nicht, wann der Doktor Stein kommen wird?‹ ›Ich glaube, in diesen Tagen‹, erwiderte ich und ging. Da haben Sie meine romantische Geschichte.«
»Die manches zu denken gibt«, sagte Franz. »Ich möchte nebenbei auch wohl wissen, wann Oswald kommen wird. Er sollte eigentlich schon hier sein.«
In diesem Augenblick kam das Mädchen herein, um Franz eine Karte zu bringen.
»Ist der Herr noch draußen?« rief Franz aufspringend.
»Nein, Herr Doktor. Er fragte, ob Sie allein wären. Ich sagte, Herr Bemperlein sei noch im Zimmer. Da sagte er, er wolle ein andermal wiederkommen, und ging fort.«
»Wer ist es?« fragte Sophie.
»Oswald!« erwiderte Franz. »Fatal; ich hätte ihn gern gesprochen.«